„Alle reden von der Bilderflut“ (S. 22), befindet Christine Brocks, die Autorin des Studienbuchs „Bildquellen der Neuzeit“. Sie nimmt damit einen verbreiteten Topos auf, den Siegfried Kracauer 1927 erstmals gebraucht hat und der seitdem meist in medienkritischer, wenn nicht gar kulturpessimistischer Intention verwendet wird.1 Der Topos „Bilderflut“ scheint dabei nicht selten eine Neuauflage der „platonischen Urangst vor der Konfrontation mit einem unbeherrschbaren Bild“ zu sein.2 Diese zeigt sich in einem Misstrauen gegenüber den vermeintlichen (Trug-)Bildern, die nur Schein repräsentieren, nicht aber ein Sein als „Wahr-Zeichen“ abbilden würden.
Tatsächlich ist die massenmediale Produktion, Zirkulation und Rezeption von Zeichen und Bildern ein zentrales Kennzeichen der Moderne. Dies trifft jedoch auch auf den gestiegenen quantitativen Umsatz von Texten zu – von „Textflut“ wiederum ist kaum die Rede. Andererseits ist der Topos der „Bilderflut“ unhistorisch. Bilder spielten in den Kommunikationsprozessen der Vergangenheit ebenfalls eine große Rolle, und dies umso mehr, je geringer der Alphabetisierungsgrad der breiten Bevölkerung war.3
Dergleichen medien- oder kulturkritische Haltungen sind der Autorin fern – sie betont, wie „ertragreich die Verwendung visueller Quellen“ (S. 143) für die Geschichtswissenschaft sein kann. Einleitend verweist Brocks zu Recht auf die stark wachsende Anzahl von Publikationen zum Thema Bild in den verschiedensten Wissenschaftsdisziplinen. Das Verdienst ihrer Arbeit ist es, für interessierte Einsteiger/innen eine Schneise in diese Unübersichtlichkeit zu schlagen. Die Publikation versteht sich „explizit als Brücke zwischen Forschung und Praxis“ (S. 7). Für Studierende und Dozenten an Hochschulen will Brocks die „wichtigsten theoretischen, methodischen und praktischen Aspekte der Bildinterpretation“ zusammenfassen (ebd.).
Nach Ausführungen über die Stellung und Funktion der Bildquellen in den Sozial- und Geisteswissenschaften unterscheidet die Autorin drei wissenschaftliche Verwendungsweisen von Bildern. Der erste Ansatz, der das Bild als einen Ausdruck der Evidenz sieht, nutzt die visuelle Quelle als Dokument, um mit Hilfe des Abgebildeten Auskunft über Realien der Vergangenheit zu erhalten. Ein zweiter Zugang, der Bilder als Konstruktionen analysiert, will auf diesem Weg Aussagen etwa über vergangene Mentalitäten und kollektive Deutungsmuster entwickeln. Ein dritter Fokus liegt auf den Bildern als Handlungen: Sie werden im Kontext der Kommunikation und aus der Perspektive des Nutzers analysiert; im Vordergrund stehen hier Fragen der Erinnerungs- und Geschichtskultur.
Das Kernstück der Publikation sind sechs Kapitel zu den unterschiedlichen Bildgattungen (jeweils rund 20 Seiten) aus dem Bereich der modernen Reproduktionstechnik. Davon befassen sich drei Kapitel mit Druckerzeugnissen (1. Plakate, 2. Bilderbogen, Karikatur und illustrierte Zeitschrift, 3. Postkarten und Sammelbilder) sowie drei weitere mit neueren Bildmedien (4. Fotografie, 5. Film, 6. Fernsehen). Nicht thematisiert werden Kunstwerke, Briefmarken, Karten und weitere Druckgrafik sowie Bilder und Bildgebrauch in den Neuen Medien (Internet, Video- und Computerspiele). Eine umfangreiche, auch englischsprachige Literatur integrierende Bibliografie, ein Verzeichnis mit Links zu bildwissenschaftlichen Websites, zu Bildarchiven, Museen und Bildgattungen sowie ein knapp gehaltenes Glossar über wichtige bildwissenschaftliche Begriffe runden den Band ab (gut 20 Seiten).
Die einzelnen Kapitel zu den Bildgattungen sind identisch aufgebaut. Einem komprimierten historischen Abriss zur Ökonomie und Technik der jeweiligen Bildgattung und einer konzentriert-instruktiven Forschungsgeschichte folgen exemplarische Interpretationen ausgewählter Bildquellen. Die sich daran anschließenden Leitfragen geben Anregungen unter anderem zu realienkundlichen, ikonografisch-ikonologischen, semiotischen und diskursanalytischen Analysen und Interpretationen. Die unterschiedlichen Erkenntnisinteressen, Fragestellungen und Methoden werden deutlich konturiert. Zu Recht betont die Autorin, dass es „keine dezidiert geschichtswissenschaftliche Methode zur Bildinterpretation“ gibt (S. 143). Sie sieht darin jedoch keinen Mangel, sondern begrüßt es, aus einer Vielfalt der Methoden diejenigen wählen zu können, die dem Gegenstand angemessen erscheinen.
Die komprimierten Anmerkungen des Buchs enthalten eher allgemein gehaltene Hinweise auf mögliche Archiv-Fundorte bestimmter Bildgattungen. Die einzelnen Kapitel werden mit – stellenweise etwas beliebig wirkenden – Leseempfehlungen abgeschlossen. Vor allem die Konkretisierung verschiedener methodischer Ansätze in den exemplarischen Interpretationen macht das bildanalytische Arbeiten für Studierende aber ausgesprochen anschaulich und nachvollziehbar. Der Wandel der Figur des „John Bull“, der Personifikation Englands, in Karikaturen vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts dokumentiert zum Beispiel das sich verändernde Selbstverständnis des britischen Bürgertums. Die Darstellung unterschiedlicher Analysen von Dorothea Langes Fotozyklus „Migrant Mother“ (1936) zeigt verschiedene Deutungsangebote und Rezeptionsbedürfnisse (zum Beispiel entlang der Kategorien Religion, Ethnizität, Geschlecht, Klasse). Der Heimatfilm „Grün ist die Heide“ (1951) erweist sich nicht (nur) als visueller Eskapismus der 1950er-Jahre in eine politikferne Natur, sondern als eine politische Verarbeitung der Integration von Vertriebenen in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft.
Abschließend wenige kritische Bemerkungen, die den insgesamt positiven Eindruck nicht schmälern sollen: Komprimierte Einführungen dieser Art bringen es mit sich, dass manches an der Oberfläche bleiben muss. Dies zeigt sich bei Brocks vor allem im Einführungskapitel mit der theoretischen Grundlegung – für Studierende finden sich hier allenfalls Anknüpfungspunkte zur weiteren, individuell-vertiefenden Lektüre. Angesichts der zunehmenden Bedeutung von Comics hätte diese Bild-Text-Gattung ein eigenes Kapitel verdient, auch wegen der steigenden Zahl von Comicautorinnen und -autoren, die sich historischen Themen zuwenden.4 Dass im umfangreichen Literaturverzeichnis einige wichtige Publikationen fehlen, ist bei der Fülle der Veröffentlichungen zum Thema wohl kaum zu vermeiden.5 Wenig verständlich bleibt jedoch die weitgehende Marginalisierung der geschichtsdidaktischen Literatur zu Bildquellen.6 Dies ist schade, zumal der Band sich explizit auch an Studierende wendet, von denen viele ein Lehramt anstreben. Die Geschichtsdidaktik reflektiert zum Beispiel den Einfluss von Bildern auf das individuelle Geschichtsbewusstsein. Und mit der Analyse der Geschichtskultur untersucht sie zudem die prägende Kraft von Bildern für das kollektive Geschichtsbewusstsein.
Christine Brocks’ kompakte Einführung in den Umgang mit den Bildquellen überzeugt in der konsequenten Umsetzung des Ziels, eine Anleitung, Arbeitshilfe und Anregung für Studierende und Dozenten zu bieten. Die durchgehende Wissenschafts- wie Praxisorientierung, Verständlichkeit und Übersichtlichkeit, der Adressatenbezug und die Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge in Kernaussagen zu kondensieren – all dies erfüllt die Intention der Autorin, eine Brücke zu schlagen zwischen der Forschung, ihrer Vermittlung und der praktischen Anwendung.
Anmerkungen:
1 Siegfried Kracauer, Die Fotografie [1927], in: Wolfgang Kempf / Hubertus von Amelunxen (Hrsg.), Theorie der Fotografie, Bd. II: 1912–1945, München 1999, S. 101–112.
2 Horst Bredekamp, Bildakte als Zeugnis und Urteil, in: Monika Flacke (Hrsg.), Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen, Bd. 1, Mainz 2004, S. 29–66, hier S. 47.
3 Ders., Theorie des Bildakts, Berlin 2010, S. 13.
4 Vgl. etwa Christine Gundermann, Jenseits von Asterix. Comics im Geschichtsunterricht, Schwalbach am Taunus 2007; Dietrich Grünewald (Hrsg.), Struktur und Geschichte der Comics, Essen 2010.
5 Vgl. exemplarisch zu einem zeitlichen Schwerpunkt: Rolf Sachsse, Erziehung zum Wegsehen. Fotografie im NS-Staat, Dresden 2003; oder als Beispiel für Überblicksdarstellungen: Peter Geimer, Theorien der Fotografie, Hamburg 2009; Werner Faulstich, Die Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts, München 2012; oder zur Quellenkritik: Timm Starl, Bildbestimmung. Identifizierung von Fotografien 1839 bis 1945, Marburg 2009.
6 Zum Beispiel: Hans-Jürgen Pandel / Gerhard Schneider (Hrsg.), Handbuch Medien im Geschichtsunterricht, Schwalbach am Taunus 1999; Michael Sauer, Bilder im Geschichtsunterricht. Typen, Interpretationsmethoden, Unterrichtsverfahren, Seelze-Velber 2000; Christoph Hamann, Visual History und Geschichtsdidaktik. Bildkompetenz in der historisch-politischen Bildung, Herbolzheim 2007; Hans-Jürgen Pandel, Bildinterpretation. Die Bildquelle im Geschichtsunterricht. Bildinterpretation I, Schwalbach am Taunus 2008; Kristin Land / Hans-Jürgen Pandel, Bildinterpretation praktisch. Bildgeschichten und verfilmte Bilder. Bildinterpretation II, Schwalbach am Taunus 2009; Saskia Handro / Bernd Schönemann (Hrsg.), Visualität und Geschichte, Berlin 2011; Kristina Lange, Historisches Bildverstehen oder Wie lernen Schüler mit Bildquellen? Ein Beitrag zur geschichtsdidaktischen Lehr-Lern-Forschung, Berlin 2011.