D. Satter: It Was a Long Time Ago, and It Never Happened Anyway

Cover
Titel
It Was a Long Time Ago, and It Never Happened Anyway. Russia and the Communist Past


Autor(en)
Satter, David
Erschienen
Anzahl Seiten
383 S.
Preis
$ 29.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ivo Mijnssen, Departement Geschichte, Universität Basel

David Satter interessiert sich dafür, zu welchen gesellschaftlichen und politischen Folgen die versäumte Aufarbeitung der eigenen Geschichte in Russland geführt hat. In teils journalistischem, teils akademischem Stil zeichnet er ein höchst kritisches Bild der russischen Geschichte und des gegenwärtigen Zustands des Landes. Anderes war nicht zu erwarten, ist Satter doch als scharfer Kritiker von Wladimir Putin bekannt und beschuldigte diesen unter anderem, hinter den Angriffen auf Wohnhäuser im Jahr 1999 zu stehen. In seinem neuen Buch will Satter nun zeigen, dass der zynische Umgang des Staates mit dem Leben seiner Bürger tiefe historische Wurzeln hat.

Weder Gesellschaft noch Staat im heutigen Russland kümmerten sich um das Gedenken an die Opfer des Kommunismus, schreibt Satter: „Russia as a country has not been willing to face the full truth about Communism“ (S. 2). Stattdessen herrsche eine Kultur des Vergessens, der Gleichgültigkeit und der Straflosigkeit für die Schuldigen vor. Gleichzeitig beobachtet Satter die schleichende Rehabilitierung Stalins. Neu ist seine Feststellung, dass Russland einen problematischen Umgang mit der stalinistischen Vergangenheit pflegt, nicht. Die einschlägigen Arbeiten werden von Satter jedoch nicht rezipiert.1

Zudem geht er einen Schritt weiter als die meisten wissenschaftlichen Arbeiten: „The failure to memorialize the victims of Communist terror has contributed to the moral corrosion of Russian society“, schreibt er (S. 6). Als Beleg führt er den Fall eines jungen Betrunkenen auf, der in einen Müllwagen geriet. Aufgrund der Gleichgültigkeit der Notrufzentrale wurde er am Ende von den Müllpressen zermalmt, trotz wiederholter Hilferufe. Satter kontrastiert die Stellung des Individuums in Russland mit jener im Westen: Während in Russland der Einzelne ein Mittel zur Erreichung der politischen Ziele des Staates sei, werde sein Leben im Westen als Zweck an und für sich respektiert. Dieser zuweilen an die Rhetorik des Kalten Krieges erinnernden Dichotomie zufolge sei der mangelnde Respekt vor dem Individuum dafür verantwortlich, dass die russische Gesellschaft anfälliger für politischen Extremismus sei (S. 304f.).

Diese These wird in den 14 Kapiteln des Buches durchdekliniert. In einer Tour de Force durch die russische Geschichte konzentriert sich Satter auf die dunkelsten Kapitel der Sowjetzeit. Nach einer Diskussion der relevanten Sekundärliteratur über die verschiedenen Verbrechen des Stalinismus beschreibt Satter Kapitel für Kapitel den Prozess der Aufarbeitung. Ergänzt wird die Analyse durch journalistische Beschreibungen der Lokalitäten, und durch Interviews mit Politikern, Aktivisten und Zeitzeugen.

Satter verweist dabei überzeugend auf ein generelles Muster: Auf das Verschweigen oder die Verharmlosung stalinistischer Verbrechen bis Mitte der 1980er-Jahre folgte die politische Konfrontation im Rahmen von Glasnost und Perestroika. Die Einführung des „Raubtierkapitalismus“ und der wirtschaftliche Niedergang in den 1990er-Jahren führten jedoch dazu, dass das Interesse am Stalinismus abnahm (S. 40). Die fortgesetzte ökonomische Krise schuf die Grundlagen für die entstehende Sowjetnostalgie und die Großmachtambitionen unter Putin (S. 23).2

Für diese Wiederentdeckung von Russlands „Größe“ ist eine positive Darstellung der sowjetischen Geschichte unabdingbar. Der Grund dafür liege darin, dass Russland und die UdSSR „the same political tradition“ teilen würden (S. 209). Dabei handle es sich um eine „quasi-deification of the Russian state“ (S. 173), die Staatsinteressen immer Vorrang vor anderen gesellschaftlichen Ansprüchen einräumen würde.

In mehreren Kapiteln diskutiert Satter anhand von russischen und sowjetischen Autoren wie Tschaadajew, Dostojewski, Berdjajew und Solschenizyn die tief liegenden Wurzeln dieses Staatsverständnisses. Der auch unter Intellektuellen und Künstlern verbreitete Glaube an die Mission des russischen Staates führe dazu, dass Russland die Verbrechen des Kommunismus nicht anerkenne (S. 186).

In Satters Narrativ bestätigen auch die Ausnahmen diese Regel. Die De-Stalinisierungen unter Chruschtschow und Gorbatschow sieht er als von politischen Motiven geprägt: Chruschtschow habe in erster Linie seine Rivalen loswerden wollen (S. 116), Gorbatschow versuchte, den Widerstand gegen seine Reformen zu brechen (S. 38). Eine differenziertere Betrachtung der Wechselwirkungen der russischen und sowjetischen Geschichtspolitik jenseits von politischem Opportunismus findet bei Satter kaum Platz.3

Dennoch produzierten die temporären Öffnungen der autoritären politischen Systeme Russlands und der UdSSR die eigentlichen Helden von Satters Buch: die Aktivisten, die sich unter großem persönlichen Einsatz auf eigene Faust oder innerhalb von Organisationen wie Memorial gegen das Vergessen wehren. Die reportageartigen Passagen über Besuche in Butowo, Kommunarka, Workuta und Katyn gehören zu den lesenswertesten Stellen des Buches. Satter beschreibt kenntnisreich die komplexen lokalen Aushandlungsprozesse um den Umgang mit der stalinistischen Vergangenheit. Diese subtilen Einsichten hätte er häufiger auf seine etwas plakativen Hauptthesen übertragen können.

Das Beispiel des NKWD-Schießplatzes in Butowo bei Moskau zeigt die Komplexität dieses Prozesses auf. Satter erzählt, wie Aktivisten von Memorial seit den 1980er-Jahren gegen den Widerstand des KGB versuchten, die 20.000 Opfer aus dem Großen Terror zu identifizieren. Ihre Bemühungen führten dazu, dass die Regierung Informationen freigab. Forderungen nach der Erstellung eines offiziellen Denkmals lehnte sie ab. Da in Butowo auch Hunderte von Priestern erschossen wurden, errichtete die Orthodoxe Kirche ein Denkmal. Die Gedenkstätte wird deshalb heute in Russland primär religiös gedeutet. Satter beurteilt diesen Prozess negativ, da sich der russische Staat hier aus seiner historischen Verantwortung stehle (S. 69). Hier könnte man jedoch einwerfen, dass in Butowo die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Stalinzeit immerhin stattfindet. Diese nur am deutschen Umgang mit der Nazi-Vergangenheit zu messen, wie Satter dies tut (S. 5), erscheint kurzsichtig.4

Dennoch kritisiert Satter zu Recht den Unwillen des russischen Staates, sich seiner historischen Verantwortung zu stellen. So eindeutig wie von Satter dargestellt ist die Sachlage jedoch nicht: So klammert Satter die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg aus. Der Umgang damit hätte Satters These zwar nicht verworfen, aber zumindest relativiert: Bei aller Idealisierung dieser Erinnerung hätte Satter zumindest die Aussage, dass es im russischen Bewusstsein keinen Platz für tragische Erinnerungen gebe (S. 5), hinterfragen müssen.5

Zudem hätte man sich eine nuanciertere Diagnose der russischen Gesellschaft gewünscht. So ist es problematisch, dass Satter diese kollektiv als moralisch korrumpiert darstellt (S. 6). Er tendiert dazu, analytisch nur unscharf zwischen Gesellschaft und Staat zu unterscheiden. Seiner Schlussfolgerung, dass die Gesellschaft weiterhin von der Vergangenheit heimgesucht wird, von den „words that have been left unsaid […], and mass graves that have been commemorated partially or not at all“ (S. 300), ist dennoch zuzustimmen. Wie sich die Folgen dieser Heimsuchung soziologisch und analytisch fassen lassen, wird weiterhin Anlass zu Diskussionen geben. Satters Buch trägt hoffentlich dazu bei, ein Publikum über die Fachkreise hinaus dafür zu interessieren.

Anmerkungen:
1 Siehe nur: Sarah Mendelson / Theodore Gerber, Soviet Nostalgia. An Impediment to Russian Democratization, in: The Washington Quarterly, Winter 2005–06 (2006), S. 83–96; Anne Applebaum, Gulag. A History, New York 2003.
2 Siehe dazu auch Lilia Shevtsova, Putin’s Russia, Washington D.C. 2003, besonders S. 71ff.
3 Lesenswert ist Thomas Sherlocks Buch: Thomas Sherlock, Historical Narratives in the Soviet Union and post-Soviet Russia. Destroying the Settled Past, Creating an Uncertain Future, New York 2007.
4 Während einer Veranstaltung in Berlin wurde betont, dass jeder Gesellschaft ein eigener Umgang mit ihrer problematischen Vergangenheit zugestanden werden sollte. Vgl. Teresa Tammer, Tagungsbericht Stalinistischer Terror in der Sowjetunion und in Osteuropa. Neue Forschungen zu Tätern – Opfern – Folgen, Teil II. 12.10.2011-08.02.2012, Berlin, in: H-Soz-u-Kult, 19.03.2012, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=4168> (19.03.2012).
5 Siehe die folgenden Ausgaben der Zeitschrift „Osteuropa“: Kluften der Erinnerung 4–6 (2005), Geschichtspolitik und Gegenerinnerung 6 (2008) und Der Hitler-Stalin-Pakt 7–8 (2009).

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