In ihrer Studie zum Schulhaus als geheimer Miterzieher untersucht die Bildungshistorikerin Marianne Helfenberger normative Debatten, welche die bauliche Gestaltung von Schulhäusern über den Zeitraum von 1830 bis 1930 in der Schweiz beeinflussten. Mit diesem Fokus stehen gesellschaftliche Auseinandersetzungen um das Schulhaus als architektonische Bauaufgabe im Zentrum. Die besondere Berücksichtigung gilt den Entwicklungen im Kanton Zürich. Helfenberger untersucht hauptsächlich Volksschulhäuser, weil sich an diesem Bautyp, so die Autorin, die Fragen der Gestaltung historisch zuerst artikulierten (vgl. S. 21).
Die normativen Debatten betreffen in dieser Studie, die auf eine Dissertation am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Bern zurückgeht, die „Faktoren und Prozesse[…], die bei der Genese von Normen für den Schulhausbau wirksam sind“ (S. 22). Im Vordergrund steht die „normative Perspektive der Akteure, die maßgebende und richtungsweisende Regeln und Anweisungen konstruieren“ (S. 23). Zu den untersuchten Quellen gehören unter anderem Anleitungen und Musterpläne zum Bau von Schulhäusern, Protokolle von Kommissionssitzungen und einschlägige Diskussionsbeiträge in diversen Zeitschriften.
Diese Studie ist erfreulich für die bildungshistorische Forschung. Sie ist es in erster Linie deshalb, weil sie ein Feld für die erziehungswissenschaftliche Geschichtsschreibung öffnet, das die Geschichte von Schulgebäuden als eine Geschichte der pädagogischen Bemühungen um die Schulhausarchitektur begreift. Sie webt dabei die Geschichte des Schulhausbaus in eine historische Pragmatik ein.
Die Studie ist in vier Teile gegliedert, in denen Helfenberger die normativen Debatten zeitlich geordnet darstellt. Zuerst geht es um die Entwicklung erster verbindlicher Regelungen des Schulhausbaus vor dem Hintergrund des staatlichen Gefüges des Kantons Zürich zwischen 1835 und 1861. In dieser Zeit wurden erste Anleitungen, Musterpläne und Revisionen ausgearbeitet. Dieser Teil nimmt relativ viel Platz ein. Im Hinblick auf die Verfahrensweisen arbeitet Helfenberger beispielsweise heraus, dass innerhalb der mehrstufigen Hierarchie in der Schulaufsicht die Anstöße, die Aufsicht über den Bau von Schulhäusern zu regeln, von unten kamen, besonders von Lokalinspektoren. Sie flossen in das gesetzliche Regelwerk über die Bildungsreformvorschläge der beiden Zürcher Erziehungsräte und politischen Kontrahenten Conrad Melchior Hirzel und Johann Jakob Hottinger ein, die Helfenberger genau rekonstruiert: Das Verfahren des Erziehungsrats erwies sich in diesen Analysen als konsultativ und nicht als direktiv (vgl. S. 85).
Der zweite Teil behandelt das, was Helfenberger die „Formierung einer Arena“ nennt: eine neu entstandene Form der öffentlichen Auseinandersetzung über den Schulhausbau. Diese Debatte war international ausgerichtet, was am Einfluss der Weltausstellungen von 1867 in Paris und 1873 in Wien gezeigt wird. In den Ausstellungen wurden der nationale Leistungsausweis und Fortschritt unter anderem an Schulhäusern demonstriert. Neu war in diesem Zeitabschnitt, dass Akteure teilnahmen, die zuvor nicht in Erscheinung getreten waren: einerseits Experten und andererseits berufsgruppenbezogene oder kulturelle Vereine, besonders von Architekten, Lehrern und aus dem Umfeld der Heimatschutzbewegung. Das zentrale Thema bildete die Hygiene, die unter den Schlagwörtern Raum, Luft und Licht auch in Bezug auf den Schulhausbau die normativen Vorgaben in der Gestaltung beeinflussen sollte, etwa was Lösungen für Heizung, Lüftung oder Toiletten betraf. So rekonstruiert Helfenberger das Konzept des deutschen Arztes Georg Varrentrapp zur Verbesserung der räumlichen Verhältnisse des Schulhauses, womit – und auch das streicht Helfenberger als neue Entwicklung hervor – die Gestaltung des Schulhauses explizit mit dem Zweck der Schule, Erziehung und Bildung verknüpft wurde. Der Schulhausbau wurde, wie bei Varrentrapp, also zunehmend mit pädagogischen Argumenten konzipiert.
Dass es nicht unbedingt die Pädagogen waren, die die Frage des Schulhausbaus mit pädagogischen Argumenten angingen, ist ein wichtiges Ergebnis von Helfenbergers Rekonstruktionen. Es waren Ärzte, wie am Beispiel Varrentrapps gezeigt, oder Architekten, die die normativen Debatten zur Gestaltung des Schulhauses besetzten. Argumentiert wird dieses Ergebnis mit der Professionalisierung der entsprechenden Berufsgruppen, die an der Sicherung beruflicher Betätigungsfelder und damit auch von beruflichem Status und Prestige interessiert waren. Randall Collins’ Theorie der Professionalisierungsprozesse dient diesbezüglich als „offener Analyseraster“ (S. 25).
Die neue „Arena“ führte zu einer Revision der 1861 bereits revidierten Anleitung zum Bau von Schulhäusern im Jahr 1890 und nochmals 1900. Sie ging auf die Initiative eines Experten zurück, dem Arzt Albert Treichler, der 1874 die Revision mit dem Argument der Gesundheitsförderung bei der Erziehungsdirektion beantragte. Das Verfahren, so zeigt Helfenberger, war nun direktiver und die Sprache zunehmend vom Expertenjargon geprägt (S. 188).
Die enge Kopplung der Frage nach der Gestaltung des Schulhauses mit der Frage nach dem Zweck der Schule, wie sie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts im Kontext der schulischen Gesundheitspflege bereits bestand, wurde nach 1900 zunehmend ästhetisch verstanden. Diesem Zusammenhang ist der dritte Teil der Studie gewidmet, für den Helfenberger wiederum Zeitschriftenartikel auswertet, hier unter anderem auch aus dem Umfeld der pädagogischen Reformbewegung in Bern. Helfenberger schält insbesondere den Einfluss der Heimatschutzbewegung heraus, die das Schulhaus als „Miterzieher“ – so ein neues zeitgenössisches Theorem – konzipierte. Damit war die Überlegung gemeint, dass das Schulhaus allein durch seine Präsenz erziehend auf das Kind wirke. In dieser Sicht war es die Ästhetik, die gesellschaftliche Werte vermittle, wobei das Ideal Schlichtheit, klare Formen und Authentizität des Materials vorsah (vgl. S. 235).
Im sehr kurz gehaltenen vierten Teil rückt erneut Helfenbergers Professionalisierungsthese ins Zentrum. Die Autorin greift die Kontroverse um das Schulhaus als Bauaufgabe und damit zusammenhängend um die Frage öffentlicher Architekturwettbewerbe auf. So standen sich zwei Ansichten gegenüber, die es einmal als Nutz- und ein anderes Mal als Kunstbau verstanden wissen wollten. Die Architektenzunft, die ab den 1890er-Jahren zahlenmäßig stark zulegte, hatte dabei ein Interesse an Existenzsicherung durch Übernahme von Bauaufträgen. Wurde das Schulhaus als Kunstbau aufgefasst, war die Planung, so die Argumentation, durch Architekten erforderlich.
Die Untersuchung endet hier etwas unvermittelt. Die Zeit spätestens nach 1920 wird nicht mehr greifbar. Nur mit dem Hinweis, dass „[u]m 1930 in der Architekturgeschichte eine neue Epoche“ (S. 22) beginnt, das so genannte Neue Bauen, wird das Ende der untersuchten Periode legitimiert. Den Schlusspunkt so anzusetzen, ist forschungspragmatisch betrachtet sehr legitim. Allein, für die Fragestellung nach den Normen für den Schulhausbau wäre dieser Wandel um 1920 bzw. 1930 als Folie nicht uninteressant, zumal die Rolle der Experten, deren neuen Einfluss Helfenberger im Schulhausbau im letzten Drittel des 19. Jahrhundert nachweist, als Voraussetzung für die rational argumentierenden Ansätze des Neuen Bauens befragt werden könnten.1 Hier scheint das Expertenwissen eine bedeutsame Rolle zu spielen in der Formulierung gesellschaftlicher Anliegen an das Schulhaus und den daraus folgenden Normierungen.
Ein solcher Zusammenhang, der die historischen Prozesse auf der Folie dessen untersucht, was zu einer Zeit generell in der Luft liegt, ist in dieser Studie nicht beabsichtigt. Interessant ist hier also die Frage nach der Periodisierung. Der Blick gilt den Abfolgen von „Stationen der Entwicklung von Normen für den Schulhausbau“ (S. 26), und zwar so, wie sie in den Quellen dokumentiert sind. Die Dynamik von Professionalisierungsprozessen ergibt sich aus der engen Orientierung an den Quellen, deren Chronologie die Architektur der Arbeit bestimmt. Die Autorin selbst betont, dass sie die Struktur vorgaben (vgl. S. 27). Dies ist eine Stärke der Arbeit: kein elaboriertes methodologisches Konstrukt nimmt der Quellenarbeit Raum weg, keine extensive Rezeption von Sekundärliteratur immunisiert den Gegenstand. Er erscheint so unverstellt. Und doch fehlt der allgemeinere Zusammenhang, für den der Gegenstand Schulhausbau steht. Hingegen zeigt die Studie die teils unterschiedlichen Hintergründe von Legitimationsstrategien professioneller Akteure in Form eines „Panorama[s] verschiedener Stationen“ (S. 26). Dieses „Panorama“ rückt eher das historiographische Bild der Entwicklungen in der Mitte des 19. Jahrhunderts zurecht, indem seine innovative Kraft in Bezug auf den Schulhausbau betont wird. Den Spuren dieser Studie folgend, können nun einzelne Stationen des Schulhausbaus enger im Rahmen spezifischer gesellschaftlicher Zusammenhänge rekonstruiert werden.
Anmerkung:
1 Vgl. Antonia Gruhn-Zimmermann, Schulbau für eine neue Gesellschaft, in: Der Architekt 9 (1995), S. 528–531.