: Der Holocaust im arabischen Gedächtnis. Eine Diskursgeschichte 1945–1967. Göttingen 2012 : Vandenhoeck & Ruprecht, ISBN 978-3-525-36993-7 237 S. € 49,95

: Die Araber und der Holocaust. Der arabisch-israelische Krieg der Geschichtsschreibungen. Hamburg 2012 : Edition Nautilus / Verlag Lutz Schulenburg, ISBN 978-3-89401-758-3 368 S. € 28,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Kiefer, Zentrum für Islamische Theologie, Universität Osnabrück

Wenn in den vergangenen Jahren über Antisemitismus und Holocaustleugnung in den arabischen und islamisch geprägten Gesellschaften diskutiert wurde, bewegte sich die Debatte zumeist zwischen zwei Polen. Auf der einen Seite stehen Wissenschaftler wie der amerikanische Historiker Jeffrey Herf, die die Kollaboration arabischer Nationalisten mit dem NS-Regime in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellen.1 Bei Herf und anderen Autoren geht es hierbei insbesondere um die Figur des „Großmuftis“ Amin al-Hussaini, der als Prototyp eines antisemitischen arabischen Nationalisten präsentiert wird. Auf der anderen Seite fokussiert man gleichfalls die Zusammenarbeit arabischer Nationalisten mit dem NS-Regime, kommt aber zu ganz anderen Ergebnissen. So vertreten zum Beispiel die deutschen Orientwissenschaftler Gerhard Höpp, Peter Wien und René Wildangel die Auffassung, dass die Kollaboration nicht in erster Linie aus enger ideologischer Verbundenheit erfolgte, sondern vielmehr politische Gründe ausschlaggebend waren. Ferner sei es wichtig zu sehen, dass man von der Bündnispolitik einiger arabischer Nationalisten nicht auf die Haltung „der Araber“ zum Nazi-Regime schließen könne.2

Ein Ende dieser Debatte, die mitunter auch mit polemischen Zwischentönen geführt wird, ist derzeit nicht abzusehen. Ein triftiger Grund hierfür ist schlicht in der Tatsache zu sehen, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung über die Wahrnehmung des Holocaust in den arabischen und islamisch geprägten Gesellschaften bislang nahezu ausschließlich von europäischen und amerikanischen Historikern und Islamwissenschaftlern geführt wurde. Fundierte und sachliche Darstellungen von arabischen Wissenschaftlern, die wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht werden, liegen nur in geringer Zahl vor. Zu erwähnen ist hier insbesondere die Arbeit des arabisch-israelischen Historikers Azmi Bishara mit dem Titel „Die Araber und der Holocaust“3, die jedoch in arabischen Intellektuellenkreisen nur am Rande oder gar nicht zur Kenntnis genommen wurde.

Die beharrliche Weigerung vieler arabischer Intellektueller, sich mit Antisemitismus und Holocaust auseinanderzusetzten, irritiert und provoziert zugleich; es drängt sich natürlich die Frage nach den Ursachen dieses misslichen Sachverhalts auf. Zwei im Jahr 2012 auf Deutsch erschienene Publikationen versuchen sich auf unterschiedlichen Wegen in einer umfassenden Antwort.

Die erste Arbeit „Der Holocaust im arabischen Gedächtnis. Eine Diskursgeschichte 1945–1967“ stammt aus der Feder des Anthropologen und Islamwissenschaftlers Omar Kamil, der am Simon-Dubnow-Institut der Universität Leipzig forscht und lehrt. Kamils Schrift basiert auf den Ergebnissen des DFG-Forschungsprojekts „Die arabischen Intellektuellen und der Holocaust. Zur Epistemologie arabischer Diskurskultur“, das von 2005 bis 2008 an der Universität Leipzig durchgeführt wurde. Die Analyse fokussiert nicht die Wahrnehmung des Holocaust vor der Folie des arabisch-israelischen Konflikts, sondern bietet einen ideengeschichtlichen Erklärungsansatz, „der Zusammenhänge dort aufzeigt, wo sich arabisch-islamische, jüdische und europäische Geschichte und Geschichtserfahrungen [sich] überschneiden“ (S. 7). Im Zentrum der klar strukturierten Arbeit, die sich als eine arabische Zeitgeschichte versteht, die einen „gedächtnisgeschichtlichen Zugriff“ unternimmt, steht hierbei die Frage, „warum die Wahrnehmung des Holocaust in der arabischen Welt so starke deterministische Züge trägt“ (S. 45).

Die Antwort gibt der Autor in drei Kapiteln, in denen die diskursiven Überschneidungen europäischer und arabischer Ideengeschichte nachvollzogen werden sollen. Im Zentrum der Betrachtungen steht die Wirkgeschichte von drei europäischen Autoren, die die Ideen- und Kulturgeschichte der 1960er Jahre in einem erhebliche Ausmaß mitgeprägt haben: der britische Historiker Arnold Joseph Toynbee (1889–1975), der französische Philosoph Jean-Paul Sartre (1905–1980) und der französische Orientalist Maxime Rodinson (1915–2004). Alle drei Autoren verfassten Schriften, die sowohl die Kolonialerfahrungen arabischer Gesellschaften als auch das Genozid an den europäischen Juden zum Gegenstand haben. Toynbee, Sartre und Rodinson unterhielten in den 1960iger Jahren intensive Beziehungen zu arabischen Intellektuellen, die „die intellektuelle arabische Geschichte, sei es in Algier, Kairo, Bagdad und Beirut“ selbst maßgeblich prägten (S. 22). Ihr Schreiben und Wirken nutzt der Autor als Reflexionsort, von dem er seine „gedächtnisgeschichtliche Zugriffe“ unternimmt. Im ersten Kapitel analysiert „Toynbee in Montreal“, im zweiten Kapitel „Sartre in Kairo“ und im dritten Kapitel die Wirkgeschichte von „Rodinson in Beirut“. Kamil will zeigen, „warum die Begegnung mit den Werken von Toynbee, Sartre und Rodinson die angemessene Wahrnehmung des Holocaust in der arabischen Welt blockierte und zu dessen Leugnung führte“ (S. 23).

Auf den ersten Blick irritiert dieses Vorhaben, das so ungleiche Männer wie Toynbee, Sartre und Rodinson im gleichen negativen Wirkzusammenhang verortet. Toynbee war bekanntlich ein Mann, der seine schroffe Israelkritik gerne vor großem Publikum äußerte. Hierbei verstieg er sich mitunter auch in problematische Vergleiche des Schicksals der europäischen Juden im Nationalsozialismus mit dem Schicksal der Palästinenser unter israelischer Besatzung. Dass arabische Intellektuelle in den 1960er Jahren derlei Ansichten mit viel Applaus bedachten, verwundert wenig. Bei Sartre und Rodinson lagen die Dinge anders. Sartre hasste den Kolonialismus und empfand tiefes Mitgefühl mit den palästinensischen Flüchtlingen. Andererseits verteidigte er Zeit seines Lebens kompromisslos das Existenzrecht Israels. Ähnlich differenziert argumentierte Rodinson. Er kritisierte auf das Schärfste die israelische Politik, ließ aber keinen Zweifel daran aufkommen, dass der Holocaust mit der Nakba nicht zu vergleichen sei.

Kamil zeigt mit großer Präzision und Klarheit, dass in der damaligen arabischen Öffentlichkeit kaum Platz für entsprechend differenzierte Wahrnehmungen des Holocaust war. Sartre, den man in der arabischen Welt lange als antikolonialen Held feierte, wurde extrem einseitig rezipiert. Ähnlich erging es Rodinson. Kamil spricht hier von einer „Tragik des Missverstehens“ (S. 167), das die Rezeption der Judenvernichtung durch arabische Intellektuelle wie ein roter Faden bis zum heutigen Tag durchzieht. „Diese Tragik resultiert einerseits aus dem realen arabisch-israelischen Konflikt und andererseits aus der vorgestellten Konkurrenz von Leiderfahrungen. Kolonialismus und Judenvernichtung strukturierten in der arabischen Perspektive gegenläufige Gedächtnisse. Die Begegnungen mit Toynbee, Sartre und Rodinson riefen bei arabischen Intellektuellen Reaktionen hervor, die immer wieder auf den selben Reiz verwiesen: konträre und miteinander konkurrierende Erinnerungen inmitten eines Kontextes, der durch Feindschaft, Krieg und Nichtanerkennung geprägt war“ (S. 167).

Kamil bietet mit seiner überzeugenden Schlussfolgerung einen innovativen Erklärungsansatz, der die Diskussion um die Holocaustrezeption in der arabischen Welt neu beleben wird. Insgesamt betrachtet präsentiert der Autor eine sehr gelungene Studie, die zahlreiche bislang unbekannte Einblicke in die Diskussionen arabischer Intellektueller der 1960er Jahre gewährt. Forschungsarbeiten zur Wahrnehmung des Holocaust in den arabischen und islamisch geprägten Gesellschaften werden diese Studie zukünftig berücksichtigen müssen.

Anspruch und Methodik des zweiten Werks unterscheiden sich erheblich von Kamils diskursgeschichtlichem Ansatz. Gilbert Achcar, Professor für Entwicklungspolitik und Internationale Beziehungen an der Universität London, spannt in seinem Werk „Die Araber und der Holocaust. Der Arabisch-israelische Krieg der Geschichtsschreibungen“ den historischen Bogen von 1933 bis heute. Dieses von der zeitlichen Dimension anspruchsvolle Vorhaben unterteilt der Autor in die Großkapitel „Die Zeit der Shoa“ und die „Zeit der Nakba“. Was diese Herangehensweise bezwecken soll, ist dem biblischen Motto zu entnehmen, das Achcar seinen Ausführungen vorangestellt hat: „Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und wirst nicht gewahr des Balkens in deinem Auge?“

Der Autor will notorische Ignoranz und Verblendung auf beiden Seiten bekämpfen. Die Araber sollen den Holocaust und die Israelis die Nakba angemessen und ohne Verzerrungen zur Kenntnis nehmen: „Zweifellos finden sich in der arabischen Welt vielfach unerträgliche Einstellungen zum Holocaust; aber ebenso gibt es in Israel und im Westen grotesk entstellende Deutungen der arabischen Rezeption des Holocaust. Ich möchte Raum für Reflexion schaffen, der es ermöglicht, die zahllosen verzerrten Darstellungen hinter sich zu lassen. Sie beruhen auf Missverständnissen, die den blinden Hass aufrecht erhalten und durch ihn vertieft werden“ (S. 11).

Achcar realisiert diese schwierige Aufgabe mit großer Sachkenntnis und viel Sensibilität und es ist ihm hoch anzurechnen, dass er erst gar nicht der Versuchung unterliegt, Ereignisse aus beiden Leidensgeschichten gleichzusetzen oder gar gegeneinander aufzurechnen. Die Darstellungen zur Shoah und Nakba, die alle relevanten weltanschaulichen und religiösen Deutungsmuster umfassen, sind detailreich und vermitteln insgesamt ein sehr differenziertes Bild der Diskurse.

Störend sind mitunter die Angriffe gegen manche Autoren, deren Sichtweise Achcar nicht zu teilen vermag. In der Sache unangemessen sind vor allem die Anwürfe gegen den deutschen Orientwissenschaftler Stefan Wild, der in seiner 1985 erschienen Studie über den Einfluss der Nationalsozialisten im Nahen Osten unter anderem die Baath-Partei behandelte.4 Wild habe, so Achcar, Fehler, Entstellungen und bewusste Auslassungen begangen, die zur Quelle für alle möglichen Polemiken gegen den arabischen Nationalismus wurden (S. 68). Dieser einseitigen Bewertung von Wilds Arbeit sollte widersprochen werden. Auch wenn es Achcar gelingt, Wild fehlerhafte Zitate nachzuweisen, bleibt dennoch die Tatsache, dass Wild über einen sehr langen Zeitraum faktisch einer der wenigen deutschsprachigen Orientwissenschaftler war, die das Problem des Antisemitismus in der arabischen Welt offen, aber ohne jede Polemik thematisierten. Hinzu kommt, dass der stellenweise unnachsichtige Autor mitunter selbst falsch liegt. So wird die Wirkgeschichte von Sayyid Qutbs Antisemitismus gerade mal auf einer halben Seite abgehandelt und stark relativiert. Qutbs antisemitisches Pamphlet („Unser Kampf mit den Juden“) werde häufig zitiert, argumentiert Achcar, sehr viel weniger bekannt seien „die Tatsachen“, auf die Emmanuel Sivan hingewiesen habe: „Sayyid Qutb beschäftigte sich nur am Rande mit Israel, doch wenn er dies tut, dann indem er aus seinen reichen Koran-Kenntnissen schöpfte und das Bild eines pervertierten Judentums heraufbeschwor, das seit Menschengedenken ein Feind des Islams gewesen sei. Seine gesamten schriftlichen Äußerungen über das Judentum und Israel bestehen allerdings nur aus einem schmalen Bändchen […], das 1970 (fünf Jahre nach seiner Hinrichtung) im saudischen Jedda zusammengestellt und veröffentlicht wurde“ (zitiert nach Achcar, S. 270).

Diese Darstellung entspricht nicht den Fakten. Der 18 Seiten umfassende Essay „Maʿrakatuna maʿa al-yahud“ („Unser Kampf mit den Juden“), der als eines der Schlüsselwerke des islamistischen Antisemitismus angesehen werden muss, wurde bereits 1950 in der Zeitschrift der ägyptischen Muslimbruderschaft Al-Daʿwa erstmalig veröffentlicht und entfaltete bereits in den 1950er und 1960er Jahren seine Wirkung in islamistisch orientierten Milieus.

Trotz dieser Schwächen ist zu wünschen, dass das Buch eine möglichst große Leserschaft findet. Es vermittelt einen Eindruck von der Komplexität der Konfliktlinien und zeigt, dass alle Akteure, die ein friedliches Zusammenleben anstreben, einen Berg von einseitigen und verzerrenden Narrativen beiseite räumen müssen, die das kollektive Gedächtnis von drei Generation in einem erheblichen Ausmaß prägten. Schließlich kann der Schlussfolgerung des Autors uneingeschränkt zugestimmt werden: „Es ist unmöglich in eine friedliche Zukunft zu blicken, solange die offenen Rechnungen der Vergangenheit nicht beglichen und Lehren aus ihr gezogen sind. Doch damit die Bemühungen derer Früchte tragen, die das genseitige Verständnis zwischen Arabern und Juden fördern wollen, muss die Gewalt aufhören; nur dann kann es den politischen Strömungen, die sich dem universellen Erbe der Aufklärung verbunden wissen, sowohl in der arabischen Welt als auch in Israel gelingen, die vielfältigen Formen politischen und religiösen Fanatismus zurückzudrängen, die heute Aufwind haben“ (S. 280).

Anmerkungen:
1 Jeffrey Herf, Nazi Propaganda for the Arab World, New Haven 2009.
2 Gerhard Höpp / Peter Wien / René Wildangel (Hrsg.), Blind für die Geschichte? Arabische Begegnungen mit dem Nationalsozialismus, Berlin 2004.
3 Azmi Bishara, Die Araber und der Holocaust, in: Rolf Steininger (Hrsg.), Der Umgang mit dem Holocaust, Wien 1994, S. 407–432.
4 Stefan Wild, National Socialism in the Arab Near East between 1933 and 1939, in: Die Welt des Islams 25, Nr. 1/4 (1985), S. 126–173.

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