Dass das Ausfuhrmonopol für persische Rohseide es den im Safavidenreich ansässigen armenischen Fernkaufleuten im 17. Jahrhundert ermöglichte, ein Handelsnetz mit Stützpunkten in der Mittelmeerregion, in Nordwesteuropa sowie im Moskauer Staat aufzubauen, ist bekannt. Dasselbe gilt für den Umstand, dass der Bedarf des Schahs an Edelmetallen, vor allem an Silber, der Motor dieses zwischen Isfahan und an erster Stelle Amsterdam von statten gehenden Warenaustausches war. Auch dass es zeitgleich im Indischen Ozean maritime Handelsnetzwerke von Armeniern samt terrestrischen Stützpunkten gab, ist nicht neu.1 In seiner überarbeiteten Dissertation an der New Yorker Columbia University sind Sebouh David Aslanian dennoch zwei bemerkenswerte Dinge gelungen: Zum einen hat er sehr umfangreiche, bislang ungenutzte armenische Quellenbestände erschlossen, und zum anderen kann er dadurch augenfällig belegen, dass im 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts beide Handelsnetzwerke – das europäisch-eurasische und das südostasiatische – kommunizierenden Röhren gleich miteinander verbunden waren.
Schnittstelle und Knotenpunkt war in räumlich-logistischer wie administrativ-betriebswirtschaftlicher Hinsicht die Vorstadt Neu-Julfa der iranischen Hauptstadt Isfahan. Hierher hatte Schah ‘Abbas I. 1604 unter Anwendung roher Gewalt das armenische Handelszentrum Alt-Julfa im Kaukasus verlegt – eine Zwangsmaßnahme, die sich in Kombination mit der Verleihung des Seideausfuhrmonopols von 1619 und der Übernahme der portugiesisch kontrollierten Insel Hormuz im Persischen Golf durch den Schah 1622 mittelfristig als Grundlage des Asien, Afrika und Europa umspannenden sowie überdies mit Mexiko temporär auch Amerika einschließenden Netzwerks erwies. Von 1605 bis zur Zerstörung Neu-Julfas durch Nadir Schah 1747 wurden die Geschicke des asiatisch-europäischen, gar diejenigen des globalen Handels in den architektonisch eindrucksvollen Geschäfts- und Wohnhäusern der armenischen Großkaufleute Neu-Julfas bestimmt. Diese „khwaja“ genannten Chefs der armenischen Handelsfirmen stützten sich dabei auf ein als „commenda“ bezeichnetes System von Angestellten mit Subunternehmer-Status in aller Welt. Diese commenda-Agenten waren jeweils einem khwaja vertraglich verpflichtet sowie in der Regel mit ihm zugleich verwandtschaftlich verbunden. Die Agenten kommunizierten intensiv brieflich mit den Familienfirmenzentralen in Neu-Julfa und waren zu skrupulöser Buchführung samt Abrechnung angehalten. Aufgrund häufiger Rotation zwischen Madras und St. Petersburg, Venedig und Acapulco, Manila und Smyrna akkumulierten diese privatwirtschaftlich tätigen Außenstellenleiter ein merkantiles Wissen samt umfassenden Sprach- und Regionalkenntnissen, mit dem die halbstaatlich organisierte Konkurrenz der Vereenigde Oostindische Compagnie der Niederlande oder der englischen East India Company und Muscovy Company in der Regel nicht mithalten konnte.
Ein Großteil von Aslanians Erkenntnissen zu Struktur und Funktionsweise des commenda-Systems geht auf einen in der British Library neu entdeckten Quellenbestand zurück, der aus 1.700 Schriftstücken besteht, die von khwajas und commenda-Agenten in einem mittelarmenischem Handelsdialekt verfasst sind. Diese Korrespondenz befand sich auf dem Schiff Santa Catharina, welches die britische Kriegsflotte 1748 in Indien beschlagnahmte, und ist daher nach London gelangt.
In acht Kapiteln beschreibt der Autor die Gründung Neu-Julfas, das Entstehen und Funktionieren der vier großregionalen Netzwerke im Indischen Ozean, Mittelmeer, der Nordsee und Nordosteuropa, das commenda-System samt Berichtswesen, Loyalitätsgrundlagen und Sanktionen sowie schließlich den Kollaps der merkantilen Kybernetik am Ende der Safavidenherrschaft. Angehängt ist der Versuch eines Vergleichs des armenischen Handelszentrums Neu-Julfa mit demjenigen im nordindischen Multan, dessen Einzugsbereich sich mit dem der Armenier deckte, sowie mit der dezentralen Netzwerkstruktur sephardischer Juden im atlantischen Raum.
Den ökonomischen Erfolg der Armenier Neu-Julfas erklärt der Autor primär mit dem effizienten commenda-System, als dessen Grundpfeiler er „Vertrauen“ und familiäre Bindungen zwischen „Herr“ und „Knecht“ wertet, das aber bei Pflichtverletzung auch die Körperstrafe der Bastonade kannte. Dabei betont der Autor, dass er dieses Loyalitätsmuster zwar mit Konzepten der Wirtschaftssoziologie rekonstruiert habe, es aber mitnichten lediglich von ökonomischer, sondern zugleich von erstrangiger kultureller Bedeutung gewesen sei, weshalb er sein Buch als genuinen Beitrag zur Kulturgeschichte verstanden wissen wolle.
Für Nicht-Armenologen etwas zu breiten Platz räumt der Autor der vor allem unter armenischen Historikern in Armenien und der Diaspora anhaltenden handelshistorischen Kontroverse über die Frage ein, ob die ca. zwei Dutzend Handelsfirmen Neu-Julfas eine ökonomische Dachorganisation, eine einheitliche „Armenische Handelskompagnie“, bildeten. Dass dies nicht der Fall war, haben Šušanik Hačikjan, Edmund Herzig und andere bereits überzeugend belegt. Immerhin kann Aslanian Neues zur kommunalen Selbstverwaltung und eigenen Jurisdiktion der 20 Distrikte Neu-Julfas mit jeweils einem „kadhuda“ an der Spitze und dem „kalantar“ als oberstem Repräsentanten beisteuern.
Überaus informativ sind die vier Karten des Buches, welche die armenischen Handelsnetzwerke und -niederlassungen in den verschiedenen Teilen der Welt sowie exemplarisch die beruflichen Stationen und Handelsreisen zweier commenda-Agenten in den 1720er-Jahren zeigen. Dasselbe gilt für zwei detaillierte Tabellen zum Briefverkehr einzelner khwajas mit ihren Angestellten in aller Welt samt Laufzeiten, die etwa zwischen Isfahan und Livorno im Schnitt 130 bis 160 Tage, zwischen Isfahan und Kalkutta zwischen 70 und 80 Tagen betrugen. Die 16 Faksimile hingegen haben für den Armenischunkundigen lediglich archäographischen Wert. Der Index des Buches ist nicht zuverlässig, fehlen hier doch etliche Ortsnamen, die im Text auftauchen. Und der Hafen Narva im Finnischen Meerbusen war im 17. Jahrhundert weder identisch mit Archangel’sk am Weißen Meer noch in moskauischem, sondern in schwedischem Besitz (S. 82).
Was Chris Bayly als „Proto-Globalisierung“ terminologisch gefasst, indes nicht selbst ausgeführt hat, demonstriert Aslanian in seinem Buch in überzeugender Art und Weise: Ein im 17. Jahrhundert geknüpftes und nahezu weltumspannendes ökonomisches Netzwerk, basierend auf handelspolitischer Protektion (durch den Schah), überragendem merkantilem Know-how, reißfesten persönlichen Bindungen familiärer Art, handelsdiplomatischem Geschick und Beharrlichkeit, hoher kultureller Adaptionsfähigkeit sowie nicht zuletzt gedruckten Kaufmannshandbüchern, die in ihrer Professionalität zeitgenössische europäische Kompendien deutlich übertrafen.
Anmerkung:
1 Edmund Herzig, The Armenian Merchants from New Julfa. A Study in Premodern Trade, Ph. D. thesis, St. Anthony’s College, Oxford University 1991; Rudolph P. Matthee, The Politics of Trade in Safavid Iran. Silk for Silver 1600-1730, Cambridge 1999; Ina Baghdiantz McCabe, The Shah’s Silk for Europe’s Silver. The Eurasian Trade of the Julfa Armenians in Safavid Iran and India (1530-1750), Atlanta, CA, 1999; Šušanik Hačikjan (Hrsg.), Lazarean Arevtrakan enkerut’ean hashuemateane (1741-1759 t’t’). The Ledger of the Lazareans’ Trade Company (1741-1759), Erevan 2006.