Der zentrale Gegenstand der Habilitationsschrift von Marina Münkler ist die 1587 in Frankfurt am Main erschienene „Historia von D. Johann Fausten“. Untersucht werden darüber hinaus die Prätexte der Historia, das heißt diejenigen Texte, die wörtlich übernommen werden, auf die sich das Faustbuch bezieht und an die es anschließt. Dazu kommen einige in der Forschung weniger beachtete Fassungen, Fortsetzungen, Bearbeitungen und Neuerzählungen des Faustbuchs: Im Vordergrund stehen die verschiedenen Druckfassungen der Historia, die Wolfenbütteler Handschrift, der Tübinger „Reimfaust“, die „History of the damnable life and deserved death of doctor John Faustus“, die Bearbeitungen Widmans und Pfitzers sowie das „Faustbuch des Christlich Meynenden“. Schließlich beschäftigt sich Münkler mit dem biographischen Narrativ, das dem Faustbuch zugrunde liegt. Dieses Narrativ verknüpft sie mit Fragen nach der Identität, Individualität und Subjektivität des Protagonisten.
Ich konzentriere mich im Folgenden auf die Möglichkeiten und Beschränkungen, die sich aus der methodischen Ausrichtung ergeben. Neben dem narratologischen Handwerkszeug vor allem Genettscher Prägung1 bildet der Begriff der „Transformation“ einen wichtigen Teil der konzeptionellen Matrix der Untersuchung. „Transformation“ steht für eine Abgrenzung zur Stoffgeschichte, die in der Forschung zum Faustbuch omnipräsent ist. Die Texte, an denen das Faustbuch weiterschreibt, und diejenigen, die an den Faustbüchern weiterschreiben, „tradierten nicht einfach denselben Stoff“; vielmehr haben sich deren Autoren, so Münkler, „implizit wie explizit an ihren Vorgängern abgearbeitet, haben ausgelassen und hinzugefügt, erweitert und gekürzt, substituiert und korrigiert, modifiziert und kommentiert“; das heißt: „Sie haben Texte transformiert, nicht einen Stoff tradiert“ (S. 14).
Es gehört denn auch zu den Verdiensten der Arbeit, mittels ausführlicher Analysen der Prätexte, die das Faustbuch integriert, dem Modell einer in Umlauf befindlichen, mündlich tradierten Faustsage ein intertextuelles Modell entgegenzustellen, das nicht von einer diffusen Mündlichkeit ausgeht, sondern von den komplexen Praktiken einer Schrift- und Textkultur. So gesehen müssen die verschiedenartigen Versatzstücke und Erzählsplitter, aus denen das Faustbuch zusammengesetzt ist, in keinem Zusammenhang mit einem als historisch dargestellten Faust stehen – das biographische Narrativ des Faustbuchs erzählt kein mündlich tradiertes Leben, sondern konstruiert eine einigermaßen kohärente Lebensgeschichte.
Diese im Zusammenspiel mit anderen Texten konstruierte Lebensgeschichte lässt sich durchaus mit Fragen nach Identität, Individualität und Subjektivität verknüpfen, auch wenn die Autorin sich wenig Mühe gibt, ihr Interesse an diesen Fragen näher zu begründen. Individualität meint bei Münkler die Unterscheidung zwischen Individuen, insbesondere ihre Inklusion beziehungsweise Exklusion. Unter Identität wird im Anschluss an Cornelia Bohn und Alois Hahn2 „die Beschreibung und Beobachtung von Individualität“ (S. 24) verstanden. Subjektivität schließlich meint die Art und Weise, „in der ein Individuum mit sich selbst in Beziehung gesetzt wird, d. h. die Weise, in der es seine Identität nicht in Bezug auf andere, sondern in Bezug auf sich selbst thematisiert“ (S. 31).
Der bereits im Titel hervorgehobene Begriff der Ambiguität – ein weiteres wichtiges Element der konzeptionellen Matrix – ist zum einen vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung zu verstehen und verweist zum anderen auf die komplexe Kommunikationssituation narrativer Texte. Indem narrative Texte die Möglichkeit bieten, sowohl in der erzählten Welt als auch auf der Ebene des Erzählers Identität, Individualität und Subjektivität zu beobachten und zu beschreiben, lassen sich widerstreitende Uneindeutigkeiten narrativ darstellen. Mit dieser Koppelung von Identitätskonstruktion und Erzähltheorie gelingt es Münkler, ein zentrales Diskussionsfeld der Forschung mit bemerkenswerter Leichtigkeit auf den Punkt zu bringen. Aus der oft konstatierten Uneinheitlichkeit, Widersprüchlichkeit und narrativen Dissonanz des Faustbuchs (und der Faustbücher) wird auf diese Weise eine narratologisch fassbare Vielstimmigkeit, die nicht unwesentlich am Faszinationspotential der Texte mitgewirkt haben dürfte.
Münklers Buch füllt eine sichtbare Lücke, was die Untersuchung verschiedener an das Faustbuch anschließender Texte anbelangt. Was die Arbeit nicht leisten will, ist eine Positionierung der Faustbücher innerhalb der Kultur des späten 16. bis 18. Jahrhunderts. Mediengeschichtliche Überlegungen, Elemente soziokultureller Praktiken, ubiquitäre und neuartige Narrative sowie Dimensionen der Interaktion von Text und Kontext stehen nicht oder nur beiläufig zur Debatte. Insofern handelt es sich um eine genuin philologische Arbeit. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Münkler den New Historicism in einem kurzen Absatz als ein spezifisches Verfahren im Umgang mit Intertextualität versteht. Dies wird dem New Historicism sicherlich nicht gerecht, macht aber unmissverständlich deutlich, dass es der Verfasserin nicht um kontextualisierende Lektüren zu tun ist und auch nicht um ein Verständnis für die soziale Relevanz und kulturelle Anschlussfähigkeit der untersuchten Texte. Deshalb kann Münkler auch ohne Schwierigkeiten zwischen zwei Arten von Texten unterscheiden, die das Faustbuch verwendet und die ihm entweder nahe oder fern stehen. Auf der einen Seite gibt es, so Münkler, die „protestantischen Exempelsammlungen“ (S. 21), die sich homolog zum Faustbuch verhalten; auf der anderen Seite der binären Unterscheidung findet sich „ein bunter Strauß von Wissenstexten, Traktaten, Sprichwortsammlungen und Wörterbüchern“ (S. 21f.), die als heterologe Prätexte bezeichnet werden. Gerade die zweite Gruppe steht aber für eine beeindruckend breite und einflussreiche Lese- und Schreibkultur des späten 16. Jahrhunderts und damit für eine umfassende soziokulturelle Anschlussfähigkeit des Faustbuchs. Was mit Blick auf die narrative Struktur dem Faustbuch eher fern steht, also heterolog ist, ist homolog, wenn man sich der Textkultur der 1580er-Jahre zuwendet.
Weil Text-Kontext-Beziehungen nicht im Vordergrund stehen, dient der Abschnitt über Faust als Zauberer vor allem der Abgrenzung zu denjenigen Ansätzen der Forschung, die das Faustbuch vor dem Hintergrund der Hexen- und Zaubererverfolgung des späten 16. Jahrhunderts lesen. Die Interaktion des Faustbuchs mit Praktiken und Diskursen aus dem Umfeld der Hexen- und Zaubererverfolgung – etwa mit Hinrichtungen, Inquisitionsverfahren und den verschiedenen Formen der Konstruktion von Devianz – gerät nur punktuell in den Blick. Deutlich wird hingegen die mitunter schwierige moralische Bewertung der Zauberpraktiken des Protagonisten. Münkler kann zeigen, dass man Fausts Identität nicht zu schnell mit dem dämonologischen Etikett des Zauberers vereindeutigend festlegen sollte.
Das Buch endet mit einem Abschnitt zur frühneuzeitlichen Melancholie, die gerade am Beispiel des Faustbuchs in den letzten Jahren vielfach thematisiert wurde. Laut Münkler ermöglicht der Melancholiediskurs die Auseinandersetzung des Protagonisten mit sich selbst in Form von Geständnissen und verschriftlichten Wehklagen. Zusammen mit der curiositas und dem Gewissen gehöre die Melancholie zu den „zentralen und umkämpften Semantiken […], in denen problematische Identität in der Frühen Neuzeit verhandelt wurde“ (S. 15). Dem mag man zustimmen, allerdings ließe sich einwenden, dass die Texte, die an der Transformation der Historia arbeiten, nur begrenzt dafür geeignet sind, diese „umkämpften Semantiken“ herauszuarbeiten. Da es sich um ein sehr spezielles Textkorpus handelt, in dem Fragen der curiositas, des Gewissens und der Melancholie eng verschränkt sind, wäre zumindest zu diskutieren, wie repräsentativ die Beobachtungen sind, die auf diesem Korpus basieren.
Noch nicht abschlossen ist außerdem die Auseinandersetzung mit der Transformationsleistung der einzelnen Texte. Zwar ermöglicht die Konzentration auf die Untersuchung von Individualität, Identität und Subjektivität eine einheitliche Perspektive auf das Korpus, eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Einzeltexten, etwa mit dem Tübinger „Reimfaust“, ist aber weiterhin wünschenswert. Für eine solche Auseinandersetzung hat Münkler indes ebenso den Weg geebnet wie für eine neue Sicht auf die narrativen Dissonanzen der biographischen Erzählungen von Dr. Johann Fausten.
Anmerkungen:
1 Siehe insbesondere: Gérard Genette, Die Erzählung, 2. Aufl., München 1998 sowie ders., Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt am Main 1993.
2 Cornelia Bohn / Alois Hahn, Selbstbeschreibung und Selbstthematisierung. Facetten der Identität in der modernen Gesellschaft, in: Herbert Willems / Alois Hahn (Hrsg.), Identität und Moderne, Frankfurt am Main 1999, S. 33-61.