Bärbel Ehrmann-Köpke untersucht weibliche Handarbeiten in den hanseatischen Städten Hamburg, Bremen und Lübeck zwischen 1800 und 1918. Die an der Universität Bremen 2009 als Dissertation eingereichte Arbeit stößt damit in eine Forschungslücke. Ehrmann-Köpke bearbeitet ein Thema, das trotz der starken Präsenz im Alltag bürgerlicher Frauen bisher weitestgehend unerforscht geblieben ist. Ihr Erkenntnisinteresse gilt der Rolle und Bewertung weiblicher Handarbeiten im Kontext bürgerlicher Kultur und Lebensformen vor dem Hintergrund sich wandelnder Geschlechterverhältnisse.
Sie fragt nach der Bedeutung dieser geschlechtsspezifischen Tätigkeiten bei der Vermittlung und Einübung eines bürgerlichen Weiblichkeitsideals und geht damit einem Anliegen der neueren Bürgertumsforschung aus Genderperspektive nach.1 Das Thema Handarbeiten bildet buchstäblich den „roten Faden“ ihrer Studie. Dabei nimmt sie das weibliche Erziehungs- und Bildungswesen in Familie und Schule, sowie zeitgenössische Diskussionen in populären Medien über den Zusammenhang von Handarbeiten und bürgerlicher Lebensführung von Frauen in den Blick. Die Analyse medizinischer Diskurse über Begleit- und Folgeerscheinungen der Textilarbeit runden die Studie ab. Ehrmann-Köpke möchte sich damit an der Schnittstelle von neuerer Bürgertumsforschung, Geschlechter-, Bildungs- und Medizingeschichte verorten (S. 24). Die Stärke ihrer Studie liegt in einer herausragenden Quellenarbeit. So kommt ihr das große Verdienst zu, umfangreiches neues Material gefunden zu haben. Sie zieht sowohl (ungedruckte) Ego-Dokumente wie Tagebücher, Haushaltsbücher und Aussteuerlisten heran, als auch zahlreiche amtliche Unterlagen wie Schulakten und Lehrpläne. Um die öffentliche Diskussion über weibliche Handarbeiten einzufangen, untersucht sie zudem zeitgenössische Zeitschriften und Ratgeberliteratur. Ihre beeindruckende Quellensammlung ermöglicht ihr somit, über hanseatische Städte hinaus, sowohl der Selbst- als auch der Fremdwahrnehmung von weiblichen Handarbeiten im 19. Jahrhundert nachzugehen.
Die oben genannten Erkenntnisbereiche strukturieren ihre Arbeit in fünf Kapitel. Im ersten Kapitel rückt Ehrmann-Köpke bürgerliche Frauen als „Kulturträgerin der bürgerlichen Gesellschaft“ (S. 32) in den Mittelpunkt. Sie hinterfragt das Klischee der bürgerlichen Frau, die sich in ruhigen Stunden mit „feinen“ Textilarbeiten vergnügt. Dazu geht sie auf das Gegensatzpaar des „demonstrativen Müßiggangs“ und der „rastlosen Tätigkeit“ ein. Zur Schau gestellter Müßiggang war besonders in den höheren Schichten ein bürgerliches Statussymbol, gleichzeitig wurde das rastlose und nützliche Arbeiten der Frauen aus moralischer und teilweise auch ökonomischer Notwendigkeit gefordert. Hieran kann Ehrmann-Köpke einerseits eine gewisse „Doppelmoral“ (S. 12) entlarven, andererseits die Abgrenzung des Großbürgertums zu unteren Schichten zeigen.
Das zweite Kapitel ist dem Erziehungs- und Bildungswesen bürgerlicher höherer Töchter gewidmet. Ehrmann-Köpke arbeitet heraus, dass Handarbeit(sunterricht) über die Erlernung technischer Fähigkeiten hinaus ein Disziplinierungsinstrument und damit konstitutiv für die Einübung „weiblicher Tugenden“ gewesen sei. Sie geht leider nicht auf Forschungskontroversen um das Thema „bürgerliche Werte“ ein, sondern setzt gewissermaßen einen gemeinsamen Tugendkanon voraus.2 Lobend hervorzuheben ist hingegen die detaillierte Auswertung zahlreicher Lehrpläne. So kommt sie zu dem Ergebnis, dass trotz technischer Neuerungen und verstärkter Forderung nach geistiger Weiterbildungen das bürgerliche Frauenideal auch um die Jahrhundertwende noch eng mit weiblichen Handarbeiten „verknüpft“ blieb.
Im dritten Kapitel behandelt Ehrmann-Köpke die familiäre Sozialisation im Kindes- und Jugendalter, die auf ein künftiges Leben als Gattin, Hausfrau und Mutter ausgerichtet war. Sie arbeitet heraus, wie sich junge Frauen insbesondere in der sogenannten „Wartezeit“ bis zur Heirat verstärkt mit Handarbeiten beschäftigten. Handarbeiten spielten, so ihre These, bei der Weitergabe von bürgerlichen Weiblichkeitsidealen auch innerhalb der Familie eine wesentliche Rolle. Dabei sind bei der familialen Werteerziehung jedoch unterschiedliche Einflüsse unter anderem von Pietismus und Aufklärung zu beachten, wie bereits Andreas Gestrich herausgearbeitet hat.3 Thematisiert wird in diesem Kapitel außerdem die Berufstätigkeit bürgerlicher Töchter, insbesondere das Berufsbild der unverheirateten Lehrerin. Dabei kann Ehrmann-Köpke den Widerspruch zwischen den hohen gesellschaftlichen Erwartungen an die „weibliche Tugenden“ vermittelnde Handarbeitslehrerin und der tatsächlich niederen gesellschaftlichen Stellung dieser Frauen herausstellen.
Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität im Alltag bürgerlicher Frauen kommt auch im vierten Kapitel zum Tragen. Es wird aufgezeigt, wie sich bürgerliche Frauen zwischen Repräsentationspflicht und Sparsamkeitszwang bewegten. Die Ausrichtung kostspieliger Gesellschaftsabende stand im Widerspruch zur weit verbreiteten Praxis, dass bürgerliche Frauen nicht selten aus ökonomischer Notwendigkeit mit ihren Handarbeiten zum Lebensunterhalt beitragen mussten. Dies geschah möglichst heimlich, da die bezahlte Handarbeit einen gesellschaftlichen Ansehensverlust bedeutete. Damit spricht Ehrmann-Köpke implizit eine „verschämte Armut“ an, die auch bei Teilen des Adels zu finden ist. Sie zeigt, dass das Engagement bürgerlicher Frauen in Notzeiten, besonders während des Ersten Weltkrieges, in der öffentlichen Wahrnehmung hingegen als patriotische Wohltätigkeitsarbeiten bewertet wurde, wodurch sich Frauen auch Handlungs- und Freiräume schaffen konnten.
Im fünften Kapitel wird der Themenkomplex Gesundheit und Handarbeit behandelt. Ehrmann-Köpke arbeitet Krankheitsbilder heraus, die im Zusammenhang mit textilen Handarbeiten standen. Dabei legt sie auch zeitgenössische Vorstellungen über weiblich konnotierte Krankheitsbilder dar. An ihren Ausführungen zeigen sich eindrucksvoll kulturelle Einflüsse auf medizinische Diskurse.
Damit hat Ehrmann-Köpke einen für die Bürgertums- und Frauengeschichte relevanten Themenkomplex gewählt. So kann sie aufzeigen, wie stark die Konstruktion und Rezeption von geschlechtsspezifischen „bürgerlichen Werten“ mit textilen Tätigkeiten von Frauen „verstrickt“ waren. Durch ihre Studie wird deutlich, wie sehr Handarbeiten das Leben von Frauen dominierte, disziplinierte und prädestinierte – in ihrer eigenen Wahrnehmung als auch in der Beurteilung von außen. Gleichzeitig ist es ihr gelungen, die zahlreichen Widersprüche zwischen normativen Ansprüchen und alltäglicher Praxis aufzudecken. Die Verknüpfung ihrer eigenen Ergebnisse mit aktuellen Forschungsdiskussionen bleibt jedoch an manchen Stellen offen. Am augenfälligsten bezieht sich das auf die neuere Frauen- und Bürgertumsforschung. So kommt beispielsweise Pia Schmid, die Handarbeiten ebenso wie Ehrmann-Köpke als „kulturelle Praxis“ (S. 376) begreift, in ihrem Aufsatz zu ganz ähnlichen Ergebnissen.4 Die gerade in den letzten Jahren stark angewachsene Forschung zum Themenkomplex „bürgerliche Werte“ findet bei Ehrmann-Köpke (auch im Literaturverzeichnis) so gut wie keine Erwähnung. Stattdessen verweist sie an entsprechender Stelle nur auf das grundlegende, bereits 1984 erschienene Buch von Paul Münch (S. 128 Anm. 222 und öfter).5
Dennoch kommt sie auf der Basis neuer Quellen zu wichtigen Ergebnissen. Daraus drängen sich vor dem Hintergrund aktueller Forschung weitere spannende Fragen auf: So scheint sich der bürgerliche Wertekanon, wie Ehrmann-Köpke gezeigt hat, auch aus Perspektive der Frauen im ganzen 19. Jahrhundert aus Tugenden wie Fleiß, Ordnung, Sparsamkeit und Sittsamkeit zusammenzusetzen (S. 122ff.). Gleichzeitig kommt es aber zu Veränderungen der Geschlechterverhältnisse. Was heißt das für den „bürgerlichen Wertekanon“? Und sind diese Begrifflichkeiten dann nur Worthülsen, deren Inhalte sich auch in Bezug auf Frauen über das 19. Jahrhundert hinweg laufend verändern? Diesen Fragen weiter nachzugehen, wird Aufgabe künftiger Forschungen sein.
Anmerkungen:
1 Vgl. Hans-Werner Hahn / Dieter Hein (Hrsg.), Bürgerliche Werte um 1800. Entwurf, Vermittlung, Rezeption, Köln 2005, S. 16. Vgl. auch den mit Ehrmann- Köpke nahezu zeitgleich erschienen Aufsatz mit ähnlichen Fragestellungen: Pia Schmid, „Weibliche Arbeiten“. Zur Geschichte von Handarbeiten, in: dies. / Walburga Hoff / Elke Kleinau (Hrsg.), Gender-Geschichte/n. Ergebnisse bildungshistorischer Frauen- und Geschlechterforschung, Köln 2008, S. 49–71.
2 Vgl. stellvertretend für drei unterschiedliche Positionen: Manfred Hettling / Stefan-Ludwig Hoffmann, Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000. Dagegen: Dieter Hein / Andreas Schulz, Bürgerkultur im 19. Jahrhundert. Bildung, Kunst und Lebenswelt, München 1996. Alternativ: Rebekka Habermas, Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750–1850), Göttingen 1999. Zu Kontroversen um diese drei Forschungsansätze und weitere Beiträge vgl. Hahn / Hein, Bürgerliche Werte um 1800, S. 15ff.
3 Vgl. Andreas Gestrich, Familiale Werteerziehung im deutschen Bürgertum um 1800, in: Hahn / Hein, Bürgerliche Werte um 1800, S. 121–140, hier S. 122.
4 Vgl. Schmid, „Weibliche Arbeiten“, bes. S. 64ff.
5 Vgl. Paul Münch (Hrsg.), Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit. Texte und Dokumente zur Entstehung der „bürgerlichen Tugenden“, München 1984.