Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das „Alte Reich“, ist in jüngster Zeit wieder verstärkt zum Gegenstand von Diskussionen und Reflexionen geworden. Im Zentrum steht dabei nicht zuletzt die Frage, ob dieses komplexe Gebilde in der Frühen Neuzeit wirklich das „zahnlose Monstrum“ war, als das es lange Zeit angesehen wurde, oder nicht doch eher eine Form von Staatlichkeit repräsentierte, die sich institutionell und funktionell in vielen Bereichen mit der anderer europäischer Staaten vergleichen lässt.
Ein entscheidender Unterschied zeigt sich allerdings gerade hinsichtlich der Situation der Juden, die im Mittelpunkt des vorliegenden Bandes steht. Im Gegensatz zu anderen, stärker zentral ausgerichteten Staaten wie England, Frankreich oder Spanien, blieben die Juden im Deutschen Reich von großräumigen Vertreibungsaktionen verschont und konnten im Fall einer lokalen oder regionalen Vertreibung relativ leicht in ein benachbartes Territorium ausweichen. Dies bedeutete natürlich keine Garantie einer gleich bleibenden Lebensqualität. Vor allem die Vertreibung aus den meisten Reichsstädten im 15. und frühen 16. Jahrhundert und die folgende Ansiedlung in agrarisch geprägten ländlich-kleinstädtischen Räumen führten zu starken Einschränkungen der ökonomischen Möglichkeiten sowie zur Notwendigkeit völlig neuer Organisationsformen. Durch diesen Prozess, der recht treffend als „Atomisierung“ der jüdischen Lebensverhältnisse bezeichnet worden ist, wurde der „Kahal“, die städtische Gemeinde, die bis dahin die vorherrschende Organisationsform dargestellt hatte, durch andere Formen in Gestalt der sich im Laufe der Frühen Neuzeit organisatorisch verfestigenden Landesjudenschaften abgelöst. Gleichzeitig konnten die deutschen Juden aber die sich aus der territorialen Zersplitterung des Reiches ergebenden unterschiedlichen Rechtsräume und die daraus resultierenden Freiräume nutzen. Sie agierten – wie es die Herausgeber in ihrer Einführung charakterisieren – in einem „Zwischenraum“, der es ihnen ermöglichte, sowohl die lokalen und territorialen als auch die zentralen Institutionen des Reiches für sich in Anspruch zu nehmen. Dass sie von dieser Möglichkeit in produktiver Weise Gebrauch machten, lässt ihre Geschichte im Kontext der Reichsgeschichte besonders interessant erscheinen. Eng verbunden mit der Frage nach den Handlungsoptionen der Juden ist dabei die nach den Handlungsmotiven der jeweiligen Obrigkeiten, die diese veranlassten, die Präsenz von Juden in ihrem Herrschaftsbereich zu dulden oder ihre Ansiedlung gar mehr oder minder systematisch zu fördern. Dabei wird sehr schnell deutlich, dass es verfehlt wäre, diese Frage – wie in der Vergangenheit oft geschehen – allein durch den Hinweis auf ökonomische Faktoren zu beantworten.
Der vorliegende Sammelband ist die neueste Publikation im Rahmen des Projektclusters „Jüdisches Heiliges Römisches Reich“ an der Universität Erfurt und geht zurück auf einen Workshop, der unter dem Titel „Der imperiale Faktor in der jüdischen Lokalgeschichte“ 2007 in Marktbreit stattgefunden hat. An seinem Anfang steht die Würdigung der Verdienste des 2012 früh verstorbenen Kollegen Gerhard Rechter, seinerzeit leitender Direktor am Staatsarchiv Nürnberg und Autor eines der Beiträge des Bandes, gefolgt von einer Einführung, in der die Herausgeber ihre Konzeption von Reichsgeschichte und jüdischer Lokalgeschichte sowie das angesprochene Konzept der „Zwischenräume“ als Kristallisationspunkt jüdischer Aktionsmöglichkeiten darlegen. Die anschließenden zwölf Einzelbeiträge sind in drei Gruppen gegliedert. Im Zentrum der ersten Gruppe steht die Frage nach der Rolle der Juden im Alten Reich als „lokale Korporation oder translokale Minderheit“. In der zweiten geht es um „Judenschaften im Kontext politischer Räume“, während die dritte sich mit der „Integrationskraft der Reichsgerichte als Faktor jüdischer Lokalgeschichte“ beschäftigt. Wie bei Tagungsbänden üblich und wohl auch unvermeidlich, sind manche Aufsätze überraschend knapp gehalten und übertreffen in ihrem Umfang kaum den eines Vortragsmanuskripts, wogegen andere für die Drucklegung offenbar entscheidend erweitert wurden.
Dass die Sektionen sehr ungleich bestückt sind (die erste und zweite mit je drei, die dritte mit sechs Beiträgen), mag auf den ersten Blick befremdlich erscheinen, doch zeigt sich bei eingehenderer Lektüre, dass die Grenzen zwischen den einzelnen Teilbereichen fließend sind und sich manche Beiträge ebenso gut einem anderen Bereich zuordnen lassen. In gewisser Weise kommt in dieser Gewichtung jedoch auch eine Akzentsetzung zum Ausdruck, da die Bedeutung der Reichsgerichte als zentraler Instanzen, auch und gerade für jüdische Appellanten, im Kontext der Fragestellung des Bandes eine überaus wichtige Rolle spielt. Dabei findet vor allem der im Vergleich zum Reichskammergericht bislang weniger beachtete Reichshofrat eine verstärkte Berücksichtigung. Dies ist umso bedeutsamer, als dieses Gericht im Gegensatz zum geografisch weit vom kaiserlichen Hof entfernten und auch institutionell weitgehend unabhängigen Reichskammergericht in Speyer bzw. Wetzlar seine Urteile und Bescheide unmittelbar im Namen des Kaisers ergehen ließ und damit – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung – als „Sprachrohr“ des Reichsoberhaupts in juristischen Fragen agierte.
Wie Verena Kasper-Marienberg anhand von Appellationsprozessen zwischen der Frankfurter Judenschaft und dem Rat der Stadt aus dem späten 18. Jahrhundert zeigt, standen den Juden vor diesem Gericht Rechtsmittel zur Verfügung, die weit über den traditionellen Rahmen von Judenordnung und Privilegien hinausgingen. Die geschickte Nutzung dieser Mittel zeugt von einer beachtlichen und relativ selbstverständlichen Integration in das Rechtssystem des Reiches. Allerdings waren die Prozesstätigkeit und die Berücksichtigung der Belange von Juden in Abhängigkeit von den politischen Konjunkturen deutlichen Schwankungen unterworfen. Das verdeutlicht etwa die Untersuchung der Reichshofratsprozesse aus der Regierungszeit Kaiser Ferdinands III. (1637–1657) von André Griemert, die zugleich zeigt, in welch sensibler Weise das Gericht auf veränderte politische Bedingungen – im konkreten Fall den verstärkten Einfluss Frankreichs im Elsass nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges – reagierte.
Oft genug bemühte sich der Reichshofrat um eine friedliche Beilegung von Konflikten, so etwa in dem von Stefan Ehrenpreis behandelten Streit zwischen der Reichstadt Nürnberg und der Markgrafschaft Ansbach-Bayreuth um den Synagogenbau in dem kleinen Dorf Bruck Anfang des 18. Jahrhunderts. In der Erkenntnis, dass es dabei eigentlich weniger um den Bau selbst, sondern um die Frage der Duldung von Juden ging, gab der Reichshofrat der klagenden Nürnberger Seite in der Kernfrage zwar recht, stellte dabei jedoch die aufnahmefreundliche Bayreuther Judenpolitik nicht grundsätzlich in Frage.
Gelegentlich entfalteten sich in derartigen Konflikten aber auch ganz eigene Dynamiken, wie etwa die von Thomas Lau in seinem Beitrag thematisierte „Integrationskraft des Streits“ in der kleinen Reichsstadt Buchau. Hier kam es im Laufe eines zunächst gegen Rat und Judenschaft gerichteten Prozesses schließlich zu einem taktischen Schulterschluss zwischen Teilen der Bürger- und der Judenschaft und damit zur Anerkennung der jüdischen Präsenz als maßgeblichem Bestandteil der städtischen Realität.
Das Beispiel zeigt, wie wichtig es ist, die Intentionen der Konfliktparteien in jedem einzelnen Fall sehr genau zu untersuchen. Die häufigste Ausgangssituation war sicher die Konfrontation zwischen Reichsritterschaft und Territorialherrschaft, wie sie in den Beiträgen von Vera Kallenberg, J. Friedrich Battenberg und Gerhard Rechter behandelt wird. Dass es dabei um mehr ging als um rein materielle Interessen, bringt Rechter bereits im Titel seines Aufsatzes „Judenschutz als reichsritterschaftliche Statuspolitik“ treffend zum Ausdruck. In eine ähnliche Richtung weist auch die Untersuchung von Rainer S. Elkar über die Münzpolitik der Grafen von Wertheim, die an ihren jüdischen Edelmetalllieferanten festhielten, obwohl diese wirtschaftlich keine nennenswerte Rolle spielten und die Grafen dadurch überdies in einen Rechtsstreit mit der Stadt Frankfurt verwickelt wurden.
Wie groß die Zahl der involvierten Parteien und der damit verbundenen Interessen sein konnte, verdeutlicht der Beitrag von Ursula Reuter über die Wormser Judenschaft „Zwischen Reichsstadt, Bischof, Kurpfalz und Kaiser“. Ihre Analyse der verschiedenen Akteure zeigt, dass es genau diese komplexe rechtliche Konstellation war, die den Wormser Juden entgegen allen Vertreibungsabsichten langfristig das Überleben sicherte.
Die stark prosopografisch orientierte Studie von Anette Baumann über einen Hamburger Fall vor dem Reichskammergericht wiederum unterstreicht die Bedeutung, die neben den jeweiligen Konfliktparteien auch den am Prozess und der juristischen Entscheidungsfindung beteiligten Personen für den Ausgang eines Verfahren zukam.
Eine wahrhaft translokale Gruppe, nämlich die nicht im Besitz herrschaftlicher Schutzbriefe befindliche jüdische Unterschicht, nimmt Karl Härter in seinem Beitrag über jüdische Migration in den Blick. Wie er hervorhebt, ging die wachsende Reglementierung von Migration in den frühneuzeitlichen Territorien mit der Zulassung bestimmter Formen von Arbeitsmigration einher, wodurch sich den betroffenen Juden neue Möglichkeiten eröffneten.
Stephan Wendehorst schließlich erweitert in seinem abschließenden Beitrag die Perspektive durch einen spekulativen Blick auf mögliche Verbindungen zur Geschichte der Juden in Reichsitalien, der als Impuls für weitere Forschungen auf diesem vielschichtigen Gebiet der Rechts- und Sozialgeschichte verstanden werden soll.