T. Bührer u.a. (Hrsg.): Imperialkriege von 1500 bis heute

Titel
Imperialkriege von 1500 bis heute. Strukturen – Akteure – Lernprozesse


Herausgeber
Bührer, Tanja; Stachelbeck, Christian; Walter, Dierk
Erschienen
Paderborn 2011: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
X, 524 S.
Preis
64,00 €
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Christoph Kamissek, Historisches Institut, Universität Rostock

Als am 29. Juni 2009 in Potsdam die 50. Internationale Tagung für Militärgeschichte (ITMG) eröffnet wurde, hatten US-amerikanische Soldaten gerade damit begonnen, nach sechs Jahren Besatzung ihre Stützpunkte in der irakischen Hauptstadt Bagdad zu räumen. Dass die zeitgleich gut 4.000 Kilometer entfernt vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Kooperation mit dem Arbeitskreis Militärgeschichte e.V., dem Deutschen Historischen Institut London und dem Hamburger Institut für Sozialforschung veranstaltete Konferenz sich gerade dem Thema „Imperialkriege“ widmete, stand ohne Zweifel in direktem Zusammenhang mit dem in den letzten zehn Jahren sprunghaft gewachsenen Interesse an den militärischen Facetten des europäischen Imperialismus. Viele Beobachter und beteiligte Militärs fühlten und fühlen sich durch die Ereignisse im Irak und später in Afghanistan an die Kolonial- und Dekolonialisierungskriege des 19. und 20. Jahrhunderts erinnert. Wie in den Hochzeiten europäischer „Interventionen“ in Afrika, Asien und anderswo auf dem Globus war die Eroberung beider Länder schnell, militärisch weitgehend reibungslos und mit relativ wenigen Opfern auf Seiten der Angreifer erfolgt. Der eigentliche Krieg begann jedoch erst mit dem offiziellen Ende der Kampfhandlungen und mündete in Aufstandsbewegungen, deren Attentate, Selbstmordanschläge und Angriffe aus dem Hinterhalt im Zusammenspiel mit den Gegenreaktionen der Besatzungsmacht in den nächsten Jahren weit mehr Opfer forderten, als die militärischen Auseinandersetzungen im klassischen, zwischenstaatlichen Sinne. Die Vision einer raschen „Befriedung“ und eines nachhaltigen „state building“ nach westlichem Muster im Irak und in Afghanistan entpuppte sich zunehmend als geschichtsvergessene Illusion, der Politiker und Militärs in Europa und den USA leichtfertig aufgesessen waren.

Trotz der sich aufdrängenden historischen Parallelen zu Kriegen, die unter imperialen Vorzeichen bereits in der Vergangenheit auf dem Gebiet der heutigen Staaten Irak und Afghanistan geführt wurden und aus denen Politiker, Militärs, aber auch deren akademische Ratgeber offensichtliche „Lehren“ für die Kriege der Gegenwart ableiten wollen, lassen sich diese analytisch jedoch kaum als „Kolonialkriege“ klassischen Stils begreifen. Wie Dierk Walter, Mitherausgeber des zu besprechenden Bandes in seiner gedankenreichen Einleitung feststellt, ging es 2003 im Irak und 2001 in Afghanistan „um Vieles, nur nicht um Kolonien“ (S. 5). Präzise und reflektiert entwirft er hier in Absetzung von früheren eigenen Definitionsvorschlägen einen Idealtypus von „Imperialkrieg“, welcher einer räumlich und diachron vergleichenden Analyse von Konflikten den Weg bahnen will, die „(a) im Zeichen der europäischen Expansion bzw. des Imperialismus (b) in der Regel von europäischen oder europäisierten Imperien als Kernmächte des westlichen Weltsystems (c) mit dem Ziel der (Re-)integration von abhängigen Gebieten an der Peripherie unmittelbar in das eigene Imperium und damit mittelbar in das Weltsystem“ geführt wurden und dabei „(d) transkulturelle, (e) asymmetrische, (f) zeiträumlich entgrenzte, (g) irreguläre, (h) totale und (i) enthegte“ Formen annahmen (S. 19).1

Erreicht wird mit diesem ausdifferenzierten begrifflichen Gerüst eine kontrollierte Ausweitung möglicher Vergleichsfälle, da nun auch imperiale Kriege vor und nach dem Beginn der Epoche des europäischen Hochimperialismus in den Blick geraten, die nicht in erster Linie auf die territoriale Beherrschung abhängiger Territorien zielten. In der ersten Sektion des Bandes „Abgrenzungen“ wird die Tragfähigkeit zentraler Bestandteile dieser Definition in empirischen Fallstudien sogleich noch einmal überprüft und bis an ihre Grenzen ausgelotet. Fokussiert man nämlich, wie Cord Eberspächer mit seinem Beitrag zur militärischen Expansion der Qing-Dynastie (1644–1911) oder Kerstin S. Jobst zum transkontinentalen Ausgreifen des russischen Zarenreiches verdeutlichen, nicht nur auf die Integration peripherer Gebiete in das „westliche“ Weltsystem, so treten beim Vergleich zwischen den von ihnen behandelten Fällen und den imperialen Kriegen des 19. Jahrhunderts in Übersee überraschend deutliche Parallelen hervor, wie vor allem die grundlegenden logistischen und geographischen Herausforderungen der jeweiligen Konflikte, ihre strukturelle Asymmetrie oder die Wahrnehmung unüberbrückbarer „zivilisatorischer“ Differenz zwischen den Kriegsparteien. Fasst man zudem das Merkmal der Transkulturalität nicht als zwingendes Ausschlusskriterium auf bzw. betrachtet die Wahrnehmung kultureller Differenz im historischen und kontextuellen Wandel, so lassen sich auch Fälle wie der amerikanische Unabhängigkeitskrieg (Dierk Walter), die Beherrschungs- und „Zivilisierungs“-aufgaben der napoleonischen Gendarmerie (Michael Broers) oder die österreichisch-ungarische Besatzung Montenegros im Ersten Weltkrieg (Heiko Brendel) äußerst fruchtbar mit dem vorgeschlagenen Idealtypus „Imperialkrieg“ untersuchen und miteinander vergleichen.

Von der Fallauswahl etwas weniger weit gespannt präsentiert sich die zweite thematische Sektion zum „Charakter der Kriegführung“, die außer dem meist nur aus Mario Vargas Llosas Roman „Der Krieg am Ende der Welt“ bekannten Feldzug gegen die von dem Wanderprediger Antônio Vicente Mendes Maciel angeführte messianische Aufstandsbewegung im brasilianischen Canudos 1896/97 (Gerhard Wiechmann) vor allem konventionellere Fälle imperialer Kriege im 19. und 20. Jahrhundert behandelt. Im Zentrum der Beiträge zum britischen Feldzug gegen die Burenrepubliken (Andreas Rose), den spanischen Antiguerilla-Operationen auf Kuba (Andreas Stucki) und der Umsiedlungspolitik während des französischen „guerre révolutionnaire“ in Algerien (Moritz Feichtinger) steht die Unterscheidung und Trennung von Bevölkerung und Aufständischen als zentrale militärische Herausforderung asymmetrischer Kriege. In allen behandelten Konflikten und teilweise in wechselseitigen Transferprozessen wurden zu diesem Zweck großangelegte Internierungs- und Umsiedlungsprojekte initiiert, die sich in steigendem Maße mit der Vision einer „Zivilisierung“ der nun dem sozialreformerischen Zugriff der Kolonialmacht ausgelieferten indigenen Bevölkerung verbanden und durch den Ausbau von Infrastruktur und Bildungswesen deren Loyalität sichern sollten. „Der unbedingte Glaube an die Manipulierbarkeit der ‚indigenen‘ Zivilbevölkerung führte dabei“, wie Moritz Feichtinger feststellt, „so weit, dass massive Gewalt und humanitäres Elend als notwendige Bedingungen für ‚Fortschritt‘ und ‚Entwicklung‘ gerechtfertigt wurden“ (S. 278). Eine weitgehend vernachlässigte Perspektive auf die zuletzt vielfach behandelten deutschen Kolonialkriege in Deutsch-Südwest- und Deutsch-Ostafrika stellen dann Matthias Häußler und Tanja Bührer vor, indem sie für beide Fälle die Verschränkung lokaler Gewaltmärkte und -kulturen mit Waffen- und Kriegführungstechnik der kolonialen Eroberer hervorheben. So beeinflusste etwa die aus vorkolonialer Zeit überkommende Logik der Kriegführung der Herero maßgeblich den Verlauf des Kolonialkrieges in Südwestafrika von 1904 bis 1907. Ebenso prägten lokale Formen der Kriegführung und die Einbindung afrikanischer Gewaltakteure als Hilfstruppen die Auseinandersetzungen in Ostafrika, da sich die deutsche Schutztruppe auch hier gezwungen sah, „Teile der Grammatik, wenn auch nicht die Logik der afrikanischen Kriegführung“ zu übernehmen (S. 214).

Systematisch auf die „Träger der Kriegführung“ stellt der dritte Teil des Bandes ab, der wiederum eine Reihe bisher weniger bekannter Fälle imperialer Kriege vorstellt. Im Mittelpunkt der Beiträge steht mehrheitlich die transkulturelle Begegnung innerhalb der auf den entsprechenden Kriegsschauplätzen für die Imperialmacht kämpfenden Verbände. Die Zusammensetzung der jeweiligen Truppen hatte auch hier Auswirkungen auf die Art und das Ausmaß der Gewaltanwendung, etwa als 1762 nach der Eroberung Manilas die extrem heterogen zusammengesetzten britischen Truppen, die aus regulären Regimentern der Krone, Soldaten der East India Company, indischen Sepoys, Irregulären und Seeleuten bestanden, außer Kontrolle gerieten, und die Stadt plünderten. Dass er nicht im Stande sein würde, seine Untergebenen im Zaum zu halten, hatte der britische Befehlshaber allerdings bereits vor der Einnahme der Stadt dem spanischen Gouverneur drohend angekündigt, um diesen zur kampflosen Aufgabe zu bewegen (Marian Füssel). Hier wie etwa auch im Falle der in den nordamerikanischen Kolonien bzw. den Vereinigten Staaten zwischen 1676 und 1850 immer wieder neu aufgestellten irregulären Einheiten der „Rangers“, die sich bewusst den asymmetrischen Kriegsformen der amerikanischen Ureinwohner anpassten und diese so erfolgreich bekämpften (Stephan Maninger), wird die Duldung enthegter Gewalt an der Peripherie der Imperien deutlich, die mit der angeblichen „Wildheit“ der indigenen Verbündeten gerechtfertigt, tatsächlich aber auch oftmals bewusst zur Abschreckung und Brechung von Widerstand eingesetzt wurde. Indirekt lässt sich an den Beiträgen dieses Abschnitts auch der historische Trend zur zunehmenden Homogenisierung der europäischen Streitkräfte unter nationalen Vorzeichen ablesen. Denn während noch gegen Ende des 18. Jahrhunderts etwa der Einsatz deutscher Hilfstruppen aus Hessen, Hannover oder Württemberg in den Kriegen des Britischen Empire in Nordamerika oder Indien ganz selbstverständlich war (Chen Tzoref-Ashkenazi), stellte hundert Jahre später nur noch die französische Fremdenlegion einen „transkulturellen Erfahrungsraum“ unter den europäischen Armeen dar (Christian Koller).

Fast vollständig widersteht der Band der naheliegenden Versuchung, die Geschichte imperialer Kriege vor allem in applikatorischer Absicht zu schreiben und über Zeit- und Kontextunterschiede hinweg aus historischen Vergleichsfällen „Lehren“ für aktuelle Konflikte zu ziehen. Vielmehr wird das Problem „Lernen aus Imperialkriegen“ selbst im abschließenden vierten Teil kritisch reflektiert und danach gefragt, warum trotz der reichhaltigen und Jahrhunderte zurückreichenden Gewaltgeschichte der europäischen Expansion die Lektionen im Umgang mit asymmetrisch kämpfenden Aufstandsbewegungen immer wieder neu gelernt werden mussten. Eine Teilantwort zieht sich durch alle Sektionen des Bandes: obwohl während des vorgeblich friedlichen 19. Jahrhunderts imperiale Kriegseinsätze für die meisten europäischen Armeen die einzige Möglichkeit zum praktischen Einsatz boten, erreichte diese Konfliktform nie das Prestige „echter“, das heißt konventioneller Kriege zwischen hochgerüsteten Staaten und verwurzelte sich daher kaum im institutionellen Gedächtnis der Streitkräfte. Aber auch wenn, wie im Falle Frankreichs – mit dessen imperialen Kriegserfahrungen seit dem Ausgreifen nach Algerien 1830 sich in diesem Abschnitt mehrere Beiträge mit einer gewissen Redundanz befassen – eine lange Tradition imperialer „counterinsurgency“ vorhanden war und mit der Theorie des „guerre révolutionnaire“ auch eine geschlossene Handlungsanleitung zur Verfügung stand, verbürgte das Lernen aus vorangegangenen Kriegen alleine noch keinen Erfolg. Trotz aller offensichtlichen Ähnlichkeiten zwischen zeitlich weit auseinander liegenden Konflikten auf taktischer Ebene veränderten sich nach dem Zweiten Weltkrieg die politisch-strategischen, wie auch die normativen Rahmenbedingungen imperialer Kriegführung merklich, etwa durch eine zunehmend globalisierte, kritische Medienöffentlichkeit und die Erwartung der Einhaltung menschenrechtlicher Standards auch gegenüber der Bevölkerung in Kolonien und abhängigen Gebieten. Zudem müssen Institutionen, wie Erik Fischer in seinem Schlussbeitrag herausarbeitet, auch zum Lernen bereit sein. In den amerikanischen Streitkräften allerdings setzte sich nach dem Desaster in Vietnam trotz durchaus reichhaltig vorhandener kritischer Reflexionen der eigenen Fehler in den 1980er-Jahren eine Haltung durch, die irreguläre Konflikte außerhalb der normalen Betätigungsfelder der US-Armee verortete und daraus die Konsequenz zog, einen „solchen Krieg künftig unter allen Umständen zu vermeiden!“ (S. 520). Durch die derart festgeschriebene, bewusste Weigerung, aus dem Vietnamkrieg Lehren für folgende Konflikte zu ziehen, wurden Fehleinschätzungen und Rückschläge wie in Somalia, Afghanistan und im Irak mit vorbereitet.

Ein abschließendes Fazit zu Wert und Reichweite der hier gezogenen Vergleiche und des eingangs entwickelten begrifflichen Instrumentarium wird nicht gezogen. Auffallend bleibt, dass der überwiegende Teil der Beiträge trotz der höheren Inklusivität, die mit dem Begriff des „Imperialkrieges“ gegenüber dem engeren „Kolonialkrieg“ erreicht worden ist, weiterhin Konflikte behandelt, die während des imperialen 19. Jahrhunderts von westlichen Staaten außerhalb der Grenzen Europas geführt wurden. Fälle wie die amerikanische oder die russische Kontinentalexpansion oder von nicht-europäischen Mächten geführte Imperialkriege werden zwar berücksichtigt, firmieren aber ebenso als „Grenzfälle“, wie etwa asymmetrische Auseinandersetzungen im Ersten Weltkrieg, während der Zweite Weltkrieg gar nicht und die Zeit nach 1945 in erster Linie unter rezeptionsgeschichtlichen Aspekten, also wiederum im Hinblick auf das Lernen aus früheren Kriegen, behandelt wird. Gegenüber diesem Festhalten am Kernphänomen der „europäischen Expansion“ ließe sich über weitergehende begriffliche Modifikationen nachdenken, die im Einklang mit der neueren Imperienforschung etwa die Abgrenzung zwischen kontinentaler und maritimer Expansion hinterfragen und weitere diachrone Vergleiche, insbesondere mit anderen asymmetrischen Konflikten der jüngeren Geschichte, ermöglichen. Der Band „Imperialkriege von 1500 bis heute“ eröffnet derartige künftige Perspektiven und demonstriert eindrucksvoll das Erkenntnispotential begriffsgeleiteter, empirisch vergleichender Forschung. Auf Grund seiner beeindruckenden Reichhaltigkeit, der hohen Qualität der einzelnen Aufsätze und der konsequenten Orientierung der Beiträge an Begriffsdefinition und Vergleichsansatz der Herausgeber stellt er darüber hinaus eine anregende, geradezu handbuchartige Einführung in das Themenfeld imperiale Kriegführung dar.

Anmerkung:
1 Zum engeren Begriff „Kolonialkrieg“ vgl. Dierk Walter, „Warum Kolonialkrieg?“, in: Thoralf Klein / Frank Schumacher (Hrsg.), Kolonialkriege. Militärische Gewalt im Zeichen des Imperialismus, Hamburg 2006, S. 14–43.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/