Die vorliegende Arbeit von Holger Müller, die Publikation einer 2012 an der Bangor University (Großbritannien) bei Raimund Karl eingereichten Dissertation, zielt in die gleiche Richtung, in der sich auch der Doktorvater seit einigen Jahren hervorgetan hat: die Untersuchung der sozialen Verhältnisse bei den keltischen Stämmen in vorrömischer Zeit unter besonderer Berücksichtigung eines breiten interdisziplinären Ansatzes.1
Der eigentlichen Untersuchung wird eine umfangreiche Einleitung vorangestellt. Müller legt hier nicht nur seine Methodik ausführlich dar, sondern definiert auch die für seine Arbeit relevanten griechischen und lateinischen Herrschaftsbegriffe sowie den besonders in der angelsächsischen Archäologie seit einigen Jahren diskutierten Keltenbegriff. Abschließend beleuchtet Müller seine wichtigsten literarischen Quellen und geht auf die mit ihnen verbundenen Probleme (Überlieferung und Glaubwürdigkeit) ein. Dies ist unbedingt zu begrüßen, wird doch in der neueren Literatur und Forschung – trotz mehrjähriger Diskussionen um Begriffe wie „Kelten“, „Fürstensitz“ oder „Fürstengrab“ – nach wie vor oft nicht hinreichend auf die mit diesen Begriffen verbundenen Probleme eingegangen.2
In Kapitel 2 untersucht der Autor dann die keltischen Herrschaftsformen in Italien, wobei er zunächst eine räumliche Eingrenzung vornimmt, die Schriftquellen untersucht, um dann eine nach Stämmen gegliederte Deutung und Analyse vorzunehmen. Abschließend werden archäologische Quellen betrachtet und ein Fazit gezogen. Im dritten Kapitel befasst sich Müller mit den keltischen Herrschaftsformen in Gallien, wobei das Kapitel den gleichen Aufbau wie das vorangegangene aufweist. Aufgrund der umfangreicheren Quellensituation (natürlich vor allem die Commentarii de bello Gallico Caesars) fällt die Liste der dargestellten Stämme länger aus, und das Kapitel wird durch diverse Unterkapitel ergänzt. Müller fragt nach den Plänen Caesars für Gallien und untersucht in einem umfangreichen Unterkapitel die archäologischen Zeugnisse, dabei betrachtet Müller die ausgegrabenen sogenannten Fürstensitze und -gräber eingehender im Hinblick auf ihre Aussagen bezüglich keltischer Herrschaftsformen. In beiden zentralen Kapiteln werden zudem noch vor der Untersuchung der Herrschaftsformen einzelner Stämme die schriftlichen Überlieferungen im Hinblick auf die Herrschaftsformen „Alleinherrscher“, „Doppelkönigtum“ sowie „Aristokratien“ betrachtet; andere, diffusere Aussagen zu keltischen Herrschaftsformen in Italien und Gallien sind jeweils gesondert untersucht.
Das vierte Kapitel führt einige Besonderheiten keltischer Herrschaft auf, wie zum Beispiel keltische Herrscherinnen oder das sogenannte Gefolgschaftswesen, und nimmt eine gesonderte Betrachtung des keltischen Königtums vor. Ein kurzes Fazit, ein Appendix zu Herrschaftsbegriffen bei Polybios und zu keltischen Gründungslegenden sowie den Auswirkungen der augusteischen Reformen auf die Herrschaftsformen der Kelten und umfangreiche Indices runden die Publikation ab.
Die von Müller verwendeten Schriftquellen werden durchnummeriert und sowohl in Originalsprache als auch in Übersetzung gegeben. Ergänzt werden sie, wo nötig, durch einen kurzen Kommentar. Hiermit folgt er der Darstellung, die sich auch bei den jüngsten Publikationen zu den keltischen Wanderungen von Kurt Tomaschitz3 und Andreas Hofeneder, der in drei umfangreichen Bänden die literarischen Quellen zur keltischen Religion zusammenstellte und kommentierte4, findet. Des Weiteren ordnet Müller seine Quellen zeitlich chronologisch nach den in ihnen beschriebenen Ereignissen.
Sehr erfreulich ist die breite Interdisziplinarität der Studie. Obgleich der Schwerpunkt auf der Auswertung literarischer Quellen liegt, sind die kritische Einbeziehung archäologischer Funde und auch der Versuch, wo vorhanden, Münzlegenden in die Betrachtung einfließen zu lassen, sehr zu begrüßen. Sinnvoll wäre allerdings eine größere Hinzunahme sprachwissenschaftlichen Materials gewesen; zwar weist Müller in seiner Einleitung (S. 42) auf die Bedeutung sprachwissenschaftlicher Erkenntnisse hin, eine Behandlung wenigstens keltisch überlieferter sozialer Begriffe, beispielsweise „König“ oder „Adeliger“, fehlt jedoch völlig. In dieser Hinsicht steht Müllers Ansatz etwas hinter dem Raimund Karls zurück, der sich stärker um eine Verbindung zwischen Sprachwissenschaft und Indogermanistik, Archäologie sowie – bei der Untersuchung verschiedener sozialer Modelle – auch den Sozialwissenschaften bemüht. Da jedoch Müller explizit darauf hinweist, dass es ihm vor allem um eine Analyse der griechischen und römischen Quellen gelegen ist, ist dieses kleine Manko zu verschmerzen. Und auch seine Konzentration auf den Bereich Gallien und Norditalien, die zunächst vielleicht verwundert (gelten doch gerade Irland und die Britischen Inseln in der öffentlichen Wahrnehmung als „keltisch“), erklärt sich aus dem behandelten Quellenmaterial, da die vorhandenen antiken Zeugnisse zu den Sozialstrukturen der Kelten außerhalb der von Müller betrachteten geographischen Gebiete ungleich dürftiger und zum Teil widersprüchlicher sind.
Auf die gerade in den Bereichen Archäologie und Keltologie so beliebte Methode des Analogieschlusses verzichtet Müller weitgehend. Zwar hätte sich der Vergleich der antiken Zeugnisse mit mittelalterlichen irischen und walisischen Quellen durchaus angeboten (und die meisten Forscher hätten der Versuchung auch nicht widerstehen können), doch konzentriert sich Müller in erster Linie auf sein abgestecktes Terrain. Diese Beschränkung überzeugt, reicht doch das von ihm aufgebotene Material für seine Untersuchung völlig aus (und dies erklärt möglicherweise auch den oben angesprochenen Mangel an sprachwissenschaftlichen Analysen).
Mit einiger Verblüffung fiel dem Rezensenten jedoch eine Lücke in der verwendeten Literatur auf: Dass bei der Erörterung der Motivation Caesars zu seinen Aktivitäten in Gallien die grundlegenden Studien von Matthias Gelzer, Christian Meier oder Wolfgang Will keine Erwähnung finden5, obgleich Müller verschiedentlich die Bedeutung Caesars sowohl für die Transformation gallischer Herrschaftsverhältnisse im Zuge seiner Eroberungszüge als auch für die Quellenlage zu Gallien (Caesars Schrift zum Gallischen Krieg ist die vollständigste zeitgenössische Beschreibung Galliens in der Antike) hervorhebt, verwundert doch. Nun ist zwar die Zahl der Veröffentlichung gerade zu Caesar und seinem Wirken Legion, doch hätte wenigstens eines der genannten Standardwerke Berücksichtigung finden müssen. Zwei weitere positive Punkte, die Erwähnung finden sollten – da sie auch bei wissenschaftlichen Verlagen heutzutage nicht mehr unbedingt selbstverständlich sind – sind das umsichtige und gute Lektorat (es gibt nur sehr wenige Tippfehler anzustreichen) sowie die gute Bindung des Buches.
Holger Müllers Studie zu den keltischen Herrschaftsformen im eisenzeitlichen Gallien und Italien bietet somit eine gute und hilfreiche Zusammenstellung und Auswertung der Quellen. Sie ist eine sehr willkommene Ergänzung zu den bereits vorhandenen Untersuchungen frühzeitlicher keltischer Sozialstrukturen und zu den Quellensammlungen wie denen von Hofeneder und Tomaschitz. Es bleibt zu hoffen, dass zukünftig ähnliche Untersuchungen zu anderen Aspekten der keltischen Gesellschaft folgen.
Anmerkungen:
1 Zuletzt umfangreich Raimund Karl, Altkeltische Sozialstrukturen, Budapest 2006.
2 Siehe hierzu vor allem John Collis, The Celts. Origins, Myths and Inventions, London 2003.
3 Kurt Tomaschitz, Die Wanderungen der Kelten in der antiken literarischen Überlieferung, Wien 2002.
4 Andreas Hofeneder, Die Religion der Kelten in den antiken literarischen Zeugnissen. Sammlung, Übersetzung und Kommentierung, Bd. 1: Von den Anfängen bis Caesar, Wien 2005; Bd. 2: Von Cicero bis Florus, Wien 2008; Bd. 3: Von Arrianos bis zum Ausklang der Antike, Wien 2011.
5 Matthias Gelzer, Caesar, der Politiker und Staatsmann, Stuttgart 1921 (Neudruck 2008); Christian Meier, Caesar, Berlin 1982; Wolfgang Will, Julius Caesar. Eine Bilanz, Stuttgart 1992.