Vor 1933 lebte fast ein Drittel der deutschen Juden in der Reichshauptstadt Berlin, die nicht nur das unbestrittene kulturelle Zentrum jüdischen Lebens bildete. Mit rund 50.000 jüdischen Gewerbebetrieben fungierte Berlin auch als zentraler Ort jüdischer Wirtschaftstätigkeit in Deutschland. Dennoch wurde die wirtschaftliche Existenzvernichtung der Juden in Berlin lange Zeit nicht systematisch aufgearbeitet – ein Desiderat, das umso mehr auffällt, als für viele andere Städte und Regionen mittlerweile zahlreiche Studien zu diesem Thema vorliegen.1 Ein ähnlicher Befund gilt bislang auch für die NS-Geschichte Berlins insgesamt, und dies trotz einer Fülle von Universitäten, Forschungseinrichtungen, Gedenkstätten und Museen in Berlin, die in der Bundesrepublik ihresgleichen sucht.2
Insofern schließt die vorliegende Arbeit Christoph Kreutzmüllers eine dringende Forschungslücke und muss sich doch zugleich an dem bisherigen Stand der Forschung messen lassen: Fügt sie diesem lediglich ein paar lokale Fußnoten hinzu, oder eröffnet der Blick auf Berlin darüber hinaus auch neue Erkenntnisse und Perspektiven auf das Thema insgesamt? Um es gleich vorweg zu sagen: Letzteres ist eindeutig der Fall. Dazu trägt nicht zuletzt auch die quantifizierende Herangehensweise bei, die wegen der enormen Quellenprobleme für Großstädte bislang selten praktiziert wurde, sodass belastbare Zahlen über „Arisierung“ und wirtschaftliche Existenzvernichtung vor allem für kleine und mittlere Städte vorliegen. Vor allem die quantitativ unterfütterte Gesamtperspektive auf Berlin vermittelt in mancherlei Hinsicht überraschende Einsichten.
Entstanden ist die Arbeit im Rahmen eines von Ludolf Herbst angeregten komparativen Forschungsprojektes, an dem unter anderem auch Ingo Loose und Benno Nietzel mit Forschungen zu Breslau und Frankfurt am Main beteiligt waren.3 Eine zentrale Arbeitsgrundlage der vorliegenden Arbeit bildet die in ungeheurer Kärrnerarbeit erstellte „Datenbank jüdischer Gewerbebetriebe in Berlin“, die auf Handelsregistereinträgen und zahlreichen weiteren Quellengruppen basiert, insgesamt 8.012 jüdische Gewerbebetriebe umfasst und es ermöglicht, den Verdrängungsprozess jüdischer Unternehmen nach 1933 relativ präzise zu erfassen. Zunächst bestätigt der Blick auf Berlin eine bisherige Erkenntnis der Forschung, dass sich diese Verdrängung umgekehrt proportional zur Ortsgröße entwickelte, das heißt in Klein- und Mittelstädten wesentlich schneller als in Großstädten verlief. Bis 1938 hatte die Zahl jüdischer Gewerbebetriebe in Berlin um lediglich 28,7 Prozent abgenommen, wobei die Verdrängungsquote in Branchen wie Textil/Bekleidung oder Leder- und Schuhwaren unter 20 Prozent lag und jüdische Unternehmen in diesen Wirtschaftsbereichen trotz aller politischer Repression ein beträchtliches Beharrungsvermögen offenbarten. Ein näherer Blick zeigt jedoch, dass der Verdrängungsprozess in Berlin alles andere als linear verlief: Neben zahlreichen jüdischen Unternehmen, die nach 1933 „arisiert“ oder liquidiert wurden, gab es nicht wenige, die nach 1933 neu als Gewerbebetrieb angemeldet wurden: Rund 2.800 Löschungen von Betrieben im Handelsregister stand im Zeitraum von 1933 bis 1937 mehr als tausend Neuanmeldungen gegenüber. Die Reichshauptstadt fungierte in besonderer Weise als Zufluchtsort für Juden aus anderen Regionen des Reiches, die ihr Unternehmen dort aufgegeben hatten und in Berlin einen wirtschaftlichen Neuanfang versuchten – und dies unter Rahmenbedingungen, die auch in Berlin alles andere als vorteilhaft waren. Überdies konnten sich nicht wenige jüdische Unternehmen auch nach dem Novemberpogrom 1938/39 halten. Bislang war oft fälschlich angenommen worden, dass die zum 1. Januar 1939 erzwungene Schließung jüdischer Einzelhandelsgeschäfte und Handwerksbetriebe auch die Tätigkeit jüdischer Unternehmen insgesamt beendete. Der Blick auf Berlin zeigt hingegen, dass sich die Liquidation jüdischer Gewerbebetriebe deutlich länger hinzog und oft erst mit der Deportation des betreffenden Gewerbetreibenden endete.
Dies alles deutet auf einen beachtlichen Selbstbehauptungswillen der betroffenen Juden hin, deren Abwehrstrategien in der vorliegenden Studie systematisch untersucht werden. Sie reichten von kollektiven jüdischen Unterstützungsmaßnahmen der in Berlin ebenso großen wie leistungsfähigen jüdischen Gemeinde bis hin zu zahllosen individuellen Gegenstrategien jüdischer Gewerbetreibender, die oft gegen Gebote und Anordnung verstießen oder trickreich umgingen, ihre Geschäftstätigkeit dem Bedarf flexibel anpassten und noch vorhandene legale Mittel auszuschöpfen versuchten. Hier wie an vielen anderen Stellen ergänzt der Autor die quantifizierende Perspektive durch die qualitative Analyse interessanter Einzelfälle. Das Kapitel über die Abwehrstrategien jüdischer Gewerbetreibender gehört zweifelsohne zu den stärksten und innovativsten Teilen der Studie, die das oft formulierte Desiderat überzeugend einlöst, die betroffenen Juden nicht nur als Objekte, sondern als eigenständige Akteure wahrzunehmen und darzustellen.
Positiv hervorzuheben ist auch die Fähigkeit des Autors, das gerade in Berlin besonders komplexe und unübersichtliche Gesamttableau der Handelnden und Beteiligten klar strukturiert darzustellen: In Berlin überschnitten sich Reichs- und Regionalinstitutionen bei der Judenverfolgung, und die von Joseph Goebbels und seinem stellvertretenden Gauleiter Arthur Görlitzer angeführten NS-Parteiformationen taten sich oft durch einen rabiaten Antisemitismus und eine hohe Gewaltbereitschaft hervor. Andererseits war besonders die Reichshauptstadt dem kritischen Blick der Welt ausgesetzt und wies eine hohe Dichte von Botschaften und Konsulaten auf, die im Bedarfsfall protestierten und intervenierten. Immerhin besaß in Berlin ein knappes Viertel der jüdischen Gewerbetreibenden einen ausländischen Pass. Wie andernorts auch waren darüber hinaus die Industrie- und Handelskammer, die Fachverbände der gewerblichen Wirtschaft und eine Fülle von – wie sie der Autor nennt – „Zaungästen und Nutznießern“ in die wirtschaftliche Existenzvernichtung der Berliner Juden involviert, die nicht allein ein politischer, sondern vor allem auch ein gesellschaftlicher Prozess war. Gerne hätte man noch etwas mehr und konkreteres über die jeweiligen Handlungsspielräume und Einflusssphären der Beteiligten anhand entsprechender Einzelfälle erfahren, die sich allerdings erfahrungsgemäß nur schwer empirisch konkretisieren lassen.
Insgesamt hat Christoph Kreutzmüller eine quellengesättigte, souverän strukturierte und überdies gut geschriebene Studie vorgelegt, die im hinlänglich beforschten Feld der „Arisierung“ und wirtschaftlichen Existenzvernichtung mit teilweise neuen Erkenntnissen aufwartet – auch über Berlin hinaus.
Anmerkungen:
1 Vgl. den instruktiven Überblick bei Benno Nietzel, Die Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz der deutschen Juden 1933–1945. Ein Literatur- und Forschungsbericht, in: Archiv für Sozialgeschichte 49 (2009), S. 561–613.
2 In jüngster Zeit und demnächst wird diese auffallende Forschungslücke jedoch geschlossen. Vgl. Rüdiger Hachtmann / Thomas Schaarschmidt / Winfried Süß (Hrsg.), Berlin im Nationalsozialismus. Politik und Gesellschaft 1933–1945 (Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus 27), Göttingen 2011; demnächst: Michael Wildt / Christoph Kreutzmüller (Hrsg.), Berlin 1933–1945. Stadt und Gesellschaft im Nationalsozialismus, Berlin 2013.
3 Benno Nietzel, Handeln und Überleben. Jüdische Unternehmer aus Frankfurt am Main von den 1920er bis in die 1960er Jahre, Göttingen 2012; Christoph Kreutzmüller / Ingo Loose / Benno Nietzel, Nazi Persecution and Strategies for Survival. Jewish Businesses in Berlin, Frankfurt am Main, and Breslau 1933–1942, in: Yad Vashem Studies 39 (2011), S. 31–70.