Cover
Titel
Adelige Moderne. Großgrundbesitz und ländliche Gesellschaft in England und Böhmen 1848–1918


Autor(en)
Tönsmeyer, Tatjana
Reihe
Industrielle Welt 83
Erschienen
Köln 2012: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
372 S.
Preis
€ 59,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rudolf Kucera, Masaryk Institute and Archives of the Czech Academy of Sciences, Prag

Vergleichende Adelsgeschichte gehört nicht zum Mainstream der gegenwärtigen Sozial- und Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts. Wenn auch in den letzten Jahren der Adel zunehmend in den Fokus der modernen Geschichtswissenschaft geriet, liegt der Schwerpunkt hauptsächlich auf der Geschichte einzelner Familien, Regionen oder Staaten. Anhand dieser wird das adlige „Obenbleiben“ betrachtet.1 Der europäische Elitenwandel des 19. Jahrhunderts wird dementsprechend häufig als eine Summe einzelner Regional- oder Nationalfälle dargestellt, in der die entsprechenden Vergleiche zur Präzisierung einzelner Thesen so gut wie gänzlich fehlen.

Das Buch von Tatjana Tönsmeyer stellt einen der wichtigsten und interessantesten Versuche dar, diese Lücke zu schließen. Am Beispiel von zwei enorm wichtigen europäischen Adelsgesellschaften geht sie der Frage nach der Aushandlung der „Herrschaft über Land und Leute“ nach, die sie als Kern der Adelsidentität sieht. Zugleich geht sie aber über die gegenwärtige Adelsforschung hinaus, denn Adelsgeschichte dient Tönsmeyer nicht bloß als eine Elitengeschichte.2 Der Blick auf die ausgewählten Adelsfamilien eröffnet der Autorin den Weg, auch die „beherrschte“ ländliche Gesellschaft in den Blick zu nehmen, die oft als Objekt neuer Aushandlungen adliger Herrschaft diente, in manchen Fällen aber auch als ein eigensinnig agierendes Subjekt handelte.

Die Wahl der Vergleichsobjekte mag auf den ersten Blick überraschen, ist aber bei genauerem Hinschauen mehr als überzeugend. Beide Adelslandschaften waren um die Mitte des 19. Jahrhunderts mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert, wobei beide diese Konfrontationen eher mit Erfolg bestanden. Die Revolution 1848 brachte in Böhmen eine tiefgehende Restrukturierung der Sozialverhältnisse auf dem Land, verkörpert zum Beispiel durch die Robotablösung oder die Einbeziehung des Grundbesitzes in das neu entstehende System der liberalen Lokalverwaltung. In England war es die Abschaffung der Schutzzölle auf Getreide im Jahr 1846, die die englische Aristokratie zwang, sich den neuen wirtschaftlichen Verhältnissen anzupassen.

Am Beispiel von ausgewählten adligen Magnatenfamilien legt Tönsmeyer überzeugend dar, dass es in beiden Regionen vor allem der Großgrundbesitz war, der der hohen Aristokratie nach der rechtlichen Abschaffung der alten Adelsprivilegien als Grundlage vieler Herrschaftspraktiken diente. Die Professionalisierung der Güterverwaltung, deren renditenorientierte Bewirtschaftung sowie die gelegentliche Industrialisierung ermöglichten sowohl der englischen als auch der böhmischen Aristokratie die Erzielung von hohen Profiten. Zugleich bedeutete aber die Hinwendung zu einer effizienten Landwirtschaft keineswegs eine „Verbürgerlichung des Adels“, denn es war in beiden Fällen immer noch der Landbezug, der als erste Komponente der aristokratischen Identität diente. Das Geld sowie die Dominanz in vielen gesellschaftlichen Strukturen der ländlichen Gesellschaft wurden dann von den Adligen benutzt, um die Herrschaft unter den veränderten Bedingungen neu auszuhandeln und zu stabilisieren, sie in verschiedenen Konflikten zielorientiert einzusetzen und somit auch die Optionen anderer Akteure zum eigensinnigen Handeln zu reduzieren.

Tönsmeyer geht zuerst den Konflikten der Aristokraten mit dem Rest der ländlichen Gesellschaft nach. Die Unterschiede zwischen den jeweiligen Untersuchungsgruppen führt Tönsmeyer auf einen stärkeren bürgerlichen Einfluss in England zurück. Die englischen Streitigkeiten um die Regulierung des Alkoholkonsums oder um die Bildung von Landarbeitergewerkschaften waren Konfliktfelder, die im Wesentlichen vom bürgerlichen Diskurs auf das Land getragen worden waren. In Böhmen entfalteten sich dagegen die meisten Konflikte der ländlichen Welt um typisch ländliche Themen, wie etwa um die Frage der Deputate oder der Waldnutzung. Dementsprechend sahen auch die konkreten Handlungspraktiken der ländlichen Akteure anders aus. In Böhmen griffen die Dorfbewohner immer noch auf die nur in einer nahen Vergangenheit liegenden Gewohnheitspraktiken zurück, wie etwa auf die Gewohnheit, mit Brennmaterial oder Kies versorgt zu werden. Dieser Weg war dagegen den englischen Pächtern versperrt.

Nach der Analyse der unterschiedlichen Eigenlogiken der ländlichen Akteure geht die Arbeit auf die verschiedenen Strategien der Stabilisierung von adliger Herrschaft in ihren „traditionellen“ und „modernen“ Formen ein. Bei beiden konstatiert Tönsmeyer eine weitgehende Fähigkeit des Adels, sein kulturelles Kapital einzusetzen und die Herrschaft somit eher auf symbolische als auf militärische oder politische Machtpraktiken zu stützen. Traditionelle Wohltätigkeit, Ausübung von Kirchenpatronaten oder die Gestaltung traditioneller Landfeste waren die wichtigsten Einzelteile des adligen Repertoires, mit dem die ländliche Aristokratie ihre Herrschaft über Land und Leute demonstrierte und verstärkte.

Die aktive Teilnahme am alltäglichen Leben der Dörfer half auch, die adlige Herrschaft gegen die neu entstehenden oder stärker werdenden Konkurrenten zu sichern. In England ging es vor allem um die entstehende Klassengesellschaft, in Böhmen um den sich entfaltenden tschechisch-deutschen Gegensatz. In beiden diesen Fällen war jedoch der Adel fähig, die konkurrierenden Ordnungsmodelle einzuhegen. Das böhmische Land war nach Tönsmeyers Befunde relativ wenig nationalisiert und das aktive Vorgehen der englischen Aristokratie gegen die Landarbeitergewerkschaften verhinderte eine stärkere Klassenpolarisierung.

Der Erfolg des adligen „Obenbleibens“ in England und Böhmen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist jedoch nach Tönsmeyer auch gewissen „modernen“ Formen der Herrschaftsstabilisierung zuzuschreiben. Sie geht vor allem zwei dieser Formen nach, nämlich der aristokratischen Beteiligung an den sich neu formierenden, liberalen Lokalverwaltungen und dem adligen Engagement in verschiedenen lokalen Vereinen und Verbänden. Sowohl in Böhmen als auch in England konstatiert Tönsmeyer eine relativ hohe Bereitschaft der Aristokratie, ihre Interessen bei den sich neu formierenden lokalen Körperschaften durchzusetzen und die lokale Politik in ihrem Sinne zu beeinflussen. Vor allem in Böhmen gelang es damit der Aristokratie, sich gegen einen weiteren wichtigen Herrschaftskonkurrenten durchzusetzen, der sich auf das Land mit zunehmender Vehemenz drängte, nämlich gegen den sich modernisierenden habsburgischen Staat. Für die Sphäre des Vereinsengagements stellt Tönsmeyer eine viel höhere Aktivität der böhmischen Aristokratie fest, die im Vergleich zu England viel mehr Vereinsfunktionen bekleidete, sich an dem alltäglichen Verfahren der ländlichen Vereine vielfältig beteiligte und insgesamt als ein integraler Bestandteil des Vereinslebens anzusehen ist.

Tatjana Tönsmeyer hat auf jeden Fall ein lesenswertes Buch geschrieben. Die Schilderung der beiden Vergleichsfälle, sowie die Analyse von Gemeinsamkeiten und Unterschieden und deren Erklärung ist quellen- und variantenreich, sowie sensibel für die Vielfältigkeiten, die eine lokal eingebettete vergleichende Geschichte nicht übergehen sollte. Dies ist nicht zufällig so. Tönsmeyers Untersuchung ist nicht nur empirisch reich und hinsichtlich der gemeisterten englischen und tschechischen Literatur beeindruckend. Vor allem ist sie durch einen souveränen Umgang mit der vergleichenden Methode gekennzeichnet, der sich nicht in von Quellen abgetrennten, abstrakten Typologien erschöpft, sondern ständig nach Variationen und deren spezifischen Erklärungen sucht. Leserisch gefällt besonders die Verbindung von systematischer Argumentation und Schilderung zahlreicher Einzelfälle aus den Quellen.

Wie in jedem Buch gibt es Stellen, mit denen sich nicht jeder Leser einverstanden erklären muss. Auch wenn der Titel etwas anderes suggeriert, erfährt man zum Beispiel sehr wenig über den Einfluss, den in beiden Fällen der Erste Weltkrieg hatte. Für einige Historiker mag auch die Terminologie problematisch erscheinen, da unter das Wort „Adel“ nur die hohe Aristokratie subsumiert und damit ein tiefgehender Wandel der jeweiligen Adelslandschaften übergangen wird, der sich in beiden Fällen in einer Welle von Nobilitierungen widerspiegelt. Der Adel als rechtlich definierte Personengruppe wurde gerade in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem durch diese zahlreichen Nobilitierungen vom Land getrennt und in den Katalog der Adelstugenden stiegen ganz andere Komponenten auf, als die von Tönsmeyer betonte Herrschaft über Land und Leute auf einem Grundbesitz.3

Diese partiellen Vorwürfe können aber nichts daran ändern, dass Tatjana Tönsmeyer ein Buch vorgelegt hat, das von der modernen Sozialgeschichte Europas nicht ignoriert werden sollte. Die methodische Stärke, tiefgehende Kenntnis der mehrsprachigen Literatur sowie breite Quellenrecherche machen aus dem rezensierten Buch einen sehr interessanten Beitrag, den die Adelsgeschichte der gegenwärtigen Sozial- und Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts geleistet hat.

Anmerkungen:
1 Vgl. z.B.: Charlotte Tacke, „Es kommt also darauf an, den Kurzschluss von der Begriffssprache auf die politische Geschichte zu vermeiden.“ „Adel“ und „Adeligkeit“ in der modernen Gesellschaft, in: Neue Politische Literatur 52 (2007), Nr. 1, S. 91–123.
2 Eckart Conze / Monika Wienfort, Themen und Perspektiven historischer Adelsforschung zum 19. und 20. Jahrhunderts, in: dies. (Hrsg.), Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, Köln 2004, S. 1–16, hier S. 11.
3 Vgl. z.B.: Jan Županič, Nová šlechta rakouského císařství, Prag 2006.

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