E. Reichwein: Kinderarmut in der Bundesrepublik Deutschland

Titel
Kinderarmut in der Bundesrepublik Deutschland. Lebenslagen, gesellschaftliche Wahrnehmung und Sozialpolitik


Autor(en)
Reichwein, Eva
Erschienen
Anzahl Seiten
408 S.
Preis
€ 39,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Lorke, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Zwar liegen heute zahlreiche Studien vor, die sich mit Teilbereichen und Facetten der Sozialhilfe und Fürsorge befassen1, doch erscheint die Beschäftigung mit Armut in der Bundesrepublik in toto noch immer als ein Desiderat der Geschichtswissenschaft. Eva Reichwein hat diesen Umstand in ihrer Marburger Dissertationsschrift aufgegriffen, die nun als Buch vorliegt. Für den Zeitraum 1949 bis 2008 wendet sie sich der Kinderarmut in der Bundesrepublik zu.

Bei Armut, speziell bei Kinderarmut handelt es sich nicht nur um ein theoretisch-wissenschaftlich schwer begehbares Terrain, sondern auch um ein emotionsgeladenes aktuelles Thema – 2008 lebten rund 1,7 Millionen Kinder unter 15 Jahren von „Hartz IV“. Ausgehend von diesem Befund und der These, dass es Kinderarmut in der Bundesrepublik schon immer gegeben habe, fragt die Autorin: Stimmt das so präsentierte Bild mit der Wirklichkeit überein, oder ist das Thema doch nur ein öffentliches, von Politik und Presse missbrauchtes Skandalon? Die Beschäftigung mit Kinderarmut richte sich nach Zyklen der Aufmerksamkeit. Dabei macht Reichwein im Wesentlichen drei Themenbereiche aus, die sie miteinander zu verschränken versucht: Erstens interessiert sie die Wissenschaft, die sich mit dem Vorkommen und dem Umfang von Kinderarmut im Zeitverlauf beschäftigt hat. Dieser Blickwinkel soll zeitgenössische Themen, Gesichtspunkte und Begriffe der Wissenschaft zur Kinderarmut beleuchten. Zweitens schaut sie auf die gesellschaftliche Wahrnehmung der Kinderarmut, worunter Diskussionen in Presse, Wohlfahrtsverbänden und beiden Großkirchen fallen. Die Untersuchung jener „Multiplikatoren der Öffentlichkeit“ soll dabei helfen, das Ausmaß, die gegenseitige Beeinflussung und die Wirkmächtigkeit öffentlichkeitswirksamer Themenkonjunkturen in Sachen Kinderarmut aufzudecken. Drittens schließlich analysiert Reichwein die Politik zur Kinderarmut auf Bundesebene anhand der Parteien CDU/CSU und SPD, wobei die parteiübergreifenden öffentlichen politischen Debatten Rückschlüsse auf die jeweils vorherrschenden sozialpolitischen Prioritäten und Maßnahmen liefern sollen. Insgesamt möchte die Autorin der möglichen Diskrepanz zwischen Diskussionen um Kinderarmut und ihrem tatsächlichen Ausmaß historisch nachspüren, ergo der Kluft zwischen Wirklichkeit und Rezeption.

In ihren methodischen Überlegungen begründet Reichwein nicht nur das Optieren für eine „kindzentrierte Position“, sondern diskutiert auch Definitionen, unterschiedliche Armutskonzepte und Fragen der Messung von Armut. Die Autorin favorisiert die „ressourcenabhängige Definition“, die Armut zuvörderst am Faktor Einkommen bemisst. Ergänzt wird diese Perspektive durch Hinweise zu Lebenslagen der Kinder, das heißt Wohnen und Bildung.

Um die Entwicklung und den öffentlichen Umgang mit dem Phänomen „Kinderarmut“ für den Zeitraum von knapp 60 Jahren analysieren zu können, gliedert die Autorin ihre Arbeit in drei chronologisch geordnete Blöcke. Zunächst analysiert sie die Zeit von der Gründung der Bundesrepublik bis zum Ende der Großen Koalition („Von der Nachkriegsnot zur Familienpolitik“, 1949–1969), dann widmet sie sich dem Zeitraum bis zur Wiedervereinigung 1990 („Im Schatten des Wirtschaftswachstums“). Abschließend stößt sie in die unmittelbare Gegenwart vor („Die Wiederentdeckung der Kinderarmut im vereinten Deutschland“). Innerhalb der drei Großkapitel findet sich eine sehr kleinteilige Gliederung – in diesem Punkt hätte das Dissertationsmanuskript für das Buch stärker überarbeitet werden können.

Resümierend kommt Reichwein zu dem Ergebnis, dass im gesamten Untersuchungszeitraum „von einer durchgängig überdurchschnittlich hohen Kinderarmutsquote ausgegangen werden“ müsse (S. 370). Waren anfangs vor allem solche Kinder von Armut betroffen, die aus Familien Alleinerziehender, aus kinderreichen Familien und aus Familien mit einem sozialleistungsempfangenden Haushaltsvorstand stammten, so stieg das Ausmaß von Kinderarmut bei gleichzeitigem Absinken des Kindesalters stetig an. Bis in die 1960er-Jahre herrschte ein „konservativer Grundtenor“ in der Beurteilung von Armutslagen, wobei man auf die „Selbstheilungskräfte“ der als schützenswert erachteten Familie vertraute. Dies führte zu einem „Verschwinden“ des Kindes hinter der „Institution Familie“. Durch die von Heiner Geißler (CDU) Mitte der 1970er-Jahre initiierte „Neue Soziale Frage“ erlangte auch die Kinderarmut einen begrenzten Grad an öffentlicher Aufmerksamkeit, jedoch lediglich unter politisch-strategischen Vorzeichen. Erst in den 1980er-Jahren kam es vor dem Hintergrund der „Neuen Armut“ zu einer intensiveren Beschäftigung mit der Kinderarmut, wenn auch niemals eine eingehende Debatte „über Kinder oder Familien in Armut“ stattfand (S. 371).

Das weitgehende Desinteresse setzte sich nach der Wiedervereinigung fort, als man sich mit einer Anerkennung des Armutsproblems zumindest bis zum ersten Armuts- und Reichtumsbericht von 2001 weiterhin schwer tat. Obwohl Wissen über Kinderarmut stets vorhanden war, scheuten die Parteien eine eingehende Beschäftigung. Insgesamt lasse sich eine „große Divergenz zwischen tatsächlich vorhandener Kinderarmut und dem Diskurs über Kinderarmut“ ausmachen. Die bundesdeutsche Gesellschaft habe niemals ernsthaft versucht, „Kinderarmut konsequent zu bekämpfen“, sondern habe allenfalls „Flickschusterei“ betrieben (S. 373). Wenig überraschend bestätigt Reichwein dadurch ihre Ausgangsüberlegungen, dass zwischen der realen Kinderarmut und den Diskussionen darüber eine deutliche Diskrepanz herrsche.

Die über weite Strecken gut lesbare und durch zahlreiche Tabellen und Statistiken äußerst anschauliche Darstellung rekonstruiert plausibel den schwierigen und häufig nicht widerspruchsfreien gesellschaftlichen Umgang mit Armut. Durch zahlreiche Beispiele werden sowohl die Persistenz der Kinderarmut als auch ihre mangelnde öffentliche Thematisierung dargelegt. Besonders eindrücklich erscheint die Funktionalisierung von (Kinder-)Armut in den Deutungskämpfen zwischen Regierungs- und Oppositionspartei ab den 1970er- und 1980er-Jahren, die Armutsdebatten als ein dauerndes Oszillieren zwischen „Verdrängung und Dramatisierung“ (Lutz Leisering) hervortreten lassen.

Dennoch fallen einige Schwächen der Arbeit auf: So ist die chronologische Unterteilung zumindest zu hinterfragen. Gerade der zweite Zeitbereich (1969–1989/90) verlangt geradezu nach einer inhaltlich-zeitlichen Binnendifferenzierung. Unter dem Rubrum „Wirtschaftswachstum“ werden die gegenwärtig diskutierten Fragen zur Phase „nach dem Boom“ ignoriert. Aufgrund des langen Untersuchungszeitraums ist es vollkommen verständlich, bei den betrachteten Institutionen und Quellen eine Auswahl vorzunehmen. Doch wären einige weitere Angaben zum Quellengebrauch hilfreich gewesen. Zwar schreibt Reichwein den Massenmedien als „vierter Gewalt“ mit Recht einen zentralen Stellenwert für ihr Thema zu, doch bleibt die Frage nach der Systematik ihrer Recherche unbeantwortet (S. 25). Die Angaben im Quellenverzeichnis sind in Ermangelung konkreter Bestandssignaturen äußerst vage.

Als Inkonsistenz fällt auf, dass Reichwein das Ende der 1990er-Jahre einerseits als „endgültige Wende im Diskurs über Kinderarmut“ bezeichnet (S. 372), dann aber von einer Rückkehr zur „Normalität der Leugnung“ spricht (S. 373). Den Anteil des ersten Armuts- und Reichtumsberichts von 2001 vor diesem Hintergrund als derart zentrale Kehrtwende zu veranschlagen erscheint zumindest als diskussionswürdig. Ferner beginnt die Autorin unvermittelt mit dem Kriegsende bzw. der Gründung der Bundesrepublik. Wurde die Bedeutung der „Stunde Null“ bereits in vielen anderen Zusammenhängen relativiert, so ist wohl auch hier von Persistenzen auszugehen. Einige wenige Vorbemerkungen zur gesellschaftlichen Wahrnehmung der Kinderarmut in Kaiserreich, Weimarer Republik und Nationalsozialismus hätten möglicherweise einen Blick auf größere Kontinuitätslinien erlaubt. Über die DDR wird beinahe gänzlich geschwiegen; das dritte Großkapitel begnügt sich hierzu mit wenigen Randbemerkungen. Doch ist die von Reichwein an mehreren Stellen erwähnte Diskrepanz zwischen (Kinder-)Armut und ihrer Thematisierung gerade in der DDR-Gesellschaft frappierend. Insbesondere Kinder wurden hier durch entsprechende politisch-mediale Inszenierung als „würdige“ Arme hofiert, obwohl die tatsächlichen Soziallagen zumal kinderreicher Familien diese Verheißungen stark konterkarierten. Einige knappe Verweise auf Kinderarmut in der DDR hätten sicher – bei allen Divergenzen – interessante Parallelen zu Tage gefördert.

Trotz dieser inhaltlichen wie methodischen Einwände ist Eva Reichweins Darstellung für alle diejenigen zentral, die sich aus zeithistorischer Perspektive mit Armut und Armutswahrnehmung in der Bundesrepublik beschäftigen. Die Studie besitzt hohen Aktualitätsbezug, geraten doch Diskussionen um soziale Ungleichheit gerade in Bezug auf Bildungschancen immer wieder in einen breiten öffentlichen Fokus. Den Widerspruch, dass Kinderarmut als „Menetekel“ für den Sozialstaat einerseits kollektiv beschwiegen wird, andererseits Kinder als unbedingt unterstützungswürdige Arme Empathie und Aufsehen erregen, kann die Autorin anschaulich und überzeugend belegen.

Anmerkung:
1 U.a. Friederike Föcking, Fürsorge im Wirtschaftsboom. Die Entstehung des Bundessozialhilfegesetzes von 1961, München 2007; Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung / Bundesarchiv (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, 11 Bde., Baden-Baden 2001–2008.

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