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Titel
Familienbilder. Sozialer Wandel, Wissenschaft und Familienpolitik in der BRD 1954–1982


Autor(en)
Jakob, Mark
Erschienen
Wiesbaden 2018: Springer VS
Anzahl Seiten
XVI, 362 S.
Preis
€ 49,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christopher Neumaier, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

In seiner Studie Familienbilder diskutiert Mark Jakob schlüssig, wie sich in der Bundesrepublik zwischen 1954 und 1982 die Sozialstruktur der Familie veränderte, wie „die Wissenschaft“ diese Prozesse analysierte und beschrieb und welche Konsequenzen sich daraus für die Familienpolitik ergaben. Im Fokus steht dabei der „Wandel der Vorstellung von Gesellschaft im wissenschaftlich-politischen Dialog“ (S. 1).

Jakob verweist auf die Austauschbeziehung zwischen der sozialen Institution Familie und den wissenschaftlichen Gesellschaftsbeschreibungen sowie den politischen Entscheidungsprozessen. Damit einher geht die Frage, ob sich zunächst die Sozialstruktur veränderte und dies wissenschaftliche Arbeiten und politische Entscheidungen beeinflusste oder ob eine Wertsetzung vonseiten der Politik und der Wissenschaft erfolgte. In gewisser Weise scheint damit einerseits eine Veränderung zwangsläufig zu sein. Andererseits wohnt Familie als sozialer Institution, aber auch den politischen Debatten eine gewisse Statik inne. Veränderungen können folglich ausbleiben. Jakob konstatiert infolgedessen, dass bestimmte Themen wie der „Familienlastenausgleich“ eine gewisse Resilienz aufwiesen, da sie über den gesamten Untersuchungszeitraum relevant blieben. Zudem war „Familie“ ein hoch emotional aufgeladenes Thema, da die politischen Parteien, Wissenschaftler, aber auch Kirchenvertreter – die in der Arbeit weniger berücksichtigt werden – unterschiedliche Ansichten vertraten, welche Wesensmerkmale eine Familie aufweisen und wie die Familie gefördert werden müsse. Zudem verhandelten sie über das Thema „Familie“ Gesellschaftsvorstellungen, die bisweilen zwischen den Polen „patriarchalisch“ und „egalitär-gleichberechtigt-partnerschaftlich“ standen.1 Da Politik und wissenschaftliche Beratung miteinander verbunden waren, fragt Jakob, wie normative „Werturteile und wissenschaftliche Urteile“ zusammenhingen und welche Bilder von „gesellschaftlicher Wirklichkeit“ (S. 1) von Politik und Wissenschaft konstruiert wurden.

Eingebettet war Jakobs Dissertationsprojekt in den Frankfurter SFB 435 „Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel“, der von der Prämisse ausging, dass sich ab den 1960er-Jahren der „Begriff von ‚Gesellschaft‘“ – oder vielleicht präziser das Verständnis von Gesellschaft – radikal verändert und dies massiv auf politische Entscheidungsprozesse rückgewirkt habe. Diese Ausgangshypothese greift Jakob auf und zeichnet sie dezidiert am Beispiel der Familienpolitik Westdeutschlands nach. Er benennt eingangs zwei zentrale Interpretationslinien, die sich zu widersprechen scheinen. Erstens stuften Zeitgenossen den Zustand und die Zukunft „der Familie“ als gefährdet ein. Als Beleg verwiesen sie auf den Scheidungsanstieg und die rückläufigen Geburten- und Eheschließungszahlen. Bisweilen wurde die Entwicklung mit einem „Untergangszenario“ gleichgesetzt. Gleichzeitig könne jedoch zweitens nicht von einer Krise der Familie gesprochen werden, da die Mehrzahl der Deutschen weiterhin in einer Familie aufwuchs. Hier zeigt sich, dass der Krisentopos kontextspezifisch ist. Denn wenn nach dem jeweiligen zeitgenössischen Verständnis „die Familie“ aus einem heterosexuellen, verheirateten Paar mit gemeinsam gezeugten Kindern bestand und die Ehescheidung kategorisch ausgeschlossen war, dann konnten die Veränderungen als eine „Krise“ oder ein drohender „Untergang“ gelesen werden. Wenn demgegenüber ein weitergefasster Familienbegriff verwendet wurde, der geschiedene oder alleinerziehende Mütter mit ihren Kindern oder unverheiratete Paare mit Kindern inkludierte, dann erschienen zeitgenössisch die Veränderungen nicht notwendigerweise als krisenhaft. Insofern zeigt sich, dass die gewählte Perspektive beim Untersuchungsgegenstand Familie die Interpretation vorgab.

Wissenschaftlicher Befund und normatives Werturteil waren somit aufeinander bezogen. Jakob betont ferner, dass damit auch stets die Frage verknüpft war, welche „Leistungen“ die Institution Familie für die Gesellschaft zu übernehmen habe. Damit verweist er auf einen zentralen Aspekt, der über das gesamte 20. Jahrhundert hinweg verhandelt wurde. Darüber hinaus müsste jedoch berücksichtigt werden, dass die Familie nicht nur Funktionen für die Gesellschaft übernahm. Vielmehr hatte sie als Lebensgemeinschaft auch eine zentrale Bedeutung für die Familienmitglieder, was jedoch aufgrund von Jakobs methodischem Zugriff tendenziell ausgespart bleibt.

Indem Jakob die Sozialstruktur der Familie, die Wissensgenerierung in den politischen Institutionen sowie den Wissenstransfer zwischen Wissenschaft und Politik untersucht, kann er aufzeigen, wie sich das Verständnis von der Familie im Speziellen, aber auch das Selbstverständnis der westdeutschen Gesellschaft im Allgemeinen wandelte. Er leistet damit einen wichtigen Beitrag zu aktuellen Fragen der Zeitgeschichte. Zudem legt Jakob eingangs die Besonderheiten der Familienpolitik und die Bedeutung der Wissenschaft für politische Entscheidungsprozesse in „modernen Gesellschaften“ dar. Als dritten methodischen Zugriff verweist er auf die Systemtheorie und leitet daraus ab, wie Familie und Gesellschaft aufeinander bezogen sind. So würde sich Familie nicht als gesellschaftliches Teilsystem verstehen, weshalb keine eigenständige „Familienwissenschaft“ (S. 25) entstanden sei. Vielmehr habe die wissenschaftliche Analyse der Familie immer erst dann eingesetzt, wenn die Institution Familie mit anderen Teilsystemen in Kontakt kam (Erziehung und Bildung, Wirtschaft, Gesundheit, Religion, Recht). Zu fragen wäre, ob Jakob infolge des Rückgriffs auf die Systemtheorie den institutionellen Charakter von Familie nicht zu stark akzentuiert. Denn schließlich bleibt an dieser Stelle außen vor, dass Familie auch ein soziales Interaktionsgefüge von Individuen ist. Aus der Perspektive der Familienmitglieder ist dies ein entscheidendes Element. Familiensoziologen betonen infolgedessen den „Doppelcharakter“ von Familie als Institution wie auch als individuell ausgestaltbares Beziehungsgefüge.2

Jakobs Arbeit unterteilt sich in vier inhaltliche Kapitel. Zunächst liefert er einen Überblick zum soziostrukturellen Wandel in Westdeutschland zwischen 1949 und 1990. Insbesondere werden die demographische Entwicklung, die Zusammensetzung der Privathaushalte und allgemeinere wirtschaftliche Entwicklungen wie Familieneinkommen und Lebenshaltungskosten beleuchtet. Dann geht Jakob auf die wichtigsten familienrechtlichen und -politischen Entwicklungen im Untersuchungszeitraum ein, wobei ein Schwerpunkt auf den finanziellen Transferleistungen wie dem Kindergeld und dem Ehegattensplitting liegt. In den beiden folgenden Kapiteln analysiert Jakob, wie die Politiker und Wissenschaftler die ablaufenden Veränderungsprozesse wahrnahmen und deuteten. Insbesondere werden die zentralen Entwicklungen der „wissenschaftsgestützten Familienpolitik“ behandelt, wobei Jakob das Jahr 1969 als zentrale Zäsur sieht. Mit dem Start der sozialliberalen Koalition habe demnach ein neuer Abschnitt eingesetzt; gleichzeitig markiere diese Phase den Übergang zur Umbruchszeit der 1970er-Jahre, in denen im Unterschied zu den vorangegangenen Jahrzehnten in der zeitgenössischen Debatte auf die vermeintlichen Defizite der Kernfamilie und ihrer Sozialisationsleistung verwiesen wurde. Darauf aufbauend geht Jakob auf die „materiell nicht greifbaren, aber offenbar eminent wirkungsmächtigen Verschiebungen der normativen gesellschaftlichen Strukturen“ (S. 33) ein – insbesondere den zeitgenössisch wahrgenommenen Wertewandel.

Aufbau und Argument der Arbeit sind überzeugend, da Jakob an bisherige Studien zur Geschichte der Familienpolitik anschließt und diese in bestimmten Bereichen vertieft.3 Da aber zum Beispiel die beiden zentralen inhaltlichen Kapitel im Aufbau parallel angelegt sind („institutionelle Ausgestaltung der Familienpolitik“ und „ihrer wissenschaftlichen Beratungsgremien“), ergeben sich beim Lesen gewisse Redundanzen; der Text ist in inhaltliche Blöcke gegliedert, was der Lesbarkeit etwas abträglich ist. Andererseits ist Jakobs Arbeit so strukturiert, dass sich aus jedem der Kapitel schnell die benötigten Informationen herausdestillieren lassen. Das erleichtert das wissenschaftliche Arbeiten mit der Studie, die sicherlich für folgende Forschungen zur Geschichte der Familie, der Familienpolitik und der wissenschaftlichen Politikberatung relevant werden wird.

Anmerkungen:
1 Vgl. Christopher Neumaier, Familie im 20. Jahrhundert. Konflikte um Ideale, Politiken und Praktiken, Berlin 2019.
2 Vgl. Norbert F. Schneider, Grundlagen der sozialwissenschaftlichen Familienforschung. Einführende Betrachtungen, in: ders. (Hrsg.), Lehrbuch Moderne Familiensoziologie. Theorien, Methoden, empirische Befunde, Opladen 2008, S. 9–21, hier S. 11.
3 Vgl. v. a. Christiane Kuller, Familienpolitik im föderativen Sozialstaat. Die Formierung eines Politikfeldes in der Bundesrepublik 1949–1975, München 2004; Merith Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft. Studien zur Strukturgeschichte der Familie in Westdeutschland. 1945–1960, Göttingen 2001.

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