In Arno Schmidts erster Erzählung „Leviathan“ von 1949 flüchtet sich in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs eine Gruppe versprengter Deutscher, unter ihnen der Erzähler, in einen Eisenbahnwaggon. Es gelingt, den Zug in Bewegung zu setzen, an dessen Ende ein Schwellenreißer hängt, der die Gleise im Fahren zerstört. Dann rollt die kleine Bahn auf eine Brücke, deren vorderer Teil zusammenbricht. Der Zug kann weder vor noch zurück, und die feindlichen Granatwerfer schießen sich auf das Ziel ein. Im Innern des Waggons erklärt der Erzähler einem sterbenden alten Mann seine Philosophie der Welt: vom dämonischen Leviathan, der die Welt nicht beherrscht, sondern selber die Welt ist und sich mal als Universum entfaltet, mal punktförmig zusammenzieht, im ewigen Wechsel: „unbegrenzt, aber nicht unendlich“. Die Notizen dieses Gesprächs, die der Leser vor sich hat, wirft der Erzähler am Ende von der Brücke – „voran“.
Schmidts Erzählung wird in Hans Ulrich Gumbrechts neuem Buch „Nach 1945. Latenz als Ursprung der Gegenwart“ nicht zitiert. Dennoch markiert sie in konzentrierter Form zentrale Aspekte, die Gumbrecht an anderen Autoren verdeutlicht (Beckett, Heidegger, Schmitt, Camus, Arendt und viele mehr), an alltags- und populärkulturellen Quellen, an zeitgeschichtlichen Beobachtungen und nicht zuletzt anhand seiner eigenen Biographie: Menschen in einem geschlossenen Raum, den sie nicht verlassen können, der ihnen aber auch keinen Schutz bietet, der Weg vor ihnen und hinter ihnen zerstört, ein Waggon, der still steht, weil die Welt um ihn herum entgleist, ein bloßer Behälter für letzte Fragen und Spekulationen. Das sind auch für Gumbrecht die wesentlichen Konturen des Denkens im ersten Nachkriegsjahrzehnt, Leitmotive und Stimmungen einer zeitlosen Zeit, die Gumbrecht als den eigentlichen Ursprung unserer Gegenwart identifiziert: Latenz. Am besten lässt sich, was Gumbrecht Latenz nennt, als eine neue und besondere Form historischer Erfahrung umschreiben, die den nachfolgenden Gegenwarten, obgleich sie massiv von ihr geprägt sind, prinzipiell unverfügbar bleibt. Latenz ist für Gumbrecht das Grundcharakteristikum eines „neuen Chronotopen“, eines neuen, nach-historischen Zeitbewusstseins, dem die Geschichte, der es selber entstammt, nur in Ersatzformen greifbar ist.
Drei Konfigurationen dieses Zusammenhangs stehen im Zentrum des Buches: Eine „Eingangs- wie Ausgangslosigkeit“, die jedes wirkliche Vorankommen verhindert, ein grundlegendes Gefühl der „Unwahrhaftigkeit“ der Welt, das immer neue Befragungsprozeduren auslöst, und schließlich das Gefühl einer fundamentalen „Entgleisung der Geschichte“, vor der man sich in „Behältern“, in Hohlräumen, Gefäßen und Formen in Sicherheit zu bringen sucht. In den drei zentralen Kapiteln trägt Gumbrecht Belege und Beobachtungen für diese Motivik zusammen. So zieht sich das Motiv des gleichzeitigen Ein- und Ausschlusses wie ein roter Faden durch die „Intellectual History“ der Jahrhundertmitte. Sartres „Das Sein und das Nichts“, Borcherts „Draußen vor der Tür“ und Rossellinis „Deutschland im Jahre Null“ weist Gumbrecht ebenso als Variationen dieses Motivs aus wie Faulkners „Requiem für eine Nonne“, Heideggers und Jüngers Reflexionen zur „Linie“ oder Benns Nachkriegslyrik – und immer wieder Becketts „Warten auf Godot“. Zeiterfahrung, so Gumbrecht, übersetzte sich im Denken der Nachkriegszeit in eine Räumlichkeit, deren Grenzen zwar ständig zurückweichen, ohne dabei aber eine wieder offene Zukunft herzustellen. Auch heute ist dieser Raum nach Gumbrecht noch lange nicht überwunden, was den Nachkrieg zum „Ursprung der Gegenwart“ macht. Zeit vergeht weiterhin und oftmals beschleunigt, doch Geschichte, so wie wir sie immer noch zu denken versuchen, findet nicht mehr statt.
Ohne dass Gumbrecht dies explizit sagt, will sein Buch damit so etwas wie eine Urgeschichte der Postmoderne oder der Posthistoire sein; immerhin weist Gumbrecht am Ende Jean-François Lyotard als denjenigen Philosophen aus, der ihn am stärksten „herausgefordert und beeindruckt“ habe (S. 306). In der Logik seiner Historisierungsbemühung aber müssten die Zeitdiagnosen, die wir mit den Begriffen Postmoderne oder Posthistoire verbinden, noch selber als Versuche angesehen werden, einen begrifflichen Behälter für eine Latenz zu finden, die seit 1945 in der Welt ist.
Denn diese Latenz als eine neue Art von Zeiterfahrung provoziert laut Gumbrecht immer neue Formen der Befragung einer Wirklichkeit, die unter prinzipieller Unwahrheitsvermutung steht – daher die Dominanz und merkwürdige Allianz eines radikalen erkenntnistheoretischen Zweifels an der Wirklichkeit und ihrer gleichzeitig umfassenden sozialwissenschaftlichen Vermessung und Verwaltung seit 1945. Solche Befragungen kulminieren nach Gumbrecht schließlich in dem Gefühl, dass die Geschichte entgleist sei, was wiederum zur neuen Suche nach sicheren Räumen, nach Schutz gewährenden „Behältern“ führt: „Kein Ausgang/kein Eingang und Unwahrhaftigkeit/Befragungen [erzeugen] zusammen ein Gefühl des Staus und der Zirkularität, während Entgleisung als Reaktion darauf und als Interpretation dieses Gefühls erscheint – und die Sehnsucht nach Behältern wird zum Traum, davon erlöst zu werden.“ (S. 236) An diesem Punkt hat Gumbrecht schon so viele Belege angeführt, dass diese scheinbar kryptischen Formulierungen dem Leser in der Tat als Beschreibung der geistigen Grundsignatur des ersten Nachkriegsjahrzehnts und damit auch des Ursprungs unserer Gegenwart plausibel erscheinen. Denn die Grundmotive sind nicht nur Interpretamente Gumbrechts, sondern wiederkehrende Leitmotive des Denkens im Nachkrieg. Und die generalisierende Zuspitzung, die sie bei Gumbrecht erfahren, regt trotz des hohen Abstraktionsgrads, den seine Formulierungen oft annehmen, zum Weiterdenken an; sie schlägt unvermutete Breschen ins Dickicht dessen, was wir Zeitgeschichte nennen. Vieles von dem, was in den ersten 10 bis 15 Jahren nach 1945 die Gemüter bewegte, die Kultur und das Denken prägte, aber auch so manche Phänomene von heute erhalten durch Gumbrechts Umschreibungen der Latenz einen strukturellen Interpretationszusammenhang, den weiter zu verfolgen sich lohnt.
Etwas weniger überzeugend sind Gumbrechts Exkursionen ins Populäre (vor allem Presseberichte und Fernsehserien). Wenn als Beispiel für Latenz etwa ein Nachkriegspressefoto beschrieben wird, das einen Vulkan mit atompilzförmiger Wolke zeigte, dann droht der titelgebende Leitbegriff zu verwässern. Auch die eingestreuten Sequenzen zum Fernsehen und zur Alltagskultur stellen ihren Zusammenhang zum Thema der Latenz eher künstlich her. Der geringe Reflexionsgehalt solcher Quellen bedarf wohl einer anderen Lesart als derjenigen, die Gumbrecht an literarische und philosophische Texte heranträgt. Dabei verweisen seine wenigen, eher allgemeinen Überlegungen etwa zu den Medien seit 1945 darauf, dass das Populäre allemal ein Feld ist, in dem sich Latenz näher beobachten und untersuchen ließe.
Was schließlich die autobiographischen Passagen des Buches und damit besonders das letzte Kapitel angeht, so sind die Anekdoten und Überblicke (inklusive eines alten, als Faksimile angehängten Seminartexts, den der 24-jährige Gumbrecht für seinen Lehrer Hans Robert Jauß schrieb) durchaus interessant und bezeugen auch, gewissermaßen performativ, die Genealogie der Latenz als Ursprung der Gegenwart im geistigen Werden dessen, der sie jetzt theoretisch beschreibt. Eben damit bezeugen sie am Ende aber auch jenes Latente, jenes im Buch selber bis dahin latent Gebliebene, von dem Gumbrechts Reflexionen ihren Ausgang nehmen: das nicht selbst erlebte Ereignis von totaler Herrschaft und Krieg, das für Gumbrechts Generation, die wir „die 68er“ nennen, den Dreh- und Angelpunkt des Denkens bildet, gerade weil es dieser Generation stets zugleich „gegenwärtig, beunruhigend und unzugänglich“ blieb (S. 306). Das gesamte letzte Kapitel über Gumbrechts eigene „Geschichte mit der Zeit“, das seine Biographie in die Geistesgeschichte der Latenz einwebt, zeugt von dem generationsbiographischen Dilemma, ein Ereignis zum archimedischen Punkt des eigenen Lebens zu machen, das man knapp verpasst hat (Gumbrecht ist 1948 geboren).
Die eigentliche Leistung des Buches besteht darin, dieses Dilemma in die theoretische Form der Latenz übersetzt und es so einer historisierenden, über Biographie und Generationserfahrung hinausgehenden Reflexion zugänglich zu machen. Daher – und zum Glück – kehrt Gumbrecht ganz am Ende des letzten Kapitels wieder zur Frage nach der historischen Entwicklung jenes ihn und seine Generation prägenden neuen Zeitbewusstseins und zu seinen überzeugenden geistesgeschichtlichen Quellen zurück. Sie fordern den Leser noch einmal auf, Latenz als eine übergreifende historische Grundsignatur seit 1945 zu denken. Wer immer sich aber in Zukunft mit den von Gumbrecht skizzierten Konfigurationen der Latenz beschäftigen will und dieses Thema weiter bearbeiten möchte, ist gut beraten, Gumbrechts Buch nach der intellektuell anregenden Erstlektüre noch einmal zu lesen – als Quelle.