Die ältere preußische Landesgeschichte hat mit Vorliebe ‚große Männer‘ des preußischen Staates und seiner Verwaltung untersucht und ihre Taten beschrieben. Mit diesen einzelnen, prominenten Akteuren hat sie zumeist auch gleich deren Sicht auf die Geschehnisse im Land und deren Einschätzung der Landesbevölkerung übernommen, was im Falle Pommerns zum klassischen Stereotyp der „Rückständigkeit“ geführt hat – einer „Rückständigkeit“, die zum Gesamteindruck, den man sich in der traditionellen Historiographie von Ostelbien gemacht hat, gut passte. Dirk Mellies hingegen versucht, unterschiedliche Akteure auf verschiedenen Ebenen des Staates und der Gesellschaft zu berücksichtigen, das heißt: Exponenten der oberen und unteren Verwaltungsebenen (vom Monarchen bis zum Amtmann vor Ort) und Repräsentanten aus der Vielzahl lokaler, auch außerhalb der Verwaltung stehender Akteure (vom Gutsbesitzer bis zum einfachen Landarbeiter). Er fragt nach dem Anteil, den „die verschiedenen Akteure aus Staat und Gesellschaft an demjenigen Prozess hatten, der ‚partielle Modernisierung‘ Preußens genannt wird“ (S. 14) und inwieweit sie Impulsgeber von Modernisierung waren, sie förderten, hemmten oder gar verhindern wollten.
Mellies postuliert, dass preußische Geschichte stets auch deutsche Geschichte ist, womit vom preußischen Untersuchungsgebiet ausgehend generelle Aussagen über Deutschland im 19. Jahrhundert getätigt werden könnten. Freilich will er dabei nicht Anstoß geben für eine weitere Debatte über einen vermuteten oder vermeintlichen Sonderweg Deutschlands, wie er aus der Bielefelder Schule als Erklärungsansatz für den Verlauf der deutschen Geschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts erarbeitet worden ist. Er will in erster Linie die Rolle der konservativen, ländlich-agrarischen Akteure, vornehmlich der ostelbischen Junker aufzeigen, die es mit einer Politik der „defensiven Modernisierung“1 bis 1918 geschafft haben, einen hohen politischen Einfluss zu halten und denen darüber hinaus von der Forschung ein erheblicher Anteil am späteren Aufstieg des Nationalsozialismus im ländlich-protestantischen Raum zugesprochen worden ist.
Ein Gebiet, in dem das ländlich-agrarische, protestantisch-konservative Profil Kernpreußens idealtypisch auftritt, findet der Autor im pommerschen Regierungsbezirk Stettin. Darin kann er mithilfe städtischer und ländlicher Regionen exemplarisch das gesamte preußische Ostelbien untersuchen und, um einen Maßstab zur Einschätzung Pommerns zu erhalten, mit „fortschrittlicheren“ westlichen Provinzen vergleichen. Die geographische Einschränkung auf den Bezirk Stettin ist nachvollziehbar, weil der Autor mit einem, wie er es selber nennt, „mikrogeschichtlichen Ansatz“ (S. 16) die potentiellen Akteure aus Verwaltung und Gesellschaft untersuchen will. Zeitlich beschränkt sich Mellies auf einen erweiterten „Jahrhundertkern“, auf ein „kurzes 19. Jahrhundert“2, das er nach der Neuordnung der europäischen Staatenwelt 1815 beginnen und 1890 enden lässt. Der 75-jährige Längsschnitt durch das 19. Jahrhundert ermöglicht es, die Entwicklung Preußens am Beispiel Pommerns vom Ende der Napoleonischen Ära, über die deutsche Doppelrevolution der 1840er-Jahre bis zur Eingliederung Preußens ins Deutsche Reich nach 1870/71 nachzuzeichnen. Verfolgt wird dieses Unterfangen durch einen klar gegliederten, sich über drei große Themenblöcke erstreckenden Aufbau der Arbeit: 1) das Schulwesen, 2) die Infrastruktur, 3) die Zivilgesellschaft. Jeder dieser Themenblöcke wird nach einem gleichen Raster bearbeitet, mit dem zuerst nach dem Stand der Dinge um 1815, nach der preußischen Entwicklung im 19. Jahrhundert (beide Teile sind als Forschungsstand zu verstehen) und schließlich, spezifischer, nach derjenigen Pommerns gefragt wird. Abgerundet wird jeder Themenblock durch Zwischenergebnisse, die es dem Leser und der Leserin ermöglichen, das 350-Seiten-Werk rasch und doch umfassend zu überblicken.
Was „modern“ ist, wird in den historischen Sozialwissenschaften oft in den bekannten Richtungsbegriffen zur Untersuchung des 19. Jahrhunderts verpackt: Parlamentarisierung, Demokratisierung, Urbanisierung, Mobilisierung, Alphabetisierung, Technisierung, Säkularisierung, Rationalisierung, Bürokratisierung, Professionalisierung, Schaffung nationaler Kommunikationsnetzwerke, Entfaltung zivilgesellschaftlicher Strukturen. Eine solche Liste an Schlagworten muss in einer Arbeit, die bestimmten Eigenschaften von „Modernisierung“ nachspürt, konkretisiert und operationalisiert werden, wie es Mellies anhand seiner drei Hauptthemen und seines breiten Quellenbestandes (Verwaltungsakten aus dem Staatsarchiv Stettin, dem Landesarchiv Greifswald und dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin sowie mehrere Zeitschriften und Periodika) vornimmt. Modernisierung ist in Reinhard Bendix klassischer Definition ein „bestimmter Typus sozialen Wandels“3, der in seinem Kern den wirtschaftlichen und politischen Fortschritt einer Pioniergesellschaft (und den später nachfolgenden Wandlungsprozess anderer Gesellschaften) meint. Dirk Mellies hält sich in seiner Doktorarbeit an die Weiterführung der Bendixschen Definition nach Dietrich Rüschemeyer, der die Tatsache, dass ein Prozess des sozialen Wandels, der zu „Institutionalisierung relativ moderner Sozialformen neben erheblich weniger modernen Strukturen in ein und derselben Gesellschaft“4 führt, als „partielle Modernisierung“ beschreibt. Das umreißt die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in einem bestimmten Untersuchungsgebiet, in dem parallel Kräfte der Modernisierung und der Beharrung ausfindig gemacht werden können. Da dieses Phänomen auf alle realen Modernisierungsprozesse zutrifft, müssen sie vergleichend mit anderen Fällen dargestellt werden.
Es ist unbestritten, dass in Pommern im 19. Jahrhundert wichtige Kennzeichen von Modernisierung, wie sie Mellies mit den gängigen Richtungsbegriffen einführt, fehlten. Unter dem Eindruck der alten Struktur der Gutswirtschaft, der agrarischen Prägung der Städte und des platten Landes, dem Fehlen von Industrie außerhalb Stettins, der niedrigen Bevölkerungsdichte, des dürftiges Ausbaustandards der pommerschen Infrastruktur und des Mangels an Bodenschätzen ist Pommern schon im 19. Jahrhundert zur geläufigen Metapher für „Rückständigkeit“ („Puttkamerun“) gemacht worden, die von der zeitgenössischen Verwaltung zum eigenen Nutzen bemüht und tradiert und schließlich von der Bevölkerung internalisiert worden ist. Dass es sich dabei um eine Mischung aus realen Verhältnissen und vielfach repetiertem Stereotyp ohne volle Entsprechung in der historischen Wirklichkeit handelte, kann Mellies für alle drei Themen nachweisen. Sowohl beim Schulwesen und bei der Infrastruktur als auch bei der Ausgestaltung zivilgesellschaftlicher Strukturen sieht er in erheblichem Ausmaß Aspekte von Modernisierung implementiert und umgesetzt und damit den Stettiner Regierungsbezirk in einen die Region verändernden Transformations- und Modernisierungsprozess versetzt. Im Schulwesen macht er die entsprechenden Veränderungen vor allem an der fallenden Analphabetenrate, an der hohen Schulbesuchsquote bei gleichzeitig rapidem Absinken der Schulversäumnisse, an einer zunehmenden Ausdifferenzierung des Schulsystems und an einer professionalisierten Lehrerschaft fest. Im Bereich der Infrastruktur fallen die tausenden an gebauten Chaussee- und Eisenbahnkilometer auf, die in der dünn besiedelten Provinz zusammen mit dem Ausbau der Telegraphie zu einem dichteren Kommunikationsnetz und einer erhöhten Mobilität von Ideen und Menschen geführt haben. Die aufgebauten zivilgesellschaftlichen Strukturen schließlich werden in einer Fülle von Vereins-, Partei- und Zeitungsgründungen ersichtlich, die in zeitlich unterschiedlicher Intensität und unter wechselnden obrigkeitlichen Zensurbemühungen für ein gesellschaftliches und politisches Klima sorgten, in dem die Herstellung einer kritischen Öffentlichkeit mit Meinungspluralismus möglich war.
Die Fülle an zusammengetragenen Einzelnachweisen verdichtet Mellies zu einer Beschreibung Pommerns als Provinz, die freilich trotz dieser Bestrebungen über die Stufe einer partiellen Modernisierung nicht hinausgekommen ist. Die Partialität des Modernisierungsprozesses wird in den drei Themenblöcken anhand gleicher Phänomene manifest: a) an einem von Anfang an herrschenden Rückstand gegenüber den westlichen Provinzen der Monarchie, der trotz großer Bemühungen nicht wettgemacht werden konnte; b) an einem ausgeprägten Stadt-Land-Gefälle, in dem die Großstadt Stettin eine von den Kleinstädten und dem platten Land oft stark divergierende Entwicklung genommen hat; c) an der „defensiv“ genannten Modernisierungstendenz Pommerns, in der Fortschritts- und Modernisierungsbestrebungen mit einem ausgeprägten Konservatismus, mit dem Erhalt überkommener Partikularinteressen insbesondere der Großgrundbesitzer und der Förderung von Preußenpatriotismus und monarchischer Gesinnung gekoppelt waren.
Es ist das Verdienst von Dirk Mellies, dass er bei der weitherum gemachten Feststellung, nach der „Pommern“ und „Rückständigkeit“ nahezu synonym verwendet worden sind, nicht stehen bleibt, sondern die in einem lang andauernden Prozess von fast hundert Jahren erreichte Vielfalt der Modernisierung in Pommern in einem lesenswerten und spannenden Bericht darzustellen vermag.
Anmerkungen:
1 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1: Vom Feudalismus das Alten Reiches bis zur defensiven Modernisierung der Reformära, 1700–1815, München 1987.
2 Jürgen Osterhammel, In search of a 19th century, in: Bulletin of the German Historical Institute 17 (2003), S. 9-28, hier: S. 16.
3 Reinhard Bendix, Modernisierung in internationaler Perspektive, in: Wolfgang Zapf (Hrsg.), Theorien des sozialen Wandels, 4. Aufl., Königstein 1979 (1. Aufl. 1969), S. 505–512, hier: S. 506.
4 Dietrich Rüschemeyer, Partielle Modernisierung, in: Wolfgang Zapf (Hrsg.), Theorien des sozialen Wandels, 4. Aufl., Königstein 1979 (1. Aufl. 1969), S. 382–398, hier: S. 382.