Der ungewöhnliche Ursprung dieses Forschungsvorhabens liegt im Jahr 1983, als der spätere Autor – damals noch ein Kind – auf dem Dachboden des elterlichen Hauses, in dem im 19. Jahrhundert eine Richterfamilie gelebt hatte, ein Aktenkonvolut fand. Es bestand aus vier Verhörprotokollen, zwei Urteilsabschriften und einem gerichtlichen Tagebuch des Kriminalverfahrens gegen Simon Gschnell und ließ Andreas Fischnaller offenbar keine Ruhe. 2008 wurde er mit seiner biographischen Studie in Innsbruck promoviert, seit Ende 2011 liegt das voluminöse Werk in Druckfassung vor.
Der Schneiderjunge Simon Gschnell wurde 1826 im Alter von 23 Jahren als geständiger Mörder im Tiroler Brixen mit dem Strang ‚vom Leben in den Tod‘ befördert. Es würde die letzte öffentliche Hinrichtung in dieser Stadt sein. In der Heimatgeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts dämonisiert, wuchs dieser Mörder zur Legende.
Fischnaller unternimmt den außergewöhnlich aufwändigen Versuch, mit dem „mikrohistorisch-biografischen Ansatz“ (S. 16) den kompletten Lebensweg seines Protagonisten, dessen schreckliche Tat, auch den Prozess und die Wirkungsgeschichte sowie einiges mehr akribisch zu recherchieren und in eine plastisch erzählte wie kriminalhistorisch umfassend eingebettete Lebensgeschichte münden zu lassen. Gezielte Perspektivenwechsel, Entlehnungen aus der Alltagsgeschichte und der Historischen Kriminalitätsforschung dienen dem Autor als (Teil-)Methoden, indes auch sozusagen ‚hilfswissenschaftlich‘ genutzte Ansätze der Psychoanalyse, der Anthropologie, der Pathologie und der Graphologie.
An die kurze methodische Einführung und die Schilderung der Legendenbildung anschließend, rekonstruiert Fischnaller Kindheit und Jugend, Gaunerleben und Repressionserfahrungen, Mordtat und Flucht des Simon Gschnell. Im kleinbäuerlichen Milieu der Elternfamilie erfährt Simon sozialen Abstieg: Der Vater muss Haus und Haus veräußern, seine Wirtschaft parallel zu wachsender Verschuldung sukzessive verkleinern; zusammen fallen kollektive Notjahre der regionalen Landökonomie und eine individuelle Unfähigkeit, die von der Mutter gerichtsnotorisch beklagt wird, bevor sie selbst zunehmend verwahrlost und schließlich als Wahnsinnige im Spital lebt; sie stirbt 1820, der Vater 1824, beide mittellos. Kein seltenes Familienschicksal im Vormärz nach den napoleonischen Kriegen, aber fraglos doch ein belastendes. Mit 13 Jahren bereits wird Simon ein Fall für die örtliche Armenfürsorge, kommt in fremde Obhut, lebt als 15-Jähriger bei einer Schneiderwitwe, flieht, auch später und anderswo, zieht als Bettler umher, wird zum Gauner und Einbrecher etwa in der „Sterzinger Bande“. Ende 1820 aufgegriffen, wird er 1822 zu eineinhalb Jahren Haft verurteilt, die er im Innsbrucker Strafarbeitshaus absitzt, einer Anstalt, die kaum korrigierend wirken kann. Mehrfach verlässt er wieder Schneiderwerkstätten, macht Arresterfahrungen, bettelt, soll zwangsweise unter die Soldaten, ist aber untauglich. 1825 lernt er im Wirtshaus die schwangere Elisabeth Parrigger kennen, zieht schließlich allein mit ihr des Wegs und wird sexuell zurückgewiesen. In einem Wald eskaliert die Aggression, Gschnell tötet die Frau mit entgrenzter Gewalt, flieht und wird nach wenigen Tagen festgesetzt.
Es folgen Strafprozess und Hinrichtung. Das Kriminalgericht von Brixen arbeitet neun Monate, führt 51 aktenmäßige – folterfreie – Verhöre durch. Die Täterschaft im Fall Parrigger ist eindeutig, eine weitere mörderische Selbstbezichtigung erweist sich aber als frei erdichtet. Nebenbei liefern die Ermittlungen spannende, von Fischnaller überzeugend destillierte Informationen über das Alltagsleben auf der Landstraße, etwa die Geschlechterbeziehungen. Im April 1826 wird der Täter mit einer sehr differenziert argumentierenden Begründung zum Tod durch den Strang verurteilt, Appellationsinstanzen bestätigen das am 15. September 1826 veröffentlichte Urteil, nach einer dreitätigen Galgenfrist wird Gschnell hingerichtet. Alles stimmt bei dieser Inszenierung: Sie ist (noch ein letztes Mal) öffentlich, es gibt zwei Flugschriften, auch eine Galgenpredigt, die Fischnaller zwar komplett abdruckt, aber leider kaum interpretiert.
Auf der Basis der von ihm umfassend recherchierten, erstaunlich dichten Überlieferung obrigkeitlicher Quellen kann Fischnaller faszinierend genau den Weg des Simon Gschnell rekonstruieren und zugleich Stationen wie die Bandenmitgliedschaft oder Haftaufenthalte zum Ausgangspunkt für durchweg sachkundige Exkurse wählen. Dabei arbeitet er ebenso aufwändig den einschlägigen sozial- und kriminalhistorischen Forschungsstand ein, um mit diesem Exempel die Leistungspotentiale des mikrohistorischen Ansatzes zu beweisen, wenn Zeit und Aufwand offenbar fast keine Rolle spielen respektive die Begeisterung für das gewählte Thema grenzenlos scheint.
Allerdings erscheinen einzelne Abschnitte als verzichtbar: Nur weil auch Gschnell das Jenische beherrschte, müsste zum Beispiel kein Exkurs über diese Gaunersprache folgen; auch sind 20 Seiten Text über Spitznamen im Milieu nicht nötig, zumal der Protagonist gar keinen Spitznamen führte; die persönlichen Profile anderer Gauner der Bande erhellen wenig, ebenso die zusammenhanglosen Sexualbiographien von zwei Gaunerinnen. Fast überpräzise geraten auch die allein im Haupttext über 1.300 Fußnoten und Anmerkungen sowie eine ganze Reihe Dokumentationen und Transkripte: Sie zeugen von ungeheurem Fleiß, unstrittiger inhaltlicher Kompetenz und auch von beispielloser Akribie des Autors; der Erkenntnisgewinn wirft allerdings die Frage nach der Ökonomie eines solchen Vorhabens auf. Schließlich lässt Fischnaller auch noch ein legendäres Skelett anthropologisch analysieren und exakt dokumentieren, ohne einen eindeutig auf Gschnell hindeutenden Befund zu erzielen. Das mit psychoanalytischem Rat entworfene Persönlichkeitsbild Gschnells liest man mit Interesse, graphologische Gutachten über die Unterschriften des Täters und seines Henkers erscheinen schlicht obskur, und auch der Sinn eines fast 40-seitigen Exkurses zur Biographie des Henkers erschließt sich jedenfalls in diesem Band nicht.
So ist der Gesamteindruck dieses opulenten Werkes leicht ambivalent: Zum einen – und vor allem! – zeigt Fischnaller auf, wie schier grenzenlos akribisch angelegte und durch breite wissenschaftliche Lektüre abgesicherte mikrohistorische Forschungsarbeit auch derart abseitige Biographien rekonstruieren, ja mit faszinierendem Leben füllen kann. Zum anderen aber ist manchmal etwas weniger mehr.