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Titel
Ereignisgeschichten. Zeitgeschichte in literarischen Texten von 1968 bis zum 11. September 2001


Autor(en)
Deupmann, Christoph
Reihe
Formen der Erinnerung 48
Erschienen
Göttingen 2012: V&R unipress
Anzahl Seiten
482 S., 14 Abb.
Preis
€ 59,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Volker Depkat, Institut für Anglistik und Amerikanistik, Universität Regensburg

Wie kann die Gegenwartsliteratur angesichts eines durch fotografische und filmische Bilder geprägten Gedächtnisses von Ereignissen der Zeitgeschichte erzählen, ohne die immer schon bekannten Fakten und Bilder bloß noch einmal nachzuerzählen? Welche Verfahren der Literarisierung stehen Autoren im Kontext einer überwiegend visuellen Wahrnehmung des Historischen zur Verfügung, um von zeitgeschichtlichen Ereignissen autonom und ästhetisch frei zu erzählen? Welche narratologischen und ästhetischen Konsequenzen hat die Tatsache, dass die Autoren der Gegenwartsliteratur immer schon voraussetzen können, dass ihr Lesepublikum im Informations- und Medienzeitalter nicht nur über die Ereignissen der Zeitgeschichte bestens informiert ist (oder informiert zu sein glaubt), sondern diese Informationen primär durch Bilder vermittelt bekommen hat? Solche Fragen führen zum Kern der hier angezeigten literaturwissenschaftlichen Studie, die 2010 von der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaft des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) als Habilitationsschrift angenommen wurde. Sie ist für Zeithistorikerinnen und -historiker in hohem Maße relevant, weil sie, obwohl primär literaturtheoretisch ausgerichtet und alles andere als leichte Kost, vielfältige Anknüpfungspunkte für das Problem der Darstellung von Zeitgeschichte unter den Bedingungen des Informations- und Medienzeitalters enthält. Darüber hinaus spricht sie Grundfragen der Narrativität von Geschichte an und erweitert den Problemhorizont um die Dimension des Visuellen.

Christoph Deupmann geht in zwei Schritten vor. Zunächst erörtert er die geschichtstheoretischen, mediologischen und poetologischen Voraussetzungen der Literarisierung zeitgeschichtlicher Ereignisse. Dann analysiert er in einer Reihe von Textinterpretationen, wie sich Schriftsteller zumeist der deutschen Gegenwartsliteratur mit zentralen Ereignissen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts literarisch auseinandergesetzt haben. Konkret geht es um 1968 mit Fokus auf Vietnam, den Deutschen Herbst 1977, die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl 1986, den Mauerfall vom 9. November 1989, die postjugoslawischen Kriege (1992–1999) und schließlich um die terroristischen Angriffe auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. September 2001.

Überaus anregend und theoretisch sehr informiert sind die Erörterungen des ersten Teils, der die systematischen und historischen Bedingungen zeitgeschichtlichen literarischen Erzählens darlegt. Hier wird zunächst der Begriff des zeitgeschichtlichen Ereignisses in Anlehnung an Walter Benjamin als „Chock“, also als Einbruch in die kontinuierliche Ordnung historischer Zeit geschichtstheoretisch und philosophisch präzisiert. Immer schon medial konfiguriert, bieten zeitgeschichtliche Ereignisse als Diskontinuitätserfahrung demnach sowohl potentiell Erzählanlässe als auch den Gegenstand von Erzählungen. Sehr aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen zu „Ereignis und Struktur“, die deutlich machen, dass einerseits Strukturen per se „nicht erzählt, sondern allenfalls beschrieben oder rekonstruiert“ werden können, andererseits aber in der Erzählung von Ereignissen durchschimmern können (S. 35).

Anschließend wird die historische Poetik der Zeitgeschichts-Darstellung reflektiert. Diese stellt Deupmann in ein Spannungsfeld, das geprägt ist von der Konkurrenz der Informationsmedien, dem daraus resultierenden Informationsvorsprung des Publikums und der daran gekoppelten steigenden Intoleranz gegenüber der Fiktion, die sich über Faktisches hinwegsetzt. Dieser Kontext habe, so der Autor, den Raum der Poesie und der literarischen Imagination grundsätzlich immer kleiner werden lassen, ohne jedoch, und das ist der Kern der Argumentation dieses Buches, das literarische Erzählen von zeitgeschichtlichen Ereignissen gänzlich unmöglich zu machen (S. 101–108). Deupmanns Argumentation ist zwar grundsätzlich plausibel, doch ist die Opposition von literarischer Imagination und der unterstellten Faktizität der in den modernen Informationsmedien repräsentierten Geschichte vielleicht etwas zu starr. Als Zeithistoriker würde man dem entgegenhalten, dass auch in historischen Fernsehdokumentionen à la Guido Knopp, ganz zu schweigen von Geschichtsfilmen und Dokudramen, vieles filmisch imaginiert wird, wofür es tatsächlich keine Belege gibt, und darüber hinaus das Faktische oft ausgeschmückt und dramatisiert wird, um eine ‚gute Geschichte‘ zu erzählen, die beim (Fernseh-)Publikum ankommt.

Im Anschluss an die Poetik der Zeitgeschichte wird das Apriori der technischen Bilder als Problem der Literarisierung von Zeitgeschichte reflektiert. Von welchen zeitgeschichtlichen Ereignissen literarische Texte auch immer erzählen mögen, die fotografischen und filmischen Bilder seien immer schon da. Diese Omnipräsenz der technischen Bilder führe zu einem grundlegenden Umbau des kollektiven Gedächtnisses, weil sie „eine Sphäre kollektiver Erinnerung im Modus der Anschaulichkeit“ entstehen lasse, „welche die vormals an die physische Anwesenheit gebundene Augen- und Ohrenzeugenschaft aufhebt“ (S. 130). Zeitgenossenschaft konstituiere sich im 20. Jahrhundert deshalb „nicht zuletzt durch gemeinsamen Bezug auf dieselben technisch vermittelten Bilder“. Die modernen Massenmedien hätten die Wirkung von „Simultaneitätsmaschinen“, die das individuelle und das kollektiv-mediale Gedächtnis ineinander verschwimmen ließen (S. 131f.).

Im Kontext der modernen Informations- und Mediengesellschaft steckt die Belletristik deshalb in einer Zwickmühle: Liefert ein Roman nicht mehr als ein Nachrichtenmagazin und nur die ohnehin schon bekannten Bilder, dann ist er kein guter Roman; entfernt er sich zu weit von den medial aufbereiteten Fakten der Zeitgeschichte, dann verliert er seine „Welthaltigkeit“ und stellt nicht mehr zeithistorische menschliche Wirklichkeit dar. Es könnte deshalb so scheinen, meint Deupmann, dass das literarische Erzählen von zeitgeschichtlichen Ereignissen ein Ding der Unmöglichkeit geworden sei, doch genau dagegen argumentiert er mit seinem Buch an: „Bis in die Gegenwart hinein sind zeitgeschichtliche Ereignisse als Anlässe literarischen Erzählens wahrgenommen worden. [...] Dass Geschichte ‚in Bilder zerfällt‘, wie Benjamin schrieb, bedeutet daher nicht das Ende narrativer Diskursivierungen von Ereignissen und Geschichte.“ (S. 143) Ganz im Gegenteil – Deupmann liest seine literarischen Texte als Erinnerungsorte im Kontext der Entfaltung eines kollektiven zeithistorischen Gedächtnisses und macht sie damit selbst zu Fakten der Zeitgeschichte (S. 151).

Seine These löst Deupmann im zweiten Teil der Studie insgesamt überzeugend ein. Er analysiert dort exemplarisch ausgewählte Texte, die sich einerseits „auf zeitlich und räumlich terminierte, außerliterarisch dokumentierte, medialisierte und technisch visualisierte Ereignisse beziehen“ (S. 148) und zugleich von ihnen veranlasst wurden. Die „im Horizont medien-, bild- und kulturwissenschaftlicher Überlegungen“ stehenden Textinterpretationen zeigen, wie der „Rekurs der Texte auf ihre bildmediale ‚Umwelt‘ selbst zu den Bedingungen ihrer eigenen Literarizität [geschieht], also durch genau zu beschreibende ästhetische Verfahren“ (S. 145).

Die Ergebnisse der einzelnen Textanalysen und -interpretationen sind zu reichhaltig, komplex und vielgestaltig, als dass sie hier auch nur ansatzweise zusammengefasst werden könnten. Das hat allerdings auch damit zu tun, dass die über weite Strecken im poststrukturalistischen Duktus gehaltene Darstellung nicht immer stringent durchargumentiert, sondern oft assoziativ zwischen Autoren und Epochen der Literaturgeschichte hin und her springt, wobei wiederholt eingeflochtene „Exkurse“ die Hauptlinien der Argumentation etwas verunklaren. Trotz dieser Erschwernisse werden die Hauptthesen jedoch insgesamt deutlich. Demnach sind die Omnipräsenz der fotografischen und filmischen Bilder sowie der Primat des visuell konditionierten zeithistorischen Gedächtnisses unhintergehbar; dies definiert eine zentrale Produktions- und Rezeptionsbedingung für die literarische Auseinandersetzung mit Ereignissen der Zeitgeschichte. Daher problematisieren die Autoren in der Literarisierung von Zeitgeschichte besonders das Problem des Realen in den Bildern und jenseits der Bilder, das eben durch die medial konfigurierte und präparierte Repräsentation zeitgeschichtlicher Ereignisse fragwürdig geworden ist. So entfaltet sich die literarische Auseinandersetzung mit Ereignissen der Zeitgeschichte immer zugleich als Reflexion über die Grenzen des in den Bildern Dargestellten. Dabei dringt die literarische Imagination bevorzugt auch in die medial nicht ausgeleuchteten Schauplätze und Räume zeitgeschichtlicher Ereignisse vor und schildert beispielsweise die Situation in dem von Terroristen entführten Flugzeug „Landshut“ oder versetzt sich in die Lage der Menschen im World Trade Center am 11. September 2001. Gerade dadurch verteidigt sie ihre von der Bilderflut eingeengte Autonomie und erschließt sich den „Raum zeitgeschichtlicher Wirklichkeit und Erinnerung erneut als ästhetischen Spielraum“ (S. 433).

Insgesamt liefert Christoph Deupmanns große Studie neben vielfältigen Einsichten in die untersuchten literarischen Texte selbst viele geschichts-, erzähl- und medientheoretische Denkanstöße, die auch für die Geschichtswissenschaft relevant sind. Es werden Dimensionen des Problems der Narrativität in der Historiographie erschlossen, die weit über den bei Historikerinnen und Historikern üblichen Rekurs auf Hayden White hinausgehen und die zugleich den Zusammenhang von Narrativität und Visualität für die Zeitgeschichte reflektieren. Die Lektüre ist zwar mühsam, aber sie lohnt sich.