Trotz der Fülle von wissenschaftlichen Veröffentlichungen zur Historiographie der DDR ist wenig über das alltägliche emotionelle Leben ihrer Bürger bekannt. Von diesem Tatbestand geht Josie McLellan in der Einleitung zu ihrer hervorragenden Studie der Liebe und Sexualität in der DDR aus, die im Dezember 2011 mit dem Fraenkel-Prize für Zeitgeschichte der Wiener Library London ausgezeichnet wurde. McLellans Ziel ist es, die vergessene sexuelle Revolution der DDR sowie deren Grenzen zu analysieren und die scheinbar paradoxe Situation zu untersuchen, in der die Einwohner eines repressiven Staates tatsächlich über ein großes Maß persönlicher Freiheit und Autonomie im sexuellen Bereich verfügten. Wie bekannt, gab es in der DDR eine hohe Scheidungsquote, eine liberale Abtreibungsgesetzgebung und eine weit verbreitete staatlich unterstützte FKK-Bewegung. Gleichzeitig blieben die öffentliche Diskussion über Sexualität unter strikter Kontrolle und die Möglichkeiten, traditionelle Geschlechterrollen herauszufordern, äußerst begrenzt. Auch machte der Staat von Sex als Mittel gesellschaftlicher Kontrolle und Überwachung Gebrauch, beispielsweise durch die Veröffentlichung von Sexualberatungsbüchern, die das Vorbild einer sozialistischen Ehe präsentieren sollten, oder in verschiedenen Fällen durch den Einsatz von Prostituierten und sogenannten Romeo-Agenten als Stasi-Mitarbeiter.
Die Breite der Informationsquellen, auf die sich McLellans Arbeit stützt, ist nur eine der vielen Stärken dieses Buches. Neben Archivquellen und einer ausführlichen Bibliographie hat McLellan von anderen Quellen wie Kino- und Amateurfilmen, Fotos, Zeitschriften, Romanen und Gedichten sehr effektiven Gebrauch gemacht. Die Ergebnisse der strukturierten Interviews mit insgesamt 38 DDR-Bürgern liefern eine detaillierte Einsicht in den emotionellen Alltag dieser Gesprächspartner.
Diese sorgfältig gestaltete Studie untersucht in acht Kapiteln, einschließlich Einleitung und Zusammenfassung, die Themen Jugend und Sexualität, Ehe und Monogamie, ‚Diktatur der Liebe‘1, Homosexualität und Lesbenkultur, die FKK-Bewegung und das sonst wenig erforschte Thema der DDR-Erotika. In ihrer Einleitung beschäftigt sich McLellan mit dem historischen Kontext für die sexuelle Revolution in der DDR. Mit Recht identifiziert sie die restriktive Wirkung von politischen und sozialen Faktoren wie der Wehrpflicht oder dem Wohnungsmangel auf den emotionellen Alltag vieler DDR-Bürger. Doch warnt sie davor, die sozialistische Gesellschaft und deren Normen als statisch zu betrachten: Im Gegenteil argumentiert sie, dass gemessen sowohl am eigenen Maßstab wie auch im Vergleich zur Alt-Bundesrepublik die Veränderungen in der DDR-Sexualität im Laufe ihrer Geschichte sehr wohl als revolutionär beschrieben werden können (S. 21).
Diese Behauptung wird im Kapitel über Jugend und Sexualität klar verdeutlicht, in dem McLellan die Bemühungen des Staates, mittels der Sexualerziehung das Sexualverhalten der Jugend zu steuern, mit den Versuchen der Jugend selber kontrastiert, für sich selbst einen sexuellen Freiraum zu gewinnen. Obwohl unter Honecker der Staat seine Haltung der Jugendsexualerziehung gegenüber etwas liberalisierte, blieb es doch die Regel, dass er die heterosexuelle Monogamie betonte, für Jungehe und junge Elternschaft eintrat und für Sexualität, die außerhalb dieser Normen lag, wenig Toleranz zeigte.
In den Kapiteln über Ehe und Monogamie und die sogenannte ‚Diktatur der Liebe‘ werden die Widersprüche zwischen dem vom Staat gewünschten Vorbild der sozialistischen Ehe und der aus der offiziellen Politik resultierenden Wirklichkeit des Alltags dargelegt. Hier zeigt McLellan, wie sich eine Familienpolitik, die es verheirateten Frauen erlauben sollte, sowohl eigene Kinder zu erziehen wie auch berufstätig zu sein, eine paradoxe Wirkung hatte: Zwar stieg die Geburtenrate, wie vom Staat erwünscht, doch gleichzeitig auch die Zahl der wirtschaftlich unabhängigen alleinstehenden Mütter, was gegen das Vorbild der sozialistischen Ehe verstoßen musste. In den 1980er-Jahren nahm die DDR-Familie in der Tat unterschiedliche Formen an. Insofern ähnelte die Liberalisierung der gesellschaftlichen Haltung der Ehe und der Familie gegenüber dem Trend in westlichen Gesellschaften zu dieser Zeit. Doch dieser Liberalisierung wollte der Staat klare Grenzen setzen. Die Schwierigkeiten, die Ausländern im Wege standen, die DDR-Bürger heiraten wollten, und die oft rassistische Diskriminierung ausländischer Frauen in Fragen der Sexualberatung sind nur einige Beispiele. Auch scheute der Staat nicht davor, durch den Einsatz von IM Sex als Waffe gegen Dissidenten zu benutzen, wie an den Beispielen von Eva-Marie Hagen und Wolf Biermann oder dem Ehepaar Wollenberger zu sehen ist.
Die Grenzen der staatlichen Toleranz sind am deutlichsten an den Erfahrungen von McLellans homosexuellen Gesprächspartnern zu sehen. Die Dekriminalisierung von homosexueller Aktivität zwischen Männern über 18 Jahre im Jahre 1968 bedeutete zwar etwas Liberalisierung in der Privatsphäre, aber, wie McLellan schreibt, ging es für Lesben und Schwule nicht um Illegalität, sondern um Unsichtbarkeit (S. 118). Bis in die 1980er-Jahre blieb es für sie äußerst schwierig, potentielle Partner zu treffen, geeigneten Wohnraum zu bekommen, oder Familien und Freunden gegenüber ihre Sexualität offen zu äußern. Solche Beschränkungen waren natürlich nicht nur in der DDR zu finden, aber die staatliche Kontrolle der freien Meinungsäußerung und die begrenzte Reisefreiheit setzten weitere Barrieren für die Entwicklung einer öffentlichen Sphäre für Schwule und Lesben, die erst in den 1980er-Jahren unter dem Schutz der Evangelischen Kirche teilweise abgebaut wurde.
In ihrem sorgfältig recherchierten Kapitel über die Versuche von Lesben und Schwulen, zu verschiedenen Zeitpunkten in der Geschichte der DDR Gruppen zu bilden und somit eine öffentliche Sphäre zu beanspruchen, macht McLellan klar, wie sehr das in Konflikt mit der staatlichen Sozialpolitik geraten musste, die den Akzent auf Ehe und Familienbildung legte. Aus der Sicht des Staates bedeutete die Dekriminalisierung, dass der Staat seine Verpflichtungen erfüllt hatte; zu der Akzeptanz, dass Schwule und Lesben auch andere Bedürfnisse hatten, die der Staat erfüllen sollte, war er nicht bereit.
In zwei Kapiteln beschäftigt sich McLellan mit Aspekten des Themas Nacktheit: der FKK-Bewegung und DDR-Erotika. Wie nach der Wende oft berichtet wurde, war Nacktbaden in der DDR viel weiter verbreitet als sonst irgendwo in Europa und – erstaunlicherweise für viele – vom „Textilbaden“ nicht segregiert. Oft wird die offensichtlich entspannte Haltung der DDR-Bürger zum FKK als Symbol der Differenz zwischen den beiden Teilen Deutschlands oder als Form der ‚inneren Emigration‘ von der kommunistischen Herrschaft präsentiert. McLellan distanziert sich von dieser Schlussfolgerung (S. 171) und betont, dass schon in den 1970er- und 1980er-Jahren das Nacktbaden fester Bestandteil der DDR-Freizeitkultur war. Interessant dabei ist die Art und Weise, auf die der Staat, nach anfänglichen Versuchen das Nacktbaden zu verbieten, aufgrund öffentlicher (und nackter!) Massenproteste in den 1950er-Jahren zu einer Meinungsänderung gekommen ist. Seine Haltung ging allmählich zur offiziellen Befürwortung über, was ihm erlaubte, die Popularität der FKK-Bewegung mit einer ‚progressiven‘ sozialistischen Sexualität eng zu verbinden und das regimekritische Potential der FKK-Bewegung zu neutralisieren.
Nach McLellan bedeutete auch die Lockerung der staatlichen Kontrollen über die Abbildung des nackten Körpers die Entwicklung einer sexualisierten Konsumkultur, die nicht nur mit der des Westens konkurrieren sollte, sondern auch einen bestimmten DDR-Charakter behielt (S. 173). McLellan widmet einen großen Teil des Kapitels über DDR-Erotika dem monatlichen Unterhaltungsheft "Das Magazin". Neben Mode- und Reiseberichten, Rezepten und anderem mehr brachte "Das Magazin" seinen Lesern in jedem Heft auch ein Nacktfoto (fast immer von einer Frau).
Das Magazin war nicht das einzige Beispiel der Akt-Fotografie: In den 1960er-Jahren brachten andere Illustrierte auch Nacktfotos und ab den 1950er-Jahren wurden Bücher mit Akt-Fotos regelmäßig veröffentlicht. McLellan sieht diese Entwicklung als Aspekt der gesellschaftlichen Befriedigungsstrategie der SED in den 1950er-Jahren, als eine Gelegenheit, das Vorbild der Heterosexualität bei der Konstruktion des Sozialismus zu bestätigen (S. 180). Die Produktion von Akt-Foto-Büchern für den Export gegen harte Währung war seit den 1950er-Jahren auch eine lukrative Einnahmequelle für staatliche Verlagshäuser, und ab Mitte der 1970er-Jahre spielten kommerzielle Interessen eine größere Rolle. Das Erotika-Angebot wurde breiter und schloss nun ebenfalls erotische Literatur, Dias für den Privatgebrauch und Fernsehsendungen ein. Obwohl die Erotika der DDR die Normen der sozialistischen Gesellschaft bekräftigen sollten, ist es für McLellan klar, dass westdeutsche Pornographie, westliche Ideen und westliche visuelle Diskurse einen erheblichen Einfluss hatten. Die DDR beschritt somit im Bereich der Erotika keinen eigenen Weg (S. 204).
Abschließend zieht McLellan drei wichtige Schlußfolgerungen für die Grenzen der sexuellen Revolution in der DDR: die unveränderten Geschlechterrollen trotz der fast universellen Beschäftigung der Frau; die fehlende Revolution der Homosexualität gegenüber und die daraus resultierende Marginalisierung von Schwulen und Lesben in der DDR-Gesellschaft sowie die deutlich rassistischen Elemente der DDR-Sexualität sowohl in der Sexualpolitik als auch in der täglichen Praxis. Diese Mängel führt McLellan auf das Fehlen einer unabhängigen öffentlichen Sphäre zurück, für die die Evangelische Kirche trotz ihrer Unterstützung für Gruppen, die sonst keine Plattform fanden, kein Ersatz war. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass die Geschichte der DDR-Sexualität sowohl Liberalisierung als auch repressiv sein konnte. McLellan schreibt: "Both interpretations accurately describe the experiences of some of the people, some of the time" (S. 214).
Anmerkung:
1 Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur, Bonn 1999.