Im Sommer 1934 ereigneten sich in Türkisch Thrakien sowie einigen Ortschaften an den Dardanellen pogromartige Gewaltakte gegen die jüdische Bevölkerung. Diese reichten von Drohbriefen über Boykottaktionen bis zu physischen Angriffen. Die staatlichen Sicherheitskräfte duldeten die Aktionen weitgehend, an einigen Orten forderten sie die Juden zum Verlassen der Stadt auf. In Kırklareli kam es zu einem regelrechten Pogrom. Panikartig verließ die Mehrheit der Juden die Region. Erst als die Ereignisse in der internationalen Presse publik wurden, reagierte die türkische Regierung, verurteilte die Gewaltakte und rief die Juden auf, in ihre Heimatorte zurückzukehren. Doch unter dem Eindruck der Gewalt hatten viele Juden ihren Besitz zu lächerlichen Preisen veräußert und dadurch ihre Existenz verloren. Trotz Versprechungen stellte die Regierung den Juden keine Mittel zur Rückkehr zur Verfügung. So kehrte ein Großteil der Juden nicht nach Thrakien zurück. Damit leiteten die Ereignisse das Ende der jahrhundertealten Existenz dieser jüdischen Gemeinden ein.
Laut Berna Pekesen, die die Ausschreitungen in Thrakien in ihrer Dissertationsschrift analysiert, stehen diese im Widerspruch zum verbreiteten Bild einer „friedlichen türkisch-jüdischen Symbiose“, die die Historiographie in- aber auch außerhalb der Türkei lange geprägt habe (S. 29). Sie formuliert Fragen nach dem Stellenwert von Rassismus und Antisemitismus als Handlungsmotive der Gewaltakteure und nach dem Zusammenhang zur staatlichen Minderheitenpolitik (S. 30). Allerdings weist die Autorin bereits in der Einleitung auf ein entscheidendes Manko ihrer Untersuchung hin: die Quellenlage. Über die Ereignisse selbst liegen zahlreiche, zum Teil detaillierte Berichte vor. Hierzu gehören Aufzeichnungen ausländischer Konsuln und Diplomaten, Schilderungen jüdischer Zeitzeugen sowie eine Vielzahl ausländischer und jüdischer Presseberichte der Zeit.
Um genauere Informationen über die Täter und ihre Handlungsmotive zu erhalten, wie Pekesen es als eine zentrale Fragestellung formuliert, kämen als Quellen die Vernehmungsprotokolle der im Zusammenhang mit den Ereignissen Verhafteten oder Gerichtsakten in Betracht. Zu diesen erlangte die Autorin jedoch keinen Zugang. Die Archive des Innenministeriums oder der Polizei in der Türkei sind verschlossen. Über mögliche Versuche, lokale Gerichts- oder Verwaltungsakten aufzufinden, berichtet Pekesen nicht.
So stützt sich das erste Kapitel ihrer Arbeit, in welchem sie versucht, den Ablauf der Geschehnisse zu rekonstruieren, neben bereits veröffentlichter Literatur in erster Linie auf Konsulatsberichte. Es ist Pekesens Verdienst, hier als neue Quellen französische Primärquellen (Konsulatsberichte) einzubeziehen. Was die Gesamtschau betrifft, bietet ihre Arbeit indes wenig Neues. Sowohl Rıfat Bali als auch Hatice Bayraktar, die 2008 bzw. 2010 Monographien zum gleichen Thema vorlegten1, liefern deutlich mehr Details.
Zur theoretischen Einordnung der Ereignisse diskutiert Pekesen in ihrem ausführlichen zweiten Kapitel den Zusammenhang von Nation, Modernisierung und Gewalt. Beeindruckend ist die Menge der vorgestellten Literatur, darunter zahlreiche neuere Arbeiten zur kollektiven Gewalt im Zusammenhang mit dem Zerfall multiethnischer Großreiche in Ost- und Südosteuropa und dem Prozess des Nation Building.
Als wichtiges gewaltförderndes Element stellt sie die Ungleichzeitigkeit von Staatsbildung und Nationsbildung heraus. Diese Ungleichzeitigkeit ist ein charakteristisches Merkmal der Entstehung des türkischen Nationalstaates. Als weiteres Strukturmerkmal von Massengewalt nennt sie das mit der Nationalstaatsbildung häufig verbundene Projekt der Modernisierung, wie es sowohl von den Jungtürken als auch von ihren politischen Nachfolgern, der kemalistischen Bewegung, verfochten wurde. Leider setzt die Autorin die im „Theorieteil“ diskutierten Thesen in den nachfolgenden Kapiteln kaum zu den dort referierten Fakten in Bezug. So verweist sie zum Beispiel auf Dominik Schaller und Christian Gerlach, die betonen, dass ein zentrales Handlungsmotiv der Täter bei Massengewalt wie Genozid oder Vertreibung häufig im Raub des Eigentums der Vertriebenen liegt (S. 93). In ihrer Darstellung der „Befreiungsbewegung“ lässt sie jedoch unerwähnt, dass die „Verteidigung“ des von den vertriebenen Christen geraubten Besitzes ein zentrales Motiv vieler Muslime war, sich der Nationalbewegung anzuschließen. Die Frage, ob auch die Gewaltakte gegen die thrakischen Juden durch die Aussicht auf „Übernahme“ ihres Besitzes motiviert war, wirft sie auf, verfolgt diese Spur jedoch nicht weiter.
In den folgenden Kapiteln behandelt sie die Geschichte der Juden im Osmanischen Reich (Kapitel 3), die Entstehung der türkischen Republik durch den „Befreiungskrieg“ (Kapitel 4), die Türkisierungspolitik der Republik (Kapitel 5), und schließlich die Siedlungs- und Bevölkerungspolitik (Kapitel 6.)
Als verdienstvoll sind hier zwei Unterkapitel vorzustellen, die zu zwei kontrovers diskutierten Fragen neue Erkenntnisse liefern: In Kapitel 5.6 geht es um die Rolle Cevat Rıfat Atilhans und um die Bedeutung Nazideutschlands für die antisemitischen Ereignisse. Atilhan ist eine der zentralen Figuren des türkischen Antisemitismus. Wenige Wochen vor den Ereignissen in Thrakien hatte er begonnen, eine antisemitischen Zeitschrift namens Millî İnkilâp (Nationale Revolution) herauszugeben. Diese ähnelte nicht nur in Stil und Aufmachung dem Stürmer, sondern übernahm mehrere Artikel und Karikaturen direkt aus dem Naziblatt. Atilhan prahlte mehrfach, er habe in Deutschland hohe Nazigrößen getroffen und von diesen große Geldsummen erhalten. Diese Aussagen wurden in Untersuchungen zum Thema unhinterfragt aufgegriffen und hielten sich hartnäckig in der Historiographie. Mehrere Autoren hatten Atilhans behauptete Finanzierung aus Deutschland als Beleg dafür angeführt, die Gewalttaten seien dem „Einfluss Nazideutschlands“ zuzuschreiben. Diese Sichtweise folgt der „offiziellen“ türkischen Argumentation, die die eigenständige Existenz von Antisemitismus in der Türkei bestreitet. Auf Grundlage einer Auswertung von Akten im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes kann Pekesen nachweisen, dass eine Finanzierung durch das deutsche Konsulat bzw. die deutsche Botschaft nicht erfolgte (S. 201f.). Wie Hatice Bayraktars akribische Recherchen belegen, entsprangen auch Atilhans Kontakte zu einflussreichen Nazipolitkern seiner Fantasie.
Unabhängig von der Rolle Atilhans und seiner Kontakte nach Deutschland zeugen die Gewaltakte davon, dass es in Teilen der Bevölkerung antisemitische Einstellungen gab, die sich nicht einfach „importieren“ lassen. Eine Analyse antisemitischer Inhalte in türkischen Publikationen jener Zeit wäre ein lohnendes Projekt gewesen. Leider stützt sich Pekesen in ihrem Unterkapitel „Judenfeindliche Strömungen in der Zwischenkriegszeit“ fast ausschließlich auf Sekundärliteratur bzw. Konsulatsakten. Hier besteht weiterhin ein wichtiges Forschungsdesiderat.
Positiv hervorzuheben ist auch das Kapitel 4.2 über İbrahim Tali [Öngören]. Tali war wenige Wochen vor dem Pogrom zum Generalinspektor der Region Thrakien und Çanakkale ernannt worden und hatte eine mehrwöchige Inspektionsreise durch die Region unternommen. Sein im Anschluss verfasster Bericht ist geradezu gespickt von antisemitischen Stereotypen. Dieser von Pekesen aufgefundene Bericht ist von zentraler Bedeutung.2 Er widerlegt nicht nur die Behauptung der damaligen türkischen Regierung, es gäbe keinen Antisemitismus in der Türkei, sondern ist als wichtiges Indiz für eine staatliche Verantwortung an der Vertreibung der Juden zu werten. Tali war der ranghöchste Beamte der Republik in diesem Gebiet und besaß weitgehende politische und militärische Vollmachten.
Insgesamt ist Pekesens Arbeit jedoch in weiten Teilen enttäuschend. Zahlreiche handwerkliche Fehler, Anachronismen und Ungereimtheiten schmälern den Wert ihrer Arbeit erheblich. In den Kapiteln 3 und 5 referiert sie Daten und Fakten aus der Sekundärliteratur, die teilweise in eklatantem Widerspruch zueinander stehen, offenbar ohne dass sie sich dessen bewusst wird, da sie diese Widersprüche nicht erwähnt und auch nicht auf mögliche Forschungskontroversen hinweist. Viele der Zahlen, die sie in ihrem Kapitel über die Siedlungs- und Bevölkerungspolitik zitiert, sind schlicht absurd: Auf S. 203 berichtet sie unter Verweis auf McCarthy, Anatolien habe infolge des Krieges von 1912–1922 zwanzig Prozent seiner christlichen Bevölkerung verloren. Eine Seite weiter schreibt sie, dass laut Çağlar Keyder Nicht-Muslime bis zum Ersten Weltkrieg zwanzig Prozent der anatolischen Bevölkerung stellten, deren Anteil nach dem Krieg auf 2,5 Prozent (folglich um über 85 Prozent!) sank. Die grundlegende Problematik, dass die Angaben der von verschiedenen Seiten durchgeführten Zählungen im Osmanischen Reich stark voneinander abweichen, da sie in direktem Zusammenhang zur Debatte um die Situation der Minderheiten standen und häufig politisch motiviert waren, thematisiert sie nicht.
Auch Pekesens Umgang mit Sprache und Begrifflichkeiten zeugt von mangelnder Reflexion. Obwohl die ausgrenzende Politik der türkischen Republik gegenüber der jüdischen Minderheit Gegenstand ihrer Arbeit ist, benutzt sie selbst häufig Begriffe, die diese Exklusion sprachlich vollzogen: So nennt sie die im Lausanner Vertrag garantierten Minderheitenrechte „Privilegien“ (S. 271) und Angehörige der Minderheiten nicht-türkischer Muttersprache „fremdsprachige Bürger der Türkei“ (S. 16, Fußnote 1, S. 42).
Ebenso ärgerlich ist es, wenn sie Angehörige oder Nachfahren der Dönme als Juden bezeichnet: Cevat Rıfat Atilhan wurde nicht „wegen seiner Verwicklung in die Ermordung eines Juden“ verhaftet (S. 195) sondern für seine Beteiligung am (missglückten) Mordanschlag auf Ahmet Yalman, einen bekannten Publizisten der Türkei. Dieser war nicht Jude, sondern stammte aus einer Dönme-Familie.3 Auch die Publizistin Sabiha Sertel (ebenfalls aus einer Dönme-Familie) bezeichnet Pekesen als Jüdin (S. 228, Fußnote 106). Für ein Werk zu dessen zentralen Themen das Aufkommen des Antisemitismus in der Republik Türkei gehört, ist dies keine Nebensächlichkeit. Mit Gründung der Republik und der Einbeziehung der Dönme in den türkisch-griechischen Bevölkerungsaustausch (S. 147) entwickelte sich ein spezifischer Antisemitismus, der die Dönme als „Kryptojuden“ bezeichnet, die die Türkei zu beherrschen trachten. Diese Sicht ist in der heutigen Türkei ein Massenphänomen!
Pekesens Buch sollte offenbar „der große Wurf“ sein. In befremdlicher Weise wertet sie alle bisherigen Arbeiten als „publizistisch“ ab oder ignoriert sie. Sie selbst erhebt den Anspruch, das Thema erstmals „im Rahmen der historischen Forschung“ zu behandeln (S. 267). Dem wird ihre Arbeit nicht gerecht.
Anmerkungen:
1 Rıfat N. Bali, 1934 Trakya Olayları, İstanbul 2008; Hatice Bayraktar, „Zweideutige Individuen in schlechter Absicht“. Die antisemitischen Ausschreitungen in Thrakien 1934 und ihre Hintergründe, Berlin 2011.
2 Cumhuriyet Başbakanlık Arşivi, Signatur: 490.01.643.30.1. Erstmals veröffentlicht von Hatice Bayraktar, The anti-Jewish pogrom in Eastern Thrace in 1934. New evidence for the responsibility of the Turkish government, in: Patterns of Prejudice 40 (2006) 2, S. 95–111.
3 Als Dönme (Konvertit, Renegat) werden in der Türkei die Angehörigen einer Religionsgemeinschaft bezeichnet, die auf Sabbatai Zvi zurückgeht, der sich im 17. Jahrhundert zum „jüdischen Messias“ erklärte und später zum Islam konvertierte; ausführlich: Marc Baer, Jewish Converts, Muslim Revolutionaries, and Secular Turks, Stanford 2009.