Zwei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Zusammenbruch der NS-Diktatur erschien 1947 unter amerikanischer Lizenz das erste Heft der Architekturzeitschrift „Baukunst und Werkform“. Der Architekt Alfons Leitl nahm darin als Herausgeber Stellung zu den drängenden Fragen der Zeit, die insbesondere den damals als „missraten“ empfundenen Wiederaufbau betrafen.1 Als Autoren und Mitarbeiter zog Leitl seines Erachtens politisch wenig belastete Architekten wie Rudolf Lodders, Hans Schwippert, Egon Eiermann und Fritz Schumacher heran. Obwohl in diesem deutschlandweiten „Querschnitt“ (so der Titel der ersten Ausgabe) auch von Aufbau-Projekten in Hamburg die Rede war, wurde eine fachkompetente Stimme vor Ort nicht berücksichtigt – diejenige des Architekten und Stadtplaners Konstanty Gutschow. Ein Grund dafür war neben seiner NS-Vergangenheit wohl auch seine architektonische Distanz zum „Neuen Bauen“. Gutschows ab 1939 entstandene Hochhaus-Konzepte für Hamburg galten im Rückblick als beispielhaft für die „Maßlosigkeit und Abwegigkeit“ der NS-Planungen.2
Dem über 40-jährigen, durchaus ambivalenten architektonischen Schaffen Konstanty Gutschows (1902–1978) widmet sich die Dissertation der Hamburger Historikerin Sylvia Necker in Form einer „Professionsgeschichte“.3 Die Grundlage ihrer Studie bildeten umfassende Recherchen im Nachlass des Architekturbüros im Staatsarchiv Hamburg sowie auch Materialien im Archiv des Sohnes Niels Gutschow, eines Architekten und Bauhistorikers. Die Arbeit ist chronologisch gegliedert, wobei Necker zugleich thematische Schwerpunkte setzt: voran die Frage einer „neuen Generation“ von Architekten (Kap. 1), darauf folgend die „Gründung in der Krise“ 1929 (Kap. 2) sowie die „Etablierung im neuen System“ (Kap. 3), in dem Gutschow zielstrebig zum „Experten“ aufstieg (Kap. 4). Sein Wirken nach den Bombenangriffen auf Hamburg 1943 wird ebenfalls eingehend behandelt (Kap. 5); den bisher wenig beachteten Bauten Gutschows nach 1945 widmet sich der abschließende Teil „Wissenstransfer in der Bundesrepublik“ (Kap. 6).
Seine Ausbildung erhielt Gutschow vor allem an der Technischen Hochschule Stuttgart, laut dem Städtebauer und Kritiker Werner Hegemann in den 1920er-Jahren die „führende Architektonische Hochschule Deutschlands, wenn nicht Europas“ (zit. auf S. 52). Dort studierte Gutschow unter anderem bei Paul Schmitthenner, Paul Bonatz und dem Städtebauer Heinz Wetzel und schloss 1926 mit dem Diplom ab. Dass die konservativ und praktisch ausgerichtete „Stuttgarter Schule“ aus ihm keinen eindeutig „traditionalistischen“ Architekten machte, legt Necker überzeugend dar. Am Beispiel Gutschow unternimmt die Autorin eine differenzierte Betrachtung sowohl der „traditionalistischen Moderne“ als auch des avantgardistischen „Neuen Bauens“ und ordnet beide plausibel als Strömungen der Moderne ein (S. 53).4
Necker versteht die zwischen 1900 und 1910 geborenen Architekten und Städtebauer (darunter neben Gutschow etwa Albert Speer, Rudolf Wolters, Ernst Neufert und Rudolf Lodders) als Vertreter einer eigenen, berufsspezifischen Generation der „Archikraten“ (S. 13, S. 63). Für Gutschow wird diese Zuordnung schlüssig begründet, aber sie trifft sicher nicht auf alle Architekten seiner Alterskohorte zu. Eines jedoch war den Architekten, die ihr Studium Ende der 1920er-Jahre abschlossen, auf jeden Fall gemeinsam: Sie alle wurden in ihren ersten Berufsjahren vor allem mit Krisenbewältigung und Perspektivlosigkeit konfrontiert.
Gutschow selbst machte sich nach seinem zweijährigen Referendariat im Hamburger Hochbauamt und kurzer Tätigkeit im Stadtbauamt Wandsbek 1929 selbstständig. Trotz erfolgreicher Teilnahme an verschiedenen Wettbewerben erhielt er zunächst nur kleinere Aufträge im Wohnungsbau (etwa Stadtrand- und Siedlungshäuser in Hamburg-Horn, S. 138). Positive Beachtung fanden seine stadtplanerischen Entwürfe (zu Wandsbek siehe S. 130, publiziert in „Der Baumeister“ 1931), aber auch seine „modernen“ Projekte wie die Gestaltung der Rolandbetriebe im Deutschlandhaus am Gänsemarkt (publiziert in „Moderne Bauformen“ 1931), einer im Stil des Neuen Bauens gestalteten Mischung aus Tanzbar, Tanzcafé und Moccafix (S. 131ff.). Die fachliche Anerkennung verbesserte freilich kaum die durch die Wirtschaftskrise bedingte desolate Auftragslage.
Das Jahr 1933 veränderte „die Situation der deutschen Architekten und Städtebauer aus der jungen Generation grundlegend, denn nun verbanden sich deren Realisierungswünsche mit Realisierungsmöglichkeiten“ (S. 337). Gutschow nutzte zielstrebig die neuen Verhältnisse und machte eine rasante Karriere. 1933 trat er der SA bei; NSDAP-Mitglied wurde er nach Lockerung der Aufnahmesperre 1937 (S. 8). Nach der Entlassung des Oberbaudirektors Fritz Schumacher nutzte er seine neuen Verbindungen. 1934 arbeitete er an der Altstadtsanierung Altonas, verfolgte aber auch ehrgeizigere Ziele – etwa mit einem Wettbewerbsbeitrag für das Haus des deutschen Botschafters in Ankara (1. Preis, S. 208).
Wie auch das Titelbild von Neckers Publikation zeigt, ließ sich Gutschow auffällig oft schreibend hinter schwerem Holzmobiliar statt am Zeichentisch abbilden (S. 336); dementsprechend beschreibt die Autorin Gutschows Aufstieg als den eines „Experten“, der mit Stringenz und Systematik perfekte Planungen vorzulegen pflegte. Anfang 1939 war er auf dem Höhepunkt seiner Karriere angelangt: Nach „persönlicher Entscheidung“ Adolf Hitlers (S. 342) gewann Gutschow den bereits 1937 ausgeschriebenen Wettbewerb für die Gestaltung des Elbufers. Nun mit großer Machtfülle ausgestattet, plante er Einschnitte im Hamburger Stadtbild: 40.000 Einwohner Altonas sollten umgesiedelt werden (S. 223), und als markanter Blickfang in einem neugeschaffenen Forum an der Elbe wurde ein „Gauhochhaus“ geplant, das als 250 Meter hohe Parteizentrale neben einer „Volkshalle“ und einem KdF-Hotel erbaut werden sollte. Necker führt den Entwurf des 60-stöckigen Turmes (geplante Bauzeit 1947 bis 1951) mit monumentalem Reichsadler an der Fassade weniger auf Speers Ausstellungsbau für die Pariser Weltausstellung 1937 zurück als auf das Vorbild amerikanischer Wolkenkratzer (S. 228): Ein medialer Konkurrenzkampf mit Amerika sollte gewonnen werden (S. 242). Hamburg wurde nun „Führerstadt“ (neben Berlin, München, Nürnberg und Linz). Der Gauleiter und Reichsstatthalter Karl Kaufmann ernannte Gutschow zum „Architekten des Elbufers“, der „auf Geheiß des Führers das Bild der Stadt“ neu formen sollte (S. 231). In Gutschows bis zu 250 Mitarbeiter umfassendem Büro waren etliche Architekten tätig, die später auch in der Bundesrepublik eine wichtige Rolle spielten.
Im Kapitel „Zerstörung. Grundlage für das Neue“ beschreibt die Autorin Gutschows Tätigkeiten nach der kriegsbedingten Aussetzung der „Führerstadtplanungen“. Der „Architekt des Elbufers“ wurde seit den verheerenden Bombardierungen Hamburgs 1943 zum „Experten“ für Wiederaufbauplanungen der Nationalsozialisten. Gutschow entwickelte konkrete Pläne für Hamburg und wurde in den „Arbeitsstab für Wiederaufbau“ nach Wriezen bei Berlin berufen.
Necker betont, dass im Falle Gutschows von einer „Kontinuität sowohl in der Berufsausübung als auch bezüglich der städtebaulichen Leitbilder“ nach 1945 nicht die Rede sein könne (S. 338). Zwar war der bis 1949 mit Bauverbot für öffentliche Auftraggeber belegte Architekt in der Bundesrepublik weiterhin aktiv: Er war ab 1948 beratend für die „Aufbaugemeinschaft Hannover“ tätig und realisierte in Hannover später einige Wohnbau-Projekte sowie ab 1955 Krankenhäuser in Düsseldorf und Tübingen. Dennoch konnte Gutschow im bundesrepublikanischen Wiederaufbau keinen Fuß fassen – im Gegensatz zu ebenfalls stark belasteten Kollegen wie Friedrich Tamms, Julius Schulte-Frohlinde und Ernst Neufert: Nach wie vor gut vernetzt, konnten diese sich begehrte Posten in den Behörden oder an den Hochschulen zuschanzen, ungeachtet teils schwerer Widerstände.5 So wurde Tamms Leiter des Stadtplanungsamts in Düsseldorf, Schulte-Frohlinde Leiter des dortigen Hochbauamts; der NS-Beauftragte für Typisierung im Büro Speer und Gutschow-Konkurrent Neufert wurde bereits 1945 zum Professor an die Technische Hochschule Darmstadt berufen (S. 328).
Doch auch unter den ehemaligen regimekonformen Kollegen gab es Dissonanzen: Der Altonaer Rudolf Lodders (der in den 1940er-Jahren für das Büro Gutschow unter anderem an der Planung für die Hamburger Ost-West-Straße gearbeitet hatte) erteilte in der oben erwähnten ersten Ausgabe der Zeitschrift „Baukunst und Werkform“ 1947 nur denjenigen Kollegen einen Freibrief, die im „Dritten Reich“, wie er selbst, „modern“ gebaut hätten.6 Lodders sah eine „ästhetische Opposition“, der Gutschow mit seiner NS-Repräsentationsarchitektur keinesfalls angehört habe.
Die Wiedereingliederung von Elitearchitekten des NS-Regimes in Behörden und Forschungseinrichtungen, eines der finsteren Kapitel aus der Frühzeit der Bundesrepublik, ist längst noch nicht hinreichend erforscht. Sylvia Neckers Arbeit leistet dafür einen wichtigen Beitrag. Der Autorin gelingt es darüber hinaus, das ambivalente Schaffen Gutschows zwischen Modernität und Traditionalismus vor dem Hintergrund von Normierung, Diktatur und Volksgemeinschaftsdenken differenziert darzustellen. Auf erhellende Weise werden die Biographie und das Werk des Architekten historisch kontextualisiert. Das reichhaltige Bildmaterial trägt zur Argumentation und zur Anschaulichkeit des Buchs wesentlich bei.
Anmerkungen:
1 Alfons Leitl, Anmerkungen zur Zeit, in: Baukunst und Werkform 1 (1947) H. 1, S. 3-19.
2 Rudolf Lodders, Zuflucht im Industriebau, in: Baukunst und Werkform 1 (1947) H. 1, S. 37-44, hier S. 39.
3 Vgl. dazu auch das kunsthistorische Forschungsprojekt „Hitlers Architekten: Troost, Speer, Fick und Giesler. Historisch-kritische Studien zur Regimearchitektur des Nationalsozialismus“, das ebenfalls auf einer systematischen Erschließung von Architektennachlässen basiert. Siehe <http://www.architekturmuseum.de/forschungundlehre/forschung.php> und <http://kunstgeschichte.univie.ac.at/forschung/hitlers-architekten-troost-speer-fick-und-giesler/> (26.10.2012).
4 Siehe aus der neueren Literatur auch Kai Krauskopf / Hans-Georg Lippert / Kerstin Zaschke (Hrsg.), Neue Tradition. Konzepte einer antimodernen Moderne in Deutschland von 1920 bis 1960. Europäische Architektur im Zeichen von Traditionalismus und Regionalismus, Dresden 2009; dies. (Hrsg.), Neue Tradition. Vorbilder, Mechanismen und Ideen, Dresden 2012.
5 Siehe zu Düsseldorf Susanne Anna (Hrsg.), Architektenstreit. Wiederaufbau zwischen Kontinuität und Neubeginn, Düsseldorf 2009.
6 Siehe Anm. 2.