Rechtzeitig zum Jubiläum sahen sich die Verlage C. Bertelsmann und C. H. Beck veranlasst, zwei umfassende Monographien zum Russlandfeldzug Napoleons und zum Krieg Russlands gegen das napoleonische Frankreich vorzulegen. Adam Zamoyskis Arbeit ist im Englischen bereits 2004, Dominic Lievens 2009 erschienen. Aufbau, Konzeptionen und Perspektiven der beiden Monographien unterscheiden sich allerdings beträchtlich. Zamoyski konzentriert sich auf Napoleons Feldzug im Jahre 1812, im Mittelpunkt der Darstellung Lievens stehen die politischen und militärischen Operationen Russlands zwischen 1810 und 1814. Beide Autoren halten die englische und französische Historiographie für vernachlässigenswert. Sie hätten die Rolle Russlands bei der Überwindung der napoleonischen Herrschaft über Europa marginalisiert, so Lieven. Der vorrevolutionären russischen und der sowjetischen Geschichtsschreibung wird eine ethno-nationalistische Engführung unterstellt. Besser kommen neuere russische Darstellungen weg. Ältere deutsche Texte (Zeitzeugenberichte und Memoiren) benutzen beide Autoren. Zamoyski hat sie sich übersetzen lassen. Er konzentriert sich darauf, die vorhandenen Publikationen – Quelleneditionen, zeitgenössische Zeugnisse, Memoiren – intensiv auszuwerten. Lieven zog auch Archivalien aus dem Russischen Militärhistorischen Archiv – amtliches Material und Personalfonds – heran. Beide Darstellungen lassen sich der Gattung einer neuen Militärgeschichte zuordnen: Dazu gehören Strategien und Taktiken in Diplomatie und Kriegführung, die Bedeutung der Logistik, Ausrüstung und technische Ausstattung der Truppen, Verhaltenscodes und -normen von Generalen, Offizieren und Soldaten, Schlachtenbeschreibungen und Operationen wie die verlustreichen Flussüberquerungen, Töten, Sterben und alle Varianten von Entbehrungen und Leiden ebenso wie Plünderungen, Beutemachen und Exzesse.
Zamoyskis Darstellung lässt sich im guten Sinne als populärwissenschaftlich qualifizieren. Im Zentrum stehen der Feldzug Napoleons und die russische Abwehr. Die politischen Rahmenbedingungen werden knapp skizziert. Struktur, Aufbau, Ökonomie und das Personal der multinationalen Grande Armée wie der russischen Verbände werden ausführlich erläutert. Da wir es – nach heutigem Verständnis – eher mit vormodernen Armeen zu tun haben, gehen beide Autoren sehr ausführlich auf die Logistik, die Organisation (und die Mängel) des Nachschubs, den Unterhalt der Pferde sowie auf die innere Truppenökonomie ein. Die Defizite der Logistik, vor allem Pferdemangel auf französischer Seite – auch noch in den Feldzügen 1813 und 1814 – und die oft nicht genutzte Überlegenheit der russischen Artillerie bestimmten maßgeblich die Operationen vor allem in Russland.
Gegen die Vorstellung vom rückständigen, desorganisierten Russland hebt Lieven die erheblichen Leistungen der russischen Intendanturbeamten unter Leitung Georg Cancrins, des späteren Wirtschaftsministers, hervor. Dies gelte besonders für die Feldzüge in Deutschland und Frankreich mit der Organisation „mobiler Magazine“ und der Etablierung von Versorgungslinien vom Zentrum Russlands bis nach Frankreich hinein (Lieven, besonders S. 395ff., 512ff., 590ff.). Hierauf führt er auch zurück, dass es in Deutschland und Frankreich zu viel weniger Plünderungen und Exzessen kam als in Russland. Hier litt die Bevölkerung nicht nur unter den Fouragierungskampagnen der Grande Armée, den Plünderungen der französischen wie der russischen Verbände und nicht selten auch unter der russischen Strategie der verbrannten Erde.
Der Feldzug in Russland gilt beiden Autoren als paradigmatisches Beispiel für den Zusammenstoß einer vergleichsweise professionellen mit einer noch ganz ständisch organisierten Armee. Die Grande Armée fand, so Zamoyski (S. 510f., 605f., 617ff.), ihren Zusammenhalt und inneren Antrieb im Charisma Napoleons. Es strahlte besonders auf das Offizierskorps aus, zum Teil aber auch auf die Mannschaften. Die Grande Armée diente zudem vielen niederen Chargen als Aufstiegsschleuse. Aufstiegschancen existierten angesichts der enormen Verluste auch auf russischer Seite, aber sie unterhöhlten nicht die ständischen Grundsätze und die Abgeschlossenheit der vom Adel geprägten „Republik der Offiziere“ (Lieven, S. 71) in den Gardetruppen und in den Stäben. Den Zusammenhalt der Truppe sieht Lieven eher durch die Loyalität in den kleinen Verbänden bestimmt, gefestigt auch durch die lange Dienstzeit in den regulären Truppen. Der russische Kriegspatriotismus blieb noch geprägt vom ständischen Gefüge: Unter den Eliten die Geburt und Diffusion eines russischen Nationalismus mit starken xenophoben Anteilen, in der weiteren Bevölkerung und unter den Soldaten eine eher naturwüchsige, situationsbedingte Abwehr, die sich solcher Symbole wie der Ikone der Mutter Gottes von Smolensk bediente. Die Orthodoxie wurde nicht ganz ohne Resonanz „nationalisiert“.
War die Grande Armée ein Produkt der Umwälzungen seit der Französischen Revolution, so bestätigte der letztendliche Erfolg der russischen Armee die ständische Ordnung und die Autorität der Autokratie im Russischen Reich. Wie gefestigt die alte Ordnung immer noch war, zeigte sich darin, dass – entgegen manchen Ängsten im russischen Adel – die Masse der abhängigen (leibeigenen) Bauern den Krieg und das ihn begleitende Chaos nicht zu Aufständen gegen die Gutsherrschaft nutzte. Unruhen und die Plünderungen von Herrensitzen durch Bauern waren mit wenigen Ausnahmen das Ergebnis der durch den Krieg bedingten Desorganisation und „Anarchie“, und nicht Ausdruck eines ausgelebten Antagonismus zwischen Herren und ländlichen Untertanen.
Beide Autoren gehen auf den nicht erst seit Stalins Zeiten beliebten Begriff vom „Volkskrieg“ gegen Napoleon ein. „Volkskrieg“ meint einerseits die aktive Einbeziehung aller Bevölkerungsgruppen in den Krieg und verweist andererseits auf Elemente eines Partisanen- oder Guerillakrieges auf russischer Seite. Da die russischen Truppen nicht wie die französischen am Pferdemangel litten, konnte die militärische Führung leichte Kavallerie und insbesondere Kosaken für eine Strategie des „kleinen Krieges“, der kurzen Überfälle und Rückzüge, sowie zu Aktionen im Rücken und am Rande der Grande Armée einsetzen. Gewagte Kommando-Unternehmen gab es auch in Deutschland, wie spektakuläre Vorstöße bis an die Oder, die kurze Besetzung Hamburgs oder Kassels demonstrierten (Lieven, S. 357ff., 367f., 515). Aber all diese Aktionen standen unter dem Kommando von Offizieren, sie waren Teil einer Strategie, den Feind durch unentwegte „Nadelstiche“ zu zermürben statt sich auf Schlachten einzulassen. Besonders erfolgreich war dieser Kleinkrieg beim Rückzug der Grande Armée aus Moskau. Denn selbst in dieser Situation zeigten die Verbände der halb verhungerten Grande Armée immer noch ihre Überlegenheit in der Taktik und im Manövrieren ebenso wie eine bemerkenswerte Einsatzfähigkeit.
Zamoyskis Arbeit brilliert durch eine anschauliche, oft drastische und beklemmende Schilderung der Schlachten und Schlachtfelder nach der Schlacht, der verlustreichen Überquerung von Flüssen, hier der berüchtigte und zugleich heroische Übergang über die Beresina (14.–16./26.–28.November 1812). Die Rückzüge nach Smolensk (2./14. November) und besonders nach dem Übergang über die Beresina glichen einem Todesmarsch. „Wie die Schatten der Unterwelt wallten wir durch dieses Gebiet des Todes“ (Zamoyski, S. 557). Beschrieben werden Zustände in Lazaretten, die Schneeblindheit, Amputationen, das Verhungern, der Kältetod, das Krepieren im Gedränge von Schlachten und Paniken bis hin zum Kannibalismus. Auch alle Arten von Gewalt und Plünderungen wie das wenig beachtete Schicksal von Kriegsgefangenen werden beschrieben und durch zeitgenössische Illustrationen bebildert.
Wenn Zamoyski Schlachten, Operationen und die nicht enden wollenden Märsche vornehmlich unter Gesichtspunkten individueller und kollektiver (Alltags-)Erfahrungen vorstellt, besticht Lievens Darstellung durch eine fachmännische Schilderung der Schlachten, Feldzüge und Operationen. Dies gilt besonders für Borodino (26. August/7. September 1812) und die Völkerschlacht von Leipzig (16.–19. Oktober 1813). Die besser lesbaren Karten hierzu finden sich allerdings bei Zamoyski.
Jenseits der bekannten Erklärungen und Rechtfertigungen für die Niederlage Napoleons betont Zamoyski Napoleons Fehler im Umgang mit Polen und dem angeblichen Versäumnis, mit dem Ausspielen der polnischen Karte alle moralischen und materiellen Ressourcen des Landes zu nutzen. In Proklamationen habe Napoleon zwar vom „2. Polnischen Krieg“ (Zamoyski, S. 173) gesprochen, Polen aber doch immer nur als Druckmittel benutzt, um sich Alexander I. gefügig zu machen. Lieven betont dagegen die Probleme, die sich mit Alexanders I. Absichten verbanden, ein konstitutionelles Königreich Polen im Verband des autokratischen Russland zu etablieren.
M. I. Kutusow, seit dem 8./20. August 1812 bis zu seinem Tod (16./28. April 1813) der eigentliche Held in der russisch-sowjetischen Historiographie, wird bei Zamoyski eher als konzeptions- und phantasieloser Feldherr – „l’imbécile Kutuzov“ (Zamoyski, S. 585) – vorgestellt. Er habe alle Befürchtungen Alexanders I. bestätigt. Der Kaiser habe dem nationalistisch-xenophoben „Gezeter“ gegen den „Wurstmacher“ M. Barclay de Tolly (Zamoyski, S. 282, 254), bis Anfang August 1812 Oberbefehlshaber der russischen Truppen, nachgeben müssen. Kutusow, so zitiert Zamoyski zustimmend Barclay de Tolly, sei nur ein „Deckname“ (Zamoyski, S. 287) gewesen für Intrigen, Eitelkeiten und Kompetenz- und Grabenkämpfe im russischen Oberkommando. Als Feldherr habe er wenig getaugt. Mit diesem harten Urteil berücksichtigt Zamoyski zu wenig die politische Struktur unter den Bedingungen einer Autokratie. Wie seine Vorgänger(innen) ließ Alexander I. Kompetenzen und Zuständigkeiten ganz bewusst im Unklaren, er förderte Rivalitäten und unterhielt konkurrierende Kommunikationskanäle, vulgo Denunzianten, um den Überblick und die Entscheidungsgewalt in seinen Händen und notfalls potentielle Konkurrenten um den Thron klein zu halten. Umgekehrt verhielten sich auch die Akteure „taktisch“ und agierten nicht immer offen und mit vielen unausgesprochenen Hintergedanken. Der Hof in Petersburg wie der Stab um Kutusow und zuvor um Barclay de Tolly waren daher systembedingt „Wespennester“ (Zamoyski, S. 200). Zamoyski neigt dazu, der russischen Seite jede strategische Planung bei der Abwehr Napoleons abzusprechen.
Hier liegt ein gravierender Unterschied zur Analyse Lievens. Dieser geht den strategischen Überlegungen und Optionen auf russischer Seite seit 1810 nach, als sich der zukünftige Konflikt abzeichnete. Den verschiedenen Planspielen lag angesichts der Überlegenheit des französischen Militärs und der Angst vor Napoleons „Genie“ die Vermeidung von Schlachten (nach dem Willen Napoleons) und auch strategische Rückzüge zugrunde (Lieven, S. 149-168). Schließlich waren auf russischer Seite auch die Erfahrungen mit Karl XII. nicht vergessen. Zamoyski hingegen betont zu Unrecht, dass strategische Rückzüge nicht „auch nur im entferntesten“ erwogen worden seien (Zamoyski, S. 149). Er orientiert sich hierbei an der wachsenden Empörung maßgeblicher Militärs, welche die Rückzüge als schmachvoll geißelten. Wozu habe man die Truppen an den westlichen Grenzen konzentriert, sie „der Länge nach vollgeschissen“ (Zamoyski, S. 200), wenn man dann nur davonrenne.
Lieven erfasst mehr als Zamoyski die politische Dimension des Russland-Feldzuges. Aus der Sicht des russischen Kaisers war er der Beginn einer „Schlacht um Europa“, in dem es keinen Platz mehr für Napoleon geben sollte. Dagegen habe Napoleon, obwohl ein „Kind“ der Revolution, mit seinem gigantischen Feldzug im Grunde einen Kabinettskrieg mit begrenzten Zielen geführt, um Russland zur Anerkennung seiner Vorherrschaft in Europa zu zwingen. An einer Herrschaft über Russland oder selbst über Polen oder gar an territorialem Besitz war er wenig interessiert. Der noch der „alten Welt“ angehörige Alexander I. habe hingegen sehr viel weiter gehende Ziele verfolgt. Dem entsprach der „Volkskrieg“ als Zermürbungskrieg, da er angesichts russischer Unterlegenheit nicht in einer Schlacht – ohne Verbündete – zu gewinnen war. Der Feldzug von 1812 gilt Lieven mithin als Teil eines großen Entwurfs, der ohne die Fortsetzung des Krieges 1813 und 1814 nicht verständlich sei. Dass Lew Tolstoi in „Krieg und Frieden“ wie auch der überwiegende Teil der russischen Historiographie den Krieg in Wilna enden lasse, sei eine typisch nationalistische Blickverengung. Alexander I. sei es mit dem Krieg um eine Neuordnung Europas ohne Napoleon gegangen. Im Unterschied dazu seien Kutusow und auch der Außenminister Nikolai Rumjanzew „Isolationisten“ gewesen, welche bei aller Feindschaft gegen Napoleon die Rivalität zu Großbritannien im Blick behielten. Deshalb waren sie an einer „Vernichtung“ der französischen Militärmacht (mit oder ohne Napoleon) nicht interessiert. Dies war neben der eigenen Schwäche eine weitere Komponente, welche die militärische Strategie zumindest 1812 beeinflusste. Angesichts der politischen Zielsetzungen Alexanders I. wie auch Kutusows ist der Begriff des „totalen Krieges“ (Zamoyski, S. 262) unangemessen. Dem widersprach nicht, dass in vielen Schlachten wie in Borodino oder in der – unter militärtaktischen Gesichtspunkten „langweiligen“ – Völkerschlacht bei Leipzig (Lieven, S. 544) die russischen Truppen einen selbst in der Ära Napoleons eher unüblichen Kampf à outrance führten, das heißt bis zum letzten Mann kämpften und enorme Verluste hinnahmen. Zamoyski bezeichnet Borodino gar als das größte Massaker des 19. Jahrhunderts, das erst durch das Gemetzel an der Somme 1916 übertroffen worden sei.1 Die Angaben über die Verluste auf russischer Seite allein in Borodino schwanken zwischen 38.000 und 50.000 Mann, auf Seiten der Grande Armée liegen sie bei 28.000 Mann. Als die russischen Behörden die Säuberung des Schlachtfeldes von Borodino in Angriff nahmen, mussten sie circa 35.000 Pferdekadaver beseitigen lassen (Zamoyski, S. 326; Lieven, S. 255).
Wenn man, wie der Autor dieser Rezension, kein Fachmann für die napoleonischen Kriege ist, liest man beide Darstellungen mit großem Gewinn. Zamoyski besticht durch eine eindringliche Schilderung der Alltagserfahrungen der Kriegsteilnehmer. Es mag sein, dass Lieven angesichts der von ihm behaupteten Marginalisierung der russischen Leistungen im Krieg gegen Napoleon die russische Seite und insbesondere Alexander I. und die Leistungen des russischen Intendanturwesens übertrieben positiv zeichnet. Angesichts der gegenwärtigen Trends fällt auf, dass Lieven glaubt besonders hervorheben zu müssen, dass es einen engen Zusammenhang gibt zwischen „großer“ Politik (großen Männern), Diplomatie und Kriegführung.
Anmerkung:
1 Nach Lieven, S. 550, lagen die gesamten Verluste der Völkerschlacht noch höher, für die russische Seite allerdings niedriger als in Borodino.