Auch wenn Friedrich Gentz im Vergleich zu den vielen interessanten politischen Journalisten seiner Zeit weitaus am häufigsten zum Gegenstand der historischen Forschung gemacht worden ist – genannt seien exemplarisch nur die jüngeren Arbeiten von Günther Kronenbitter oder Raphaël Cahen1 –, bleibt die intensivere Beschäftigung mit ihm aus mehreren Gründen weiterhin ein wichtiges Desiderat.
Erstens war die bis dato letzte umfassende einschlägige Biographie immer noch Golo Manns in den Jahren 1936–1941 im amerikanischen Exil geschriebene Studie, die, wie Mann selbst darlegt, ganz „Produkt dieser Zeit“ ist. Sie ist wesentlich von der Parallelsetzung Napoleons und Hitlers und, damit verbunden, der Stilisierung von Gentz zum ersten Widerstandskämpfer gegen Napoleon geprägt, um durch dieses historische Beispiel zugleich den Widerstandsgeist gegen Hitler zu wecken. Golo Manns Größe zeigt sich nicht zuletzt auch darin, dass er auf diesen zeitgebundenen Charakter seiner Biographie selbst schon im Vorwort der Buchausgabe von 1946 aufmerksam macht, wenn er einräumt, dass er „das Buch heute anders, vielleicht überhaupt nicht mehr schreiben“ würde.2
Zweitens liegt mit der Gentzschen Autographen-Sammlung des Kölner Politikers und Historikers Günter Herterich in der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln ein Schatz an Quellenmaterial vor, der immer noch weitgehend ungehoben ist.
Und drittens steht Gentz nicht nur wegen des anstehenden 200. Jahrestages des Wiener Kongresses im Zentrum einer Reihe von Forschungsfragen, die für eine aktuelle europäisch vergleichende Geschichtsschreibung von Interesse sind: als Protokollführer des Wiener Kongresses war er, wie kaum ein anderer, eingebunden in den europäischen Diplomatie- und Kommunikationsraum. Dabei gehört er als ein genuin europäischer Denker zu den nicht übermäßig zahlreichen deutschsprachigen Autoren, die auch in Frankreich oder Großbritannien wahrgenommen wurden.3 Exemplarisch lässt sich an ihm die spannungsreiche Stellung der Intellektuellen zwischen Patronagesystem, Käuflichkeit und Anbiederung an die Macht einerseits und kritischer Unabhängigkeit und zunehmender Öffentlichkeit des Politischen andererseits studieren. Dadurch, dass Gentz bereits in seiner Zeit als ein besonders einschlägiger Fall politischer Konversion von „links“ nach „rechts“ wahrgenommen wurde, der seine früheren Schriften, wie etwa seinen Artikel über Pressefreiheit von 1797, später am liebsten ungeschehen gemacht hätte, lassen sich über das historische Interesse hinaus an seinem Beispiel durchaus auch gegenwartsbezogene Reflexionen anstellen.
Es ist das Verdienst von Harro Zimmermanns populärwissenschaftlicher und an eine breitere Öffentlichkeit adressierter Biographie, auf diese Bedeutung von Gentz aufmerksam zu machen. Der Bremer Literaturwissenschaftler Harro Zimmermann, der in den 1980er-Jahren durch seine grundlegenden Arbeiten zur deutschen Spätaufklärung, insbesondere zur deutschen Revolutionsrezeption bei Autoren wie Rebmann, Knigge oder Klinger bekannt geworden ist, hat sich zuletzt mit Friedrich Schlegel oder jetzt Gentz eher den Vordenkern des politischen Frühkonservativismus zugewandt.4 Das Buch des in langjähriger Arbeit bei Radio Bremen in der Wissenschaftsvermittlung geschulten Autors ist flott geschrieben und gut lesbar und steht nicht hinter vergleichbaren populären Biographien zu dieser Epoche, etwa Rüdiger Safranskis, zurück.
Zugleich sind in dem populärwissenschaftlichen Ansatz aber auch die Probleme der Studie begründet. Im Anschluss an Otto Tschirchs Geschichte der öffentlichen Meinung in Preußen von 1933, der bereits Gentz den „Scharfblicke des Realpolitikers“5 zugeschrieben hatte, feiert auch Zimmermann in Gentz den „Wegbereiter der modernen Realpolitik“ (S. 11). Gegen den abstrakten Normativismus der Aufklärung habe Gentz als erster bürgerlicher Intellektueller, der zugleich Machtpolitiker gewesen sei, ein konkretes Staatsdenken in Anschlag gebracht, das die Aporie politischer Konflikte nicht einfach naturrechtlich auflöse. Wenn Zimmermann dabei die vermeintliche Realpolitik von Gentz einem „geschichtsphilosophischen Gutglauben“ (S. 11) der Aufklärung gegenüberstellt, perpetuiert er allerdings lediglich in eigenen Worten die Polemik der einen politischen Seite. Problematisch sind in dieser Hinsicht vor allem die nur sehr pauschalen Zitatnachweise, durch welche die Sprache der historischen Akteure und die des Biographen verwischen. Man weiß häufig nicht, wer spricht, wenn gegen „Humanitätsschwätzer“ und „Freiheitstaumel“ polemisiert wird. Schließlich führt der weitgehende Verzicht auf direkte Zitate zu problematischen vermeintlichen Paraphrasen von Gentz’ Ansichten in den Worten seines Biographen, etwa wenn Zimmermann von dem angeblich jüdisch inspirierten Aufklärungsgeist in Berlin berichtet: „Für Gentz sind die retrograden und katholisierenden Neigungen der Romantiker allemal erträglicher als der in Berlin grassierende, weithin von den Juden inspirierte Aufklärungsgeist.“ (S. 177) – dies nur als besonders krasses Beispiel für ein durchgehendes Stilmittel.
Die Stärke von Zimmermanns Buch besteht jedoch darin, dass er ausführlich die konkreten Debatten der Zeit referiert, wodurch vorschnelle Modernisierungen und Stilisierungen von Gentz zum vorgeblich hellsichtigsten Diagnostiker seiner Zeit erschwert werden und die Leserinnen und Leser sich selbst ein Urteil bilden können: etwa wenn Zimmermann rekonstruiert, dass Gentz gemeint war, als Kant gegen Autoren mit „Maulwurfsaugen“ polemisiert, die eines denkenden und aufrecht gehenden Wesens nicht würdig seien (S. 81f.). Oder wenn er ein anonymes Pamphlet mit dem Titel: ‚Politische Paradoxien des Kriegsrath Gentz‘ aus dem Jahr 1800 ausgräbt, in dem Gentz’ Neigung „lieblichen Weyhrauch für die Mächtigen und Reichen“ zu verbreiten, moniert wird (S. 118). Selbst der durchaus nicht in politischer Opposition zu seinem Freund Gentz stehende Wilhelm von Humboldt zeigte sich einigermaßen entsetzt über Gentz’ anbiedernde Widmung seiner Burke-Übersetzung an Friedrich Wilhelm II. und kritisierte auch später noch Gentz’ „Burkischen Geschmack und eine gewisse Form der Adelssucht“ (S. 109). Und die von Gentz propagierte Wiener Ordnung, von Zimmermann in dieser Pauschalität eher verzerrend als „Konstitutionalismus“ (S. 31) benannt, wurde bereits in den Publikationen frühliberaler Verleger wie Cotta oder Brockhaus als „chinesischer Staat mitten in Deutschland“ (S. 258) kritisiert.
Ausführlich geht Zimmermann auf die Etappen in Gentz’ Biographie ein, die bei Golo Mann nur kurz abgehandelt werden, das heißt vor allem Gentz’ widersprüchliche Position innerhalb der Wiener Kongressordnung und der Restaurationsepoche. Zu Gentz’ europäisch perspektiviertem politischen Denken zählte seine Zusammenarbeit mit Talleyrand ebenso, wie sein Legitimismus die Anerkennung von Napoleons Herrscherwürde auch nach 1814 einschloss, die Gentz gegen einen rigorosen preußischen Anti-Napoleonismus im Stile Kleists, Bülows oder Steins vertrat: „Wie Kleist im Jahr 1809: Schlagt ihn tot!“ zu rufen, ist für Gentz keine politische Lösung (S. 227).
Besonders erhellend sind Zimmermanns Darstellungen von Gentz’ Finanzpolitik, weil hier die unmittelbaren Interdependenzen politischer Programme und „realpolitischer“ Praxis sichtbar werden. Gentz war einer der besten Kenner der zunehmenden Bedeutung des internationalen Finanzmarktes und hat bereits 1799 mit seinem Artikel ‚Über den jetzigen Zustand der Finanz-Administration und des National-Reichthums in Großbrittannien‘ in seinem Historischen Journal eine der reflektiertesten und international weit beachteten Verteidigungen des britischen Staatsschuldensystems veröffentlicht, die ihm auch eine Finanzierung durch die britische Regierung eintrug. 1816 war er an entscheidender Stelle an der Gründung der ersten österreichischen Nationalbank und der Einführung des Papiergeldes beteiligt (S. 249f.). Zugleich war Gentz sowohl als notorischer Glücksspieler als auch als Bürgerlicher in höfischen Kreisen ununterbrochen mit seinen eigenen Finanzen beschäftigt: noch in Preußen versuchte er von seinem Gönner, dem Minister Hoym, ein Gut in den von Preußen nach der Dritten Polnischen Teilung besetzten polnischen Gebieten in „Südpreußen“ zu erhalten. Während des europäischen Revolutionsjahrzehnts zwischen 1820 und 1830, als Gentz unermüdlich gegen die unterschiedlichen revolutionären Bewegungen in Spanien, Italien, Griechenland oder Belgien anschrieb, erhielt er dafür „Geld über Geld“ (S. 275) des in Neapel ansässigen Bankiers Karl Rothschild und erwarb Güter im Osmanischen Reich.
In solcher Zusammenschau gewinnen die politischen Positionen historische Konkretion und es wird die problematische Stellung eines in der Regierungsberatung und Öffentlichkeitsarbeit tätigen Intellektuellen deutlich. Zu Recht macht Zimmermann in diesem Zusammenhang auf Gentz’ von Anfang an widerspruchsvolles und schwieriges Verhältnis zu Metternich aufmerksam, für den die um 1800 vermeintlich so einflussreichen gebildeten Stände letztlich nur ein „Proletariat der Beamten-, Professoren- und Literatenkasten“ darstellten, bei denen anders als bei der besitzenden Klasse „immer Vorsicht geboten“ blieb (S. 242). Zur Sicherheit ließ Metternich Gentz’ Korrespondenz durchgehend überwachen.
Zu diesem komplexen Bild gehört auch, dass die politischen Grenzziehungen auf dem Gebiet des Journalismus nicht so eindeutig waren und es viele Querverbindungen und überraschende Allianzen gab. Gegen die unterschiedlichen aufkommenden Nationalismen suchte Gentz durchaus auch Kontakte zu frühliberalen Autoren, sofern sie ebenfalls europäische Denker waren und gut schreiben konnten. Dazu gehörten etwa Karl August Varnhagen von Ense oder sogar Ludwig Börne, den Gentz nach Wien holen wollte. Tatsächlich war Gentz’ Programm der „Realpolitik“ und des expliziten Antinormativismus nicht nur auf Seiten der Frühkonservativen zu finden, sondern bei vielen weiteren politischen Journalisten von Saul Ascher über Friedrich Buchholz bis Karl Ludwig Woltmann, die weniger Probleme mit der Tradition der Aufklärung hatten. Als eminent antiromantischer, europäischer und rationalistischer Denker hatte Gentz mit diesen in gewisser Hinsicht sogar mehr gemeinsam als mit seinen politischen Mitstreitern wie Adam Müller oder Friedrich Schlegel. Und Gentz war die Ahnung nicht fremd, dass die Liberalen am Ende vielleicht doch auch die geschichtliche Wirklichkeit auf ihrer Seite haben – und sich somit als die besseren ‚Realpolitiker‘ erweisen könnten. In diesem Sinn bemerkt der alte Gentz 1832 kurz vor seinem Tod über seinen größten publizistischen Gegenspieler Friedrich Buchholz: „Wenn die Liberalen so zu schreiben beginnen, werden wir ihnen bald das Feld räumen müssen.“ (S. 304)
Ob Gentz tatsächlich damit „in seinen letzten Lebensjahren zu einer Art Dissident im System der Wiener Restaurationspolitik geworden ist“ (S. 312), wie Zimmermann meint, ist eine der vielen Fragen, zu deren Diskussion der Band hoffentlich anregen wird.
Anmerkungen:
1 Günther Kronenbitter, Wort und Macht. Friedrich Gentz als politischer Schriftsteller, Berlin 1994; ders. (Hrsg.), Friedrich Gentz. Gesammelte Schriften, Ndr., Hildesheim 1997–2004; Raphaël Cahen, Frédéric Gentz et les publicistes Français, le droit de la mer en débat (1795–1815), in: Philippe Sturmel / Jacques Bouineau (Hrsg.), Actes du colloque „Navires et Gens de mer“, Paris 2011, S. 281–307; ders., Friedrich Gentz (1764–1832) on Maritime Law. An Unfamiliar Aspect of Counter-Revolutionary Thought in Napoleonic Europe, in: Markus J. Prutsch / Norman Domeier (Hrsg.), Inter-Trans-Supra? Legal Relations and Power Structures in History, Saarbrücken 2011, S. 344–357; ders., The Correspondence of Friedrich von Gentz, The Reception of Du Pape in the German-speaking World, in: Carolina Armenteros / Richard A. Lebrun (Hrsg.), Joseph de Maistre and his European Readers. From Friedrich Gentz to Isaiah Berlin, Leiden 2011, S. 95–122.
2 Golo Mann, Friedrich von Gentz. Gegenspieler Napoleons – Vordenker Europas, Neuausgabe Frankfurt am Main 2011 [Zürich 1947], S. 7.
3 Dies setzt sich auch in der historischen Forschung fort. Bezeichnenderweise ist die einzige vorliegende Monographie zu Gentz’ Historischem Journal eine französische Dissertationsschrift: Marie-Joseph Meyer, Historisches Journal de Friedrich Gentz. Thèse pour le doctorat du IIIe cycle, Metz 1992 [Diss. Masch.]
4 Harro Zimmermann, Friedrich Schlegel oder Die Sehnsucht nach Deutschland, Paderborn 2009.
5 Otto Tschirch, Geschichte der öffentlichen Meinung in Preußen im Friedensjahrzehnt vom Baseler Frieden bis zum Zusammenbruch des Staates, 2 Bde, Weimar 1933, Bd. 2, S. 112.