Das Versicherungswesen zählt nicht unbedingt zu denjenigen Branchen, denen die wieder florierende Unternehmensgeschichte in den letzten Jahren ihre bevorzugte Aufmerksamkeit gewidmet hat. So verwundert es kaum, dass die Rückversicherung dabei noch weniger Beachtung gefunden hat. Dies mag nicht zuletzt daran liegen, dass die Rückversicherung in erster Linie als Business-to-Business-Unternehmen auftritt, dessen Geschäft darin besteht, Versicherungen zu versichern. Doch schon die lange Tradition und die stetig anwachsende Finanzkraft der Rückversicherer deuten auf eine interessante Geschichte hin, zumal sich hier noch weitgehend unentdecktes Land erforschen lässt. Die Swiss Re zählt mit ihrem nun 150-jährigen Jubiläum noch nicht einmal zu den ältesten Unternehmen der Branche – die Kölnische Rück (heute General Reinsurance Corporation) gründete sich bereits 1846. Aber mit ihrer schnellen Expansion seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, ihrer globalen Vernetzung und Wandlungsfähigkeit im 20. Jahrhundert gehört die Swiss Re sicherlich zu den historisch besonders bedeutenden Unternehmen – nicht nur für die Versicherungswirtschaft.
Die von Peter Borscheid, David Gugerli, Tobias Straumann und Harold James vorgelegte Studie ist keine klassische Unternehmensgeschichte, die sich allein mit der Swiss Re beschäftigt. Vielmehr gelingt es den Autoren auf herausragende Weise, die Geschichte des Unternehmens systematisch in ihre Kontexte einzubetten. So findet sich die eigentliche Unternehmensgeschichte (Straumann, ca. 130 Seiten) erst nach einer historischen Untersuchung der internationalen Versicherungsbeziehungen (Borscheid, ca. 150 Seiten) sowie einer Analyse der Rückversicherungswirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts (Gugerli, ca. 100 Seiten). James eröffnet den Band mit einer ausführlichen Einleitung (ca. 30 Seiten), die zunächst die Rückversicherungsbranche im Kontext des gesamten Finanzsektors beleuchtet. Mit diesem gelungenen Vierschritt bereiten die Autoren das Thema für ein größeres Publikum auf und präparieren gleichzeitig ein vielversprechendes neues Forschungsfeld heraus. Es ist zu wünschen, dass ein solches Vorgehen noch viele Nachahmer findet.
James weist gleich zu Beginn auf zwei grundlegende Probleme der Versicherungen und Rückversicherungen hin, die ständiger Begleiter, aber auch Antrieb zur Weiterentwicklung der Branche waren: Zum einen hatte die Versicherung im Prinzip seit ihrer Anfangszeit mit einer Negativselektion zu kämpfen, also mit der Tendenz, dass sich meist genau derjenige für eine Versicherung interessiert, der um seine Anfälligkeit für ein bestimmtes Risiko weiß. Der Versicherer muss deshalb das Risiko immer neuer Felder einschätzen lernen. Zum anderen begegnete der Branche beharrlich der „Moral Hazard“. Gemeint ist die Neigung von Versicherten, einmal versicherten Risiken später sorgloser gegenüberzutreten. Denn wer sein Haus gegen Brandgefahren versichert hat, kümmert sich, so die stets befürchtete Logik, weniger um Brandschutz als ein Nichtversicherter.
Diese beiden Probleme waren laut James nicht nur Motoren für Innovationen der Versicherungswirtschaft, sondern betrafen grundsätzlich den gesellschaftlichen Wandel. So waren Auseinandersetzungen über die Versicherbarkeit von immer neuen Risiken keineswegs nur Debatten der Versicherer selbst. Der Staat und die Wissenschaften zählten zu den Mitdiskutanten und Mitentscheidern. Die Versicherung wiederum erweiterte ihr Tätigkeitsfeld ebenfalls und kümmerte sich um viel mehr als nur um finanziellen Schadensausgleich. Schon die frühen Feuerversicherungen unterhielten eigene Feuerwehren. Je weiter James sich jedoch der Gegenwart nähert, auf Tendenzen zur Allfinanz anspielt und die Auswirkungen der jüngsten Finanzkrise erläutert, desto voraussetzungsreicher wird sein Text. Zum Beispiel deutet der Autor die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts charakteristische, immer stärker werdende Abhängigkeit von mathematischen Risikomodellen, wie sie etwa von externen Firmen der Versicherungsforschung entwickelt wurden, lediglich an.
Borscheids Beitrag spürt zunächst den Anfängen der Versicherungswirtschaft nach, bevor er sich auf souveräne Weise deren Expansion und Krise zuwendet. Internationale Beziehungen stehen im Vordergrund, wobei Borscheid bereits zu Beginn pointiert festhält, dass auf Teilmärkten, auf denen die Europäer nicht zugegen waren, sich auch die Versicherung nicht durchzusetzen vermochte. Der Versicherungsgedanke, so Borscheid, war in erster Linie eine europäische Idee. Während sich erste, freilich noch labile, internationale Netzwerke frühzeitig knüpften, blieb die Assekuranz in weiten Bevölkerungskreisen anfangs weitgehend unbekannt. Bei denjenigen, die sie kannten, war sie unbeliebt. Erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts dynamisierte sich der Markt im Zuge der Massenmigration, Industrialisierung und Urbanisierung. Zugleich ebneten Tendenzen der Säkularisierung den Weg für eine weitere Verbreitung der Versicherungsidee. Die Neigung, seine eigene Zukunft selbstverantwortlich abzusichern, trat immer stärker neben straftheologische und gottergebene Denkweisen. Schließlich kam die Versicherungsidee in dieser Dynamisierungsphase auch in den Genuss staatlicher Förderungen. Die Einführung der Sozialversicherungen zählte ebenso dazu wie die Einrichtung versicherungswissenschaftlicher Lehrstühle und Institute an staatlichen Hochschulen. In weiten Teilen der Welt blieben europäische Migration und Handel jedoch weiterhin die entscheidenden Kriterien zur Verbreitung der Assekuranz.
Während Borscheid die gesamte Versicherungswirtschaft beleuchtet, schneidet Gugerli seinen Beitrag über „Kooperation und Konkurrenz“ speziell auf die Organisation sowie die Risikoverarbeitung der Rückversicherungsbranche seit 1860 zu. Äußerst gelungen ist der Einstieg: Gugerli taucht in die Atmosphäre des „Rendez-Vous de Septembre“ von 1968 ein. Bei dieser jährlichen Veranstaltung (seit 1957) treffen sich Vertreter der Rückversicherungsbranche in Monte Carlo. 1968 herrschte eine Krisenstimmung im Fürstentum, die der skandinavische Doyen der Branche Per M. Hansson der nervösen Gesellschaft vor Augen führte. Das 20. Jahrhundert habe eine ganze Reihe unbekannter Risiken hervorgebracht, ohne dass die Rückversicherungsbranche geeignete Beurteilungsmittel gefunden habe. Zudem drangen immer mehr Direktversicherer in den Rückversicherungsmarkt ein, und Gedankenspiele zur Verstaatlichung der Rückversicherungen machten die Runde.
Ausgehend von dieser Krisenkommunikation entfaltet Gugerli seine Gliederung, die die Geschichte der Branche in drei Phasen einteilt. Von den 1860er-Jahren bis in die 1950er-Jahre währte, so Gugerli, eine lange erste Gründungsphase, in der sich die bereits angedeutete internationale Vernetzung entwickelte und neue Instrumente der Branche entstanden. Der Autor erinnert hier beispielsweise an die Praxis der Retrozession, bei der ein Unternehmen wie die Swiss Re bestimmte Anteile eines Rückversicherungsvertrags an Konkurrenten weiterreicht, um das Risiko zu verkleinern und zu streuen. In den 1960er-Jahren folgte eine kurze, aber einschneidende Phase der Strukturkrise, die sich jedoch positiv entlud und zu Reformen führte. Unternehmen wie die Swiss Re oder Munich Re institutionalisierten eine branchenspezifische Forschung und akademisierten das Personal, um so den selbstdiagnostizierten Hauptproblemen zu begegnen: der fehlenden „brain power“ und dem geringen „know how“, wie es Hansson 1968 formulierte. Nach überstandener Krise setzte mit den 1980er-Jahren die dritte und vorerst letzte Phase ein. Sie sei gekennzeichnet durch eine „beschleunigte Globalisierung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen“ und eine verstärkte Konkurrenz innerhalb der Branche (S. 222). Diese mündete schließlich in eine Vielzahl von Fusionen und Übernahmen, die einen weiteren Ausbau der Branchenorganisation obsolet erscheinen ließen. Im Vordergrund stand fortan die Wissensakquise, um die Flut an neuen Risiken adäquat bearbeiten zu können. Diese neuen Prämissen lassen sich nicht zuletzt an der veränderten Personalpolitik ablesen, die reihenweise Naturwissenschaftler und Ingenieure in die Unternehmen brachte.
Im vierten, abschließenden Beitrag untersucht Straumann fundiert und äußerst lesenswert die rund 150-jährige Unternehmensgeschichte der Swiss Re. Dass die Wendemarken in dieser Erzählung oftmals mit den Brüchen und Kontinuitäten der gesamten Versicherungsgeschichte korrespondierten, unterstreicht nicht zuletzt den Einfluss der Schweizer Rückversicherung, der hinter der Munich Re gegenwärtig zweitgrößten Rückversicherungsgesellschaft der Welt. Seit ihrer Gründung im Dezember 1863 hatte die Swiss Re fortwährend mit zwei grundsätzlichen Bedrohungen zu kämpfen: Zum einen konnte eine Fehleinschätzung von bestimmten Risiken und Großschadensereignissen wohl in keiner anderen Branche so schnell zum Kollaps führen wie im Rückversicherungsgeschäft. Doch eben solche Ereignisse überstand die Swiss Re: den so genannten Brandsommer von 1868, das Erdbeben von San Francisco 1906 oder den Hurrikan Andrew im Süden der USA 1992. Zum anderen sind Rückversicherungen existentiell von ihren Kapitalanlagen abhängig. Die ultimativen Bedrohungen waren hier die Finanzkrisen 1931, 2001/02 und 2008/09, die das Unternehmen jedoch ebenfalls durchstand. Hinzu kam mit dem kleinen Schweizer Heimatmarkt noch ein drittes spezifisches Grundproblem der Swiss Re, welches das Unternehmen früh zur Internationalisierung zwang. Dass die ersten vier Direktoren allesamt aus dem Ausland stammten, gehörte zu den Bewältigungsstrategien.
Stets eng verzahnt war das Unternehmen mit einer Risikolandschaft, die sich vor allem im 20. Jahrhundert ständig veränderte. Mit der Aufnahme von Atomrisiken in den 1950er-Jahren beispielsweise forderte sich die Swiss Re gleichsam selbst auf, neue Spezialisten wie Atomphysiker und andere technische Experten in das Unternehmen einzugliedern. Die Frage, inwieweit die Swiss Re hierbei bestimmte Risiken eigenständig gestaltete, ein „Risk Engineering“ betrieb, das vorherbestimmend auch in den politischen Raum eindrang, tritt in Straumanns Unternehmensgeschichte jedoch in den Hintergrund. Interessierte Leser werden hierzu eher in Gugerlis Beitrag fündig. In den Vordergrund rückt Straumann dagegen die unternehmerische Entwicklung hin zu einer immensen Volatilität, die der Unternehmenspolitik insbesondere seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts ihren Stempel aufdrückte.
Die geschichtswissenschaftliche Debatte über Prozesse der „Versicherheitlichung“ gewinnt mit dieser Studie einen empirischen Beitrag, der die Versicherungsbranche systematisch in bislang vorherrschende politikgeschichtliche Dimensionen einbindet. Dass sich die Assekuranz im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts verstärkt auch vermeintlich neuer Risiken angenommen hat – ökologischer, ökonomischer sowie terroristischer Art –, deuten die Autoren des Bandes an vielen Stellen an. Sie weisen aber ebenso darauf hin, dass es gerade diese Gefährdungen waren, die die Grenzen der Versicherbarkeit vor Augen geführt haben. Die Frage, inwieweit sich die Branche dadurch einem Bedeutungsverlust ausgeliefert sieht und der Staat am Ende die Zeche zahlt, ist somit gestellt, auch wenn sie vorerst noch offen bleiben muss. Fest steht jedenfalls, dass das Wachstum der Versicherungsbranche und die zunehmende Entsicherung im globalen Maßstab keine paradoxen Entwicklungen mehr sind.