Cover
Titel
Der überforderte Mensch. Eine Wissensgeschichte vom Stress zum Burnout


Autor(en)
Kury, Patrick
Reihe
Campus Historische Studien 66
Erschienen
Frankfurt am Main 2012: Campus Verlag
Anzahl Seiten
342 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jens Elberfeld, Bielefeld Graduate School in History and Sociology, Universität Bielefeld

Im Jahr 1953 stellte ein anonym bleibender Arzt in der „Deutschen Medizinischen Wochenschrift“ die Frage: „Was heißt Streß?“ (S. 112). Dieses Beispiel damaliger Unkenntnis des Begriffs steht in scharfem Kontrast zu dessen heutiger Verwendung als Chiffre in medizinischen ebenso wie in gesellschafts- und kulturkritischen Diagnosen. Der Berner Historiker Patrick Kury spürt in seiner Habilitationsschrift den Anfängen, dem Wandel und der Verbreitung des Stress-Konzepts im Laufe des 20. Jahrhunderts nach. Die Studie ist chronologisch gegliedert; sie legt den Schwerpunkt auf die Bundesrepublik und den deutschsprachigen Raum, punktuell erweitert um Nordamerika und Skandinavien. Die Anfänge der Stress-Geschichte macht Kury in der Neurasthenie aus, welche zwischen den 1880er-Jahren und dem Ersten Weltkrieg zur emblematischen Zivilisationskrankheit des Fin de Siècle wurde. Für beide Konzepte charakteristisch ist eine „ubiquitäre Symptomatologie des Leidens“ (Hans-Georg Hofer), die Betonung von Ermüdung und Erschöpfung, eine rasante Verbreitung innerhalb der Medizin und Psychiatrie sowie in Massenmedien und Populärkultur.

Im heutigen Sinn verwandte erstmals Walter B. Cannon den Stress-Begriff (1914). Zuvor diente er innerhalb der Physik und Materialforschung zur Bezeichnung der Belastbarkeit von Metallprodukten. Cannon indes umschrieb damit die physiologische Funktionsweise von Emotionen. Wenngleich er mit seinem Homöostase-Modell einer der Ideengeber wurde, entstand ein dezidiertes Stress-Konzept erst zwischen Mitte der 1930er- und Anfang der 1950er-Jahre. Eng verbunden war es mit dem österreichisch-kanadischen Endokrinologen Hans Selye und dessen „Allgemeinem Anpassungssyndrom“. Es handelt sich dabei um ein Modell, welches spezifische physiologische Anpassungsreaktionen des Organismus, bei Menschen wie bei Tieren, an unspezifische Herausforderungen oder Schädigungen beschreibt. Stress verstanden als ein psychosoziales Phänomen spielte zu Beginn noch keine Rolle. Dies änderte sich mit dem wachsenden Interesse der US-amerikanischen Militärpsychiatrie an Belastungs- und Ermüdungszuständen während des Zweiten Weltkriegs. Diesen Untersuchungen mangelte es jedoch an einer konzeptionellen Basis, die Selye schließlich bereitstellte – auch mit Rückgriff auf die Stress-Terminologie.

In den späten 1960er-Jahren verschob sich die Perspektive von allgemeinen physiologischen Reaktionsweisen zu sozialen Ursachen und individuellen Umgangsweisen mit Stress. Federführend bei der Entwicklung des psychosozialen Stress-Modells war der schwedische Mediziner Lennart Levi. Seine wissenschaftliche Tätigkeit wies gesellschaftspolitische Implikationen auf, welche dem skandinavischen Wohlfahrtsstaat entsprangen und auf Sozialreformen abzielten. Die Beseitigung schädigender Umwelteinflüsse sowie die Förderung der individuellen Lebensqualität standen seit den 1970er-Jahren auf der Agenda – nicht nur, aber auch in den Debatten um Stress.

In der Bundesrepublik fand zunächst ein anderes Phänomen größere Aufmerksamkeit: die so genannte Managerkrankheit. Der Begriff tauchte zu Beginn der 1950er-Jahre auf und verbreitete sich rasch. Er bezeichnete ein vages und offenes Krankheitskonzept, welches somatische Leiden ebenso umfasste wie psychische. Seine Popularität erlangte es im Kontext gesellschaftlicher Debatten um Leistungsdruck sowie daraus resultierende Erkrankungen und Todesfälle. Kury macht in der Vorstellung eines drohenden Wegsterbens der politischen und wirtschaftlichen Elite eine fixe Idee der jungen Bundesrepublik aus, welche dazu diente, Ängste und Sorgen um die Folgen von Wiederaufbau und Wirtschaftswunder zu artikulieren. Durch das Ausblenden von Krieg, Verfolgung und Vernichtung im Nationalsozialismus ermöglichte die Diagnose der Managerkrankheit zudem eine Selbstviktimisierung insbesondere des männlichen Teils der westdeutschen Bevölkerung.

In den 1960er-Jahren kam es zu einer intensiveren Beschäftigung mit Stress im deutschsprachigen Raum. Vorreiter war die Psychosomatik, wohingegen die Psychiatrie erst Mitte der 1970er-Jahre das Thema aufgriff, als sich das psychosoziale Modell international durchsetzte. Diese lang währende Ignoranz seitens der westdeutschen Psychiatrie führt Kury auf eine Gemengelage medizinischer Kontinuitäten sowie auf die Vergangenheitspolitik der Adenauer-Ära zurück. Angefangen mit dem Ersten Weltkrieg fanden psychische Störungen von Soldaten kaum Akzeptanz. Diese psychiatrische und sozialrechtliche Stigmatisierung und Individualisierung kriegs- und verfolgungsbedingter Traumata änderte sich nach dem Zweiten Weltkrieg nicht. Hingegen wurde in anderen westlichen Staaten die Debatte über psychische Traumatisierungen gerade von der Befassung mit den psychischen Folgen für die Opfer des Nationalsozialismus angetrieben.

Mitte der 1970er-Jahre setzte sich schließlich auch in der Bundesrepublik das psychosoziale Stresskonzept auf breiter Front durch. Von der Wissenschaft bis in die Massenmedien wurde Stress zu einem intensiv diskutierten Phänomen. Großen Anteil daran hatte der Biokybernetiker und Sachbuchautor Frederic Vester mit seinem Bestseller „Phänomen Streß“ von 1976 (zugleich als mehrteilige TV-Reportage ausgestrahlt). In Vesters Buch, das Selye mit einer persönlichen Empfehlung versehen hatte, wurde ein Übermaß an stressauslösenden Reizen in modernen Industriegesellschaften diagnostiziert. Der kybernetisch-holistische Ansatz Vesters ermöglichte ferner den Anschluss an zeitgenössische Diskurse um ökologische wie ökonomische Krisen. Kury sieht dementsprechend den Erfolg des Stress-Konzepts zu einem Gutteil in der Suche nach einem neuen Mensch-Umwelt-Verhältnis begründet. Darüber hinaus fügten sich die zahlreich publizierten Stress-Ratgeber in den Trend zur Therapeutisierung ein, welcher einherging mit der Transformation des Gesundheitssystems und der steigenden Relevanz von Prophylaxe, Prävention und gesunder Lebensführung.

In den 1990er-Jahren erlebte das Stress-Konzept eine Verschiebung respektive Ergänzung um den „Burnout“, welcher als Sammelbegriff für psychisches Unbehagen und Erschöpfung in Folge von zu viel Stress fungiert. Die Anfänge liegen in den frühen 1970er-Jahren, als wiederum in den USA der Begriff erstmals mit seiner heutigen Bedeutung in der medizinischen Fachliteratur auftauchte. Mittlerweile ist Burnout zu einer der weltweit am häufigsten diagnostizierten psychischen Störungen avanciert, und das, obwohl er – noch – nicht als eigenständige Krankheit klassifiziert worden ist. Im Vergleich zu Neurasthenie und Managerkrankheit ist er, folgt man dem Autor, eine Volkskrankheit. Diese betrifft alle Schichten und Gruppen und ist zudem positiver konnotiert als die beiden vorherigen Erschöpfungsleiden.

Kury führt die Popularität des Konzepts auf soziale Prozesse wie Flexibilisierung, Beschleunigung und zunehmende Selbstoptimierung zurück. Die Begriffe „Stress“ bzw. „Burnout“ hätten diesbezüglich eine doppelte Funktion: „Sie ermöglichen einerseits, Belastungen und Unbehagen individueller und kollektiver Art zu formulieren und diese mit dem als pathogen gedeuteten, sozioökonomischen und ökologischen Wandel in Verbindung zu bringen. […] Andererseits, und das ist […] neu, führen Stress und Burnout zu einem fortlaufenden Akt individueller Selbstoptimierung und -disziplinierung: Indem die einzelnen Subjekte versuchen, Stress mittels Selbsttechniken zu bewältigen, passen sie sich laufend an die sich rasch ändernden Umweltbedingungen an.“ (S. 288f.) In dieser höchst ambivalenten Dopplung von Auflehnung und Anpassung liege schließlich auch die gouvernementale Dimension des „Stressbewältigungsdispositivs“ (Kury), welches Techniken der Selbst- und Fremdführung in spezifischer Weise miteinander verknüpfe und zur „Entvergesellschaftung gesellschaftlicher Problemlagen“ beitrage (S. 297).

Die Studie widmet sich einem aktuellen, höchst relevanten Thema und schließt eine Forschungslücke für den deutschsprachigen Raum. Sie ist theoretisch versiert und konzeptionell plausibel. Die Argumentation ist stringent und durchweg gut lesbar. Drei Punkte möchte ich abschließend kritisch anmerken. Erstens verwundert, dass im Theorie- und Methodenkapitel Bruno Latour und dessen Problematisierung der Unterscheidung zwischen Natur und Kultur bemüht werden, dass dies im weiteren Verlauf aber keine Rolle spielt. Zweitens ist die Quellengrundlage für einige Passagen etwas dünn. Dies überrascht umso mehr, als das Korpus des Autors an sich sehr umfangreich ist. Allerdings gilt dies vorrangig für den wissenschaftlich-medizinischen Bereich, weniger im Hinblick auf die weitergehende Verbreitung und Anwendung.

Der dritte und letzte Punkt ist eine allgemeinere Beobachtung: Wenngleich Kury an einigen Stellen auf ein Wechselspiel innerwissenschaftlicher Dynamiken, sozioökonomischer Umbrüche, technischer Innovationen, kultureller Muster und diskursiver Regeln hinweist, so drängt sich während der Lektüre mitunter ein anderer Eindruck auf. In der Argumentation scheint der Erfolg von „Stress“ und „Burnout“ eher eine Reaktion auf vorgelagerte sozioökonomische Veränderungen zu sein. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die an und für sich plausible Kontextualisierung innerhalb ökonomischer wie ökologischer Krisenwahrnehmungen der 1970er-Jahre. Folglich knüpft Kury an etablierte Narrative der Zeitgeschichtsschreibung an. Aus diskursanalytisch-poststrukturalistischer Warte ist dies gleichwohl nicht unproblematisch. Die angeführten Narrative entspringen letztlich einer Vorstellung von Gesellschaft, in der sich unterschiedlichste Prozesse und Phänomene auf einen Nenner bringen lassen, der für gewöhnlich politisch oder ökonomisch bestimmt ist. Dem wohnt sowohl die Annahme einer gesellschaftlichen Einheit bzw. eines Zentrums inne als auch ein latenter Reduktionismus im Hinblick auf scheinbar weiche, kulturelle Überbauphänomene. Außerdem folgt die Zeitgeschichtsschreibung dabei oftmals sozialwissenschaftlichen Zeitdiagnosen und gesellschaftlichen Selbstdeutungen, anstatt die fraglichen Trends zunächst einmal historisch umfassender zu untersuchen. Diese allgemeineren Überlegungen sollen allerdings den unbestreitbaren Wert von Patrick Kurys Arbeit keineswegs in Abrede stellen, sondern vielmehr einen Raum für weitere Diskussionen öffnen.