„A Concise Companion to History“ lautet der Titel der 2011 bei Oxford University Press erschienenen englischsprachigen Originalausgabe des hier zu besprechenden Bandes. Bei S. Fischer heißt das Buch hingegen „Die Neue Geschichte. Eine Einführung in 16 Kapiteln“. Beide Titel treffen nicht unbedingt das, was das Buch und die darin enthaltenen Essays liefern. Hier geht es weder um ein kurzgefasstes historisches Kompendium noch um eine Einführung. Vielmehr reflektieren führende Vertreter/innen der Geschichtswissenschaft historische Kategorien, Themen und Strukturen. Die Autorinnen und Autoren denken über Wege nach, Geschichte zu schreiben, und eröffnen neue Perspektiven für künftige Forschungen. Und dies – um es gleich zu Beginn zu sagen – auf brillante Weise. Die Herausgeberin Ulinka Rublack hat die „Großen“ ihrer jeweiligen Spezialgebiete dazu gebracht, grundlegende Texte zu verfassen, die bisweilen das gewohnte Terrain verlassen. Alle Essays bieten zentrale Thesen und Überblicke; sie sind darüber hinaus auch gut lesbar, verständlich und für ein breiteres Publikum geschrieben. Zu Recht wurde der Band von englischsprachigen Rezensenten mit viel Lob aufgenommen1, von Jürgen Osterhammel in einem Vorwort für die deutsche Ausgabe gewürdigt (S. 9–15) und auch hierzulande positiv besprochen.2 Hans-Ulrich Wehlers recht harsche Kritik ist da eine Ausnahme.3
Die 16 Essays sind zwei Teilen zugeordnet: Ein erster ist betitelt mit „Geschichte schreiben“ und enthält Beiträge von Christopher Bayly, R. Bin Wong, Ulinka Rublack sowie Donald R. Kelley und Bonnie G. Smith. Im zweiten Teil geht es um „Themen und Strukturen“ – eröffnet von Kenneth Pomeranz, gefolgt von Christopher Clark, Peter Burke, Pat Thane, Dorothy Ko, Megan Vaughan, Elizabeth Buettner, Pamela H. Smith, John R. McNeill, Miri Rubin, Eiko Ikegami und schließlich Anthony Grafton. Es kommen somit Fachvertreter/innen aus den USA und Großbritannien zu Wort, und es werden spezifisch angloamerikanische Wissenschaftskulturen aufgerufen.
Was ist wirklich neu an „Die Neue Geschichte“? Die Beiträge sind durchweg bemüht, transnationale Perspektiven zu eröffnen, sie vermeiden Eurozentrismus und versuchen oftmals, sich vor allem auf Außereuropa zu beziehen. Rublack schreibt, dass wir als Historiker/innen „heute von dem viel ausgeprägteren Bewusstsein ausgehen“ müssen, „dass die ‚westlichen’ Leistungen und die ‚modernen Errungenschaften’ oftmals nicht so einzigartig waren, wie sie früher dargestellt wurden, und dass die Geschichte von Verbindungen und multizentrischen Entwicklungen in unterschiedlichen Kulturen von entscheidender Bedeutung für ein angemessenes, kritisches Verständnis der Vergangenheit ist“ (S. 19). Das ist zweifellos ein normatives Statement, doch ein ungemein belebendes, das zum Weiterdenken auffordert und Anregungen bietet für das, was unter den Studien zur Globalgeschichte häufig noch fehlt: nämlich empirische Arbeiten, die unsere vermeintlich unverrückbaren Vorstellungen von Zentren und Peripherien hinterfragen, die Perspektiven verschieben oder umdrehen und beispielsweise eine Geschichte Europas konsequent aus der Perspektive von Außereuropäer/innen schreiben.
Natürlich wurden eurozentrische Geschichtsdeutungen bereits vielfach in Frage gestellt. Rublacks Band geht allerdings weiter. Wie Osterhammel in seinem Vorwort pointiert schreibt, „klagt“ das Buch nicht über den „‚Eurozentrismus’ der herkömmlichen Geschichtswissenschaft“; es „lässt ihn stillschweigend hinter sich“ (S. 15). „Die Neue Geschichte“ basiert bereits bei der Vergabe der zu behandelnden Themen und Konzepte auf einem Kunstgriff: Wie Rublack ausführt, habe sie bei der Planung des Buches die Frage beschäftigt, „was wohl passiert, wenn eine Afrikaexpertin über ‚Kultur’ schreibt und eine Chinaspezialistin über ‚Geschlecht’“ (S. 23). Der Band dokumentiert, wie sehr es sich lohnt, ausgewiesene Fachvertreter/innen dezidiert darum zu bitten, ihren Gedanken freien Lauf zu lassen. Die Ergebnisse sind in der Tat erfrischend neue Blicke auf scheinbare Gewissheiten sowie die konsequente Infragestellung, Pluralisierung und Dezentrierung fast aller derzeit zentralen historiographischen Konzepte. Durchweg einleuchtend werden Kategorien, Annahmen und Voraussetzungen als weniger binär, linear oder klar voneinander geschieden gesehen, was immer auch mit einer Reihe von Fallbeispielen erläutert wird. Die Beiträge ergänzen sich nicht nur; vielfach entsteht der Eindruck, sie würden „miteinander sprechen“.
Ein heuristisches Plädoyer durchzieht nahezu alle Essays, nämlich die schon von der „Neuen Kulturgeschichte“ Ende der 1980er-Jahre geäußerte Forderung4, Praktiken historischer Akteure ins Zentrum von Betrachtungen zu rücken, um beispielsweise die Herstellung, Aushandlung und auch das Konterkarieren von Herrschaft und Macht deutlicher nachzeichnen zu können. So spricht sich Clark in seinem Beitrag dafür aus, Macht als ein „unablässig im Fluss“ befindliches Phänomen zu analysieren, das sich „zerstreut“ und sich je nach lokalen Gegebenheiten verändere (S. 194). Macht könne niemals statisch sein. Wie sämtliche menschliche Beziehungen sei sie auf „längere Sicht Neuverhandlungen unterworfen“ (ebd.). Auch Vaughan fordert in ihrem Beitrag zu „Kultur“, dass wir eher Prozesse der Herstellung und Sinnerzeugung in den Blick nehmen sollten als statische Identitäten (besonders S. 310-321). Eng mit Vaughans Ausführungen im Gespräch steht Buettners Essay zu „Ethnizität“, in dem sie dieser scheinbar objektiven Beschreibungskategorie für Historiker/innen eine Absage erteilt. Auch Buettner plädiert eher für die Analyse von Praktiken, mit denen Menschen in der Vergangenheit „Ethnizität“ als scheinbar essentielles, naturgemäßes und daher geradezu unantastbares Attribut zugeschrieben wurde. Selbst „Ethnizität“ als Gegenstand von Macht- und Herrschaftsbeziehungen, das wird deutlich, unterlag Prozessen der Aneignung, Verhandlung oder auch Unterwanderung (vgl. besonders S. 350).
Das Plädoyer für die Analyse historischer Praktiken ist freilich auch hierzulande nicht gänzlich neu, denkt man beispielsweise an Alf Lüdtkes Konzept von „Herrschaft als sozialer Praxis“.5 Neu ist allerdings, dass beispielsweise der Preußen-Experte Clark seine Ausführungen nicht mit Akten aus dem Geheimen Preußischen Staatsarchiv belegt, sondern sich auf Literatur zur chinesischen Staatsbildung (S. 198) ebenso stützt wie auf Beispiele zu Afrika (S. 201). Dieses Prinzip durchzieht den ganzen Band.
Was ist zu kritisieren an diesem hervorragenden Buch? Vielleicht hätte es ihm letztlich doch gut getan, auf Seiten der Beitragenden die disziplinäre und lokale Auswahl etwas aufzubrechen. Es wäre sicher fruchtbar gewesen zu erfahren, was beispielsweise Ethnologinnen und Ethnologen, die sich seit langem mit dem Konstruktionscharakter von Ethnizität und mit der (Macht-)Geschichte der Ethnologie befassen, zu Vaughans und Buettners Ausführungen sagen. Hier hätte es wohl viel Übereinkunft gegeben; möglicherweise wären aber auch andere Dimensionen zur Sprache gekommen, wie es eben interdisziplinäre Dialoge mit sich bringen. Auch hätte der Band den zweifellos gar nicht gewollten Eindruck vermeiden können, dass „Die Neue Geschichte“ eine hegemoniale Deutungshoheit über die Geschichte(n) der Welt anstrebt, die von Cambridge, Harvard oder Princeton ausgeht, wenn man auch Historiker/innen und Kulturwissenschaftler/innen aus anderen europäischen sowie besonders aus außereuropäischen Wissenschaftslandschaften einbezogen hätte. Es ist schon ein wenig fragwürdig, so innovativ über Geschichte(n) der Welt nachzudenken, ohne Wissenschaftler/innen aus Bogota, Dar es Salam oder Delhi zu beteiligen. Doch dies eröffnet letztlich, wie so vieles in dem Band, Perspektiven für künftige Wege und Projekte.
An einem Punkt möchte ich der Herausgeberin allerdings entschieden widersprechen. Rublack schreibt zum Schluss ihrer Einleitung: „Es bleibt den Lesern überlassen, zu beurteilen, welche Löcher das Gewebe noch aufweist, oder ob Dichtheit, Struktur, Farbe und die reichen Möglichkeiten, die bereits jetzt sichtbar sind, aufwiegen, dass noch manches fehlt.“ (S. 29) Hier möchte ich ihr entgegnen: Es sind keineswegs mögliche „Löcher“ im „Gewebe“ dieses Bandes, die man als Manko interpretieren könnte. Jeder einzelne Beitrag plädiert doch gerade dafür, dass Geschichte mit Weiterdenken, Umdenken und Neu-Schreiben zu tun hat. Und so sind es besonders die Leerstellen, die der Band markiert, und die Fragen, die er aufwirft, die sein Potenzial ausmachen: Es werden Fäden gesponnen, an den man sich „entlanghangeln“, an denen man anknüpfen und weiterweben kann. Hier werden durchweg auf höchstem Niveau verlässliche Ansatzpunkte geboten, aber auch Räume für eigenes Weiterdenken und die Kreativität der Leser/innen. Mit diesem Buch sollte sich jeder intensiv auseinandersetzen, der sich für kritische, suchende und innovative Geschichtsschreibung interessiert.
Anmerkungen:
1 Siehe etwa Alix Green, in: Reviews in History, Januar 2011, URL: <http://www.history.ac.uk/reviews/review/1104> (16.8.2013).
2 Achim Landwehr, Geschichtsbegleitung. Ulinka Rublacks Sammelband zu Stand und Perspektiven der Geschichtswissenschaft, in: Neue Politische Literatur 57 (2012), S. 193–200; Hans-Jörg Modlmayr, So geht Geschichtsschreibung heute, in: Deutschlandradio Kultur, 5.6.2013, URL: <http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/2132650/> (16.8.2013).
3 Hans-Ulrich Wehler, Die Welt, von Cambridge aus betrachtet, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.5.2013, S. 30; auch online unter <http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/ulinka-rublack-die-neue-geschichte-die-welt-von-cambridge-aus-betrachtet-12183947.html> (16.8.2013).
4 Lynn Hunt (Hrsg.), The New Cultural History, Berkeley 1989.
5 Alf Lüdtke, Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien, Göttingen 1991.