M. Röger: Flucht, Vertreibung und Umsiedlung

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Titel
Flucht, Vertreibung und Umsiedlung. Mediale Erinnerungen und Debatten in Deutschland und Polen seit 1989


Autor(en)
Röger, Maren
Reihe
Studien zur Ostmitteleuropaforschung 23
Erschienen
Anzahl Seiten
X, 377 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephan Scholz, Institut für Geschichte, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Die Untersuchung von Erinnerungskulturen wendet sich seit einigen Jahren verstärkt der zentralen Funktion der Medien zu, die geteilte oder umstrittene kollektive Erinnerungen nicht bloß vermitteln, sondern sie auch mitprägen und teilweise erst konstruieren.1 In der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Erinnerung an die Flucht und Vertreibung um 1945 ist die Bedeutung der Medien bislang allerdings nicht sehr stark beachtet worden – und wenn, dann nur im Einzelfall. Maren Rögers nun gedruckt vorliegende, im Rahmen des Gießener Graduiertenkollegs „Transnationale Medienereignisse“ entstandene Dissertation richtet den Blick erstmals umfassender auf die Rolle der Medien in der Erinnerungsgeschichte von Flucht und Vertreibung. Sie liefert dabei nicht nur zahlreiche neue Erkenntnisse, sondern zeigt auch viele weiße Flecken und Forschungsdesiderate auf.

Röger konzentriert sich auf die jüngste Phase von 1989 bis etwa 2008; sie untersucht insbesondere die Presse und das Fernsehen in Deutschland und Polen. Neben den wichtigsten Titeln des Zeitungs- und Zeitschriftenmarkts hat sie an die 80 TV-Beiträge aus beiden Ländern bearbeitet. Diese starke Berücksichtigung des Fernsehens scheint wegen seiner heute wohl kaum überzubewertenden Bedeutung als Vermittler von Geschichtsbildern naheliegend zu sein. Sie ist aber wegen der nach wie vor schwierigen Zugänglichkeit auch neuesten Quellenmaterials ein mutiges Unterfangen. Da es keine staatliche Archivierung des öffentlich-rechtlichen TV-Materials gibt, ist die Recherche in verschiedenen Senderarchiven nicht nur zeitaufwendig und kostenintensiv, sondern zugleich mit zahlreichen Restriktionen verknüpft. Röger löste dieses Problem, indem sie auf ein universitätsöffentliches TV-Archiv der Universität Lüneburg zurückgriff, in dem nur aufgrund des persönlichen Interesses des Leiters eine nahezu vollständige Sammlung der TV-Beiträge zu ihrem Forschungsgebiet für die letzten Jahre existiert.

Mit dem Fokus auf Presse und Fernsehen gelingt es Röger, nicht nur die Narrative und Debatten sowie die innergesellschaftlichen und bilateralen Kontroversen in den Blick zu nehmen, sondern auch die Eigenlogiken und die Akteursrolle unterschiedlicher Medien sowohl für den deutschen als auch für den polnischen Diskurs offenzulegen und zu differenzieren. Dass sie dies vergleichend für beide Länder tut, hat den unschätzbaren Mehrwert, dass nationale Besonderheiten und scheinbare Selbstverständlichkeiten im Kontrast mit dem Nachbarn erst offenkundig werden. Das gilt zum Beispiel für die unterschiedlichen Rahmungen der Narrative von Flucht und Vertreibung, die in der Bundesrepublik in der Regel erst mit dem sowjetischen Vorstoß 1944 beginnen, in Polen jedoch fast immer mit dem deutschen Überfall von 1939 – womit bereits eine Kontextualisierung vorgenommen wird, die im deutschen Fall oft ausbleibt oder nur sekundär erfolgt. Ähnliches lässt sich auf der Ebene der Visualisierung nachweisen: Wo auf deutscher Seite Motive des Trecks dominieren und Frauen und Kinder den Eindruck der Unschuld evozieren, werden auf polnischer Seite Bilder von deutschen Vertriebenen meist mit visuellen Ikonen des Überfalls auf Polen oder mit von Deutschen vertriebenen Polen kombiniert – was wiederum einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang herstellt. Es ist ein großes Verdienst von Rögers Arbeit, dass sie diese visuelle Dimension des Erinnerns an Flucht und Vertreibung erstmals ausführlich untersucht, die wichtigsten Motive ausmacht, ihre Funktionsweisen analysiert und Hinweise auf deren Kontinuitäten gibt (zum Teil zurück bis in die NS-Propaganda). Hier besteht auch für die vorangegangenen Jahrzehnte noch ein großes Forschungsdesiderat, das erst langsam entdeckt wird.2

Neben der Ebene des deutsch-polnischen Vergleichs interessiert sich Röger für die bilateralen Verflechtungen. Geradezu frappierend ist dabei die „Asymmetrie des medialen Wahrnehmungsgewebes“ (S. 319) mit ihren teilweise schwerwiegenden Folgen für die bilateralen Beziehungen. Die Behandlung des Themas Flucht und Vertreibung verlief im Untersuchungszeitraum nahezu entgegengesetzt: Insbesondere die polnische Qualitätspresse entdeckte das Thema bereits in den frühen 1990er-Jahren; nach dem Ende ideologisch vorgegebener Rede- und Sichtweisen trug sie wesentlich zu einer offenen Auseinandersetzung mit polnischen Verantwortlichkeiten und einer Annäherung an deutsche Diskurse bei. Dies blieb in der Bundesrepublik aber weitgehend unbeachtet. Dort hatte aufgrund der offenen Grenzen nun das Genre der TV-Spurensuch-Dokumentationen Konjunktur, während bestehende Erinnerungsbilder sowie überkommene Motive und Begriffe zum Komplex von Flucht und Vertreibung aber keiner Prüfung für nötig befunden wurden.

Ein Erinnerungsboom setzte in Deutschland ab 2002 ein, ausgelöst von Günter Grass’ Buch „Im Krebsgang“. Hier war es insbesondere der „Spiegel“, der – wie schon wenige Jahre zuvor beim Thema Luftkrieg – nun als Leitmedium wesentlich zu einem „Collective-Memory-Setting“ beitrug (S. 89), indem er die Vertriebenen als Opfergruppe entdeckte, gleichzeitig die Rede vom Tabu der Erinnerung zu einem „kollektiven Mediensprechakt“ machte (S. 93) und sich selbst als Tabubrecher inszenierte. Die dabei wirksamen und bislang wenig beachteten „systemischen und kommerziellen Logiken medialer Erinnerungskulturen“ (S. 82) arbeitet Röger heraus, ohne sie allerdings vollständig aufklären zu können.

Der deutsche Erinnerungsboom wurde in den polnischen Medien aufmerksam verfolgt und in Verbindung gebracht mit dem gleichzeitigen Projekt eines „Zentrums gegen Vertreibungen“ und den Eigentums- bzw. Entschädigungsansprüchen der „Preußischen Treuhand“, deren personelle Verflechtung mit dem Bund der Vertriebenen kritisch beobachtet wurde. Die in den deutschen Medien geführte Debatte um das Wo und Wie, weniger aber um das Ob eines solchen Zentrums trug mit dazu bei, dass sich in den polnischen Medien der Eindruck einer neuen deutschen Opferfixierung und einer Vertauschung des Täter-Opfer-Verhältnisses breit machte. Dieser Eindruck wurde durch die Tatsache verstärkt, dass insbesondere manche Medien wie der „Spiegel“, die traditionell kritisch zu den Vertriebenenverbänden standen, nun die Vertriebenen als Opfer in den Vordergrund rückten. Nicht zuletzt die mangelnde deutsche Medienberichterstattung über die Vielfalt des polnischen Diskurses hat offenbar zu einer „negativen Aufmerksamkeitsspirale“ (S. 319) auf dem Höhepunkt des Konflikts um das Zentrum gegen Vertreibungen geführt.

Bei allen Unterschieden gab es auch deutsch-polnische Gemeinsamkeiten, etwa im Boom des Versöhnungsnarrativs im Geschichtsfernsehen mit einer latent „egalisierenden Vertreibungsopferkonstruktion“ (S. 241) und einem deutlichen Hang zum Versöhnungskitsch trotz anhaltend differierender Haltungen zum Ereigniskomplex von Flucht und Vertreibung. Auf der deutschen Seite besitzen, wie Röger nur andeuten kann, die bestehenden Narrative, Motive und Bilder eine starke Kontinuität; sie sind nach 1989/90 nicht grundsätzlich in Frage gestellt worden. Daher wäre es zu begrüßen, wenn Maren Rögers aufschlussreiches Buch weitere Studien zu den „Medial Maps“ von Flucht und Vertreibung anregen würde – Studien, die auch für die Jahrzehnte der alten Bundesrepublik noch dringend nötig sind.

Anmerkungen:
1 Siehe exemplarisch: Astrid Erll / Ansgar Nünning (Hrsg.), Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität – Historizität – Kulturspezifität, Berlin 2004 (rezensiert von Sören Philipps, in: H-Soz-u-Kult, 30.3.2005 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-1-228> [3.2.2012]).
2 Vgl. erste dahingehende Studien in Elisabeth Fendl (Hrsg.), Zur Ästhetik des Verlusts. Bilder von Heimat, Flucht und Vertreibung, Münster 2010 (rezensiert von Maren Röger, in: H-Soz-u-Kult, 24.11.2011 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2011-4-142> [3.2.2012]). Zu visuellen Gender-Motiven jetzt: Stephan Scholz, „Als die Frauen ihren Mann stehen mussten“. Geschlechtermotive im bundesdeutschen Vertreibungsdiskurs, in: Ariadne. Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte 59 (2011), S. 32-37; ders., Nur eine Stunde der Frauen? Geschlechterkonstruktionen in der Erinnerung an Flucht und Vertreibung, in: Edeltraud Aubele / Gabriele Pieri (Hrsg.), Femina Migrans. Frauen in Migrationsprozessen, Sulzbach im Taunus 2011, S. 99-125.