[Anm. der Red./J.-H.K.: Der Umfang dieser Rezension geht über das bei H-Soz-u-Kult übliche Maß hinaus. Die nähere Beschäftigung mit der Biographie Theodor Schieders erscheint für die Geschichte der deutschen Geschichtswissenschaft aber besonders interessant und wichtig. Peter Schöttlers Beitrag knüpft indirekt an unsere früheren Foren zu Kontinuitäten und Brüchen der Historiographiegeschichte an: „Versäumte Fragen. Deutsche Historiker im Schatten des Nationalsozialismus“ (2000, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=319&count=5&recno=3&type=revsymptype=revsymp>), „Hans Rothfels und die Zeitgeschichte“ (2003/04, <http://edoc.hu-berlin.de/e_histfor/1/>), „‚Westforschung‘. Eine Diskussion zur völkisch-nationalistischen Historiografie in Deutschland“ (2003/05, <http://edoc.hu-berlin.de/e_histfor/6/>) sowie „Der Holocaust und die westdeutschen Historiker“ (2004, <http://edoc.hu-berlin.de/e_histfor/2/>).]
Seit 1980 gibt es in München das „Historische Kolleg“. Sein erster Präsident war der Kölner Neuzeit-Historiker Theodor Schieder (1908–1984), jahrelang der wohl mächtigste Mann seiner Zunft, Herausgeber der „Historischen Zeitschrift“ (HZ), Präsident der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und vieler anderer Institutionen, Träger zahlloser Orden und Preise. Nach seinem Tod wurde der „Meister“, wie ihn seine später oft selbst auf Lehrstühle berufenen Schüler nannten, in vielen Nachrufen und Gedenkveranstaltungen gewürdigt, und das Historische Kolleg richtete 1985 eine „Theodor-Schieder-Gedächtnisvorlesung“ ein. Erster Redner war der Präsident der „Monumenta Germaniae Historica“, Horst Fuhrmann, während Schieders Schüler und Nachfolger an der Spitze vieler Ämter, Lothar Gall, eine Eloge auf den Verstorbenen hielt, in der dessen nationalsozialistische Vergangenheit heruntergespielt wurde, weil Schieder dem „Zeitgeist“ so gut wie keine „bewussten Konzessionen“ gemacht habe.1 Doch schon wenige Jahre später änderte sich dieses Bild, und 2002 nahm das Historische Kolleg seine Ehrung stillschweigend zurück, indem es den feierlichen Jahresvorträgen den Namen des Gründers entzog.
Was war geschehen? Das Gerücht, dass Theodor Schieder braune Flecken auf seiner akademischen Weste habe, war schon alt. Doch im Unterschied zu anderen Historikern, die sogar die Uniform der SS getragen hatten, erschienen seine verstreuten völkischen oder rassistischen Formulierungen wie sprachliche Zugeständnisse, die im Land der ehemaligen Täter nur ein Schulterzucken auslösten. Auch entsprechende Vorwürfe von DDR-Historikern oder linken Studenten konnten das gute Gewissen einer konservativen Historikerzunft nicht erschüttern. Außerdem kam Schieder in dem 1966 erschienenen Standardwerk von Helmut Heiber, „Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands“, so gut wie nicht vor, und Karl Ferdinand Werner konzentrierte sich in seinem (mutigen) Büchlein von 1967, „Das NS-Geschichtsbild und die deutsche Geschichtswissenschaft“, vornehmlich auf Mediävisten. Auf gelegentliche Nachfragen, was er während des „Dritten Reiches“ gemacht habe, antwortete Schieder selbst, indem er einfach das Thema wechselte. Offenbar handelte es sich um ein Tabu, das von seinen Assistenten und Studenten, ja sogar von seinen Söhnen, als eine Privatangelegenheit betrachtet und respektiert wurde.
Heute wissen wir, dass die wirklich brisanten Dinge ohnehin nicht in Publikationen schlummerten – Schieder war und blieb stets ein außerordentlich vorsichtiger Autor, der sich nie weit vom „Mainstream“ entfernte –, sondern in den Archiven, zum Beispiel im „Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes“ in Bonn (bis zum Jahr 2000, seither in Berlin). Das war zwar leicht zugänglich, aber diese Akten, etwa zu den „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“, interessierten offenbar niemanden, zumal sich deren Nachfolgerorganisationen in der Ost- und Westforschung schnell wieder konstituiert hatten und wie früher aus der Regierungsschatulle finanziert wurden. Wer also diese Vergangenheit und fatale Kontinuität aufgedeckt hätte, wäre nicht nur mit Schieder aneinandergeraten, sondern mit der gesamten Zunft und vielleicht sogar dem „Verfassungsschutz“. Deshalb überrascht es nicht, dass die „Nordostdeutsche Forschungsgemeinschaft“, in der sich Schieder einst seine NS-Sporen verdient hatte, erstmals in einer ungedruckten und unbeachteten DDR-Dissertation von 1964 zum Thema gemacht wurde.2
Erst 1988, also vier Jahre nach Schieders Tod, änderte sich die Situation, als der englische Historiker Michael Burleigh in seinem Buch „Germany Turns Eastwards“ den jungen Schieder als Mitarbeiter der „Publikationsstelle Dahlem“ des Preußischen Staatsarchivs identifizierte und im Kontext aggressiver, antipolnischer Bevölkerungsplanungen erwähnte.3 Zwar wurde dieses Buch in der „Frankfurter Allgemeinen“ böse kritisiert und zudem nicht ins Deutsche übersetzt – aus heutiger Sicht ein erstaunliches Versäumnis! –, aber Schieders braune Vergangenheit war jetzt nicht mehr bloß ein Gerücht. Bald darauf publizierten Angelika Ebbinghaus und Karl Heinz Roth – letzterer sogar ein „Schieder-Enkel“, der aber die Vorlesungen des „Meisters“ langweilig und das autoritäre Gehabe am Kölner Lehrstuhl lächerlich fand4 – das entscheidende Belastungsdokument: Schieders so genannte „Polendenkschrift“ vom 7. Oktober 1939, in der dieser die systematische Vertreibung von Polen und „Juden“ – gemäß der rassistischen Definition der Nürnberger Gesetze – gefordert hatte.5
Im Nachhinein ist es auch wichtig, auf die fast zeitgleich geführte Debatte um die NS-Vernichtungspolitik hinzuweisen, die vor allem durch das Buch von Susanne Heim und Götz Aly über die „Vordenker der Vernichtung“ ausgelöst wurde.6 Hatte man bis dahin, wenn man überhaupt die Geschichte der eigenen Zunft problematisierte, eine „ideologiekritische“ Perspektive verfolgt und, wie der Harvard-Historiker Charles Maier auf einer Tagung in Washington bemerkte, jeden „Vatermord“ vermieden, weshalb er auch zweifelte „whether historians should be doing their own history“7, ging jetzt eine Reihe jüngerer Historiker in die Archive, um nach konkreten Verbindungen der Geschichtswissenschaft mit der NS-Politik und vielleicht sogar einer Mittäterschaft beim Holocaust zu fahnden.8 Die Ergebnisse mögen gelegentlich wie eine übertriebene „Enthüllungshistorie“ erschienen sein, und vor allem die Medien haben diese Tendenz natürlich verstärkt, aber angesichts jahrzehntelanger Leisetreterei in Bezug auf die eigene Zunft-Geschichte war etwas Zuspitzung wohl unerlässlich. Das zeigt auch die unterschiedliche Wahrnehmung dieser Debatten im Ausland, wo man sich eher über den verbissenen Widerstand einiger Vertreter der ehemals so kritischen „sozialliberalen Generation“ wunderte. Noch auf dem Frankfurter Historikertag von 1998, der mit seiner Sektion „Historiker im Nationalsozialismus“ als Höhepunkt der Debatte angesehen werden kann9, vermied es der Vorsitzende des Historikerverbandes, Johannes Fried, in seiner Eröffnungsrede die Namen seiner inkriminierten Vorgänger ausdrücklich zu nennen10 – aber jeder im Saal kannte sie.
Einer von ihnen war Theodor Schieder. Nun hat Christoph Nonn, an der Universität Düsseldorf Professor für Neueste Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Geschichte des Landes NRW, ihm eine Biographie gewidmet, die in der repräsentativen Schriftenreihe des Bundesarchivs erschienen ist und offenbar die Kontroverse abschließen soll. Ein Großteil des Buches ist Schieders wissenschaftlicher Biographie vor 1945 sowie der Verarbeitung dieser Lebensphase in den Nachkriegsjahrzehnten gewidmet. Dabei versucht der Autor den Eindruck zu erwecken, dass er, der an der Kontroverse nicht teilgenommen hat, eine quasi-neutrale Position einnehme: Schieder sei für ihn weder „Held“ noch „Hassobjekt“ (S. 9). Außerdem informiert Nonn seine Leser, dass der „eigentliche Antrieb“, dieses Buch zu schreiben, nicht die umstrittene Figur oder das Œuvre des Historikers, sondern seine „eigenen Erfahrungen“ gewesen seien, die er „seit [seiner] Berufung auf einen historischen Lehrstuhl an deutschen Universitäten gemacht“ habe. Er habe das Thema also aus rein pragmatischen Gründen gewählt und lediglich nach einer „zentralen Figur der deutschen Geschichtswissenschaft“ gesucht (S. 9). Daraus ergibt sich eine erstaunliche Selbstsicherheit, die es Nonn gestattet, den Schieder-Streit und das gesamte Forschungsfeld „von oben“ zu betrachten und alle anderen Kollegen belehren zu wollen. Betroffen sind davon vor allem jene Historiker, die schon vor dem Autor über Schieder geforscht haben, wie etwa Ingo Haar, dessen Arbeiten der Verfasser ständig kritisiert, obwohl er sich ganz offensichtlich auf dessen Recherchen stützt – ohne dies immer genau kenntlich zu machen.11
Nonns Buch ist keine Biographie im üblichen Sinne. Wir begleiten Schieder nicht von der Wiege bis zur Bahre, obwohl der Autor sich bemüht, das bürgerlich-protestantische Milieu, in dem der kleine Theo aufwuchs, und später auch den bildungsbürgerlich-patriarchalischen Habitus des Professors anschaulich zu schildern. So erfahren wir auf die Minute genau, wann das Kind geboren wurde, doch wann und wie Schieder starb – hatte er am Schluss vielleicht Albträume wie Hermann Heimpel? –, wird uns vorenthalten. Überhaupt bleibt das psychologische Profil des Protagonisten, der selbst von sich behauptete, eine „ausgeglichene und ausgleichende Persönlichkeit“ zu sein (zit. auf S. 4), relativ blass. Es heißt zwar, Schieder sei „schüchtern“ gewesen, aber wie erklären sich dann sein ungewöhnlicher Lebensweg, sein zähes Taktieren und Finassieren, seine erfolgreiche „Vernebelung“ – wie er selber einem Freund gegenüber sagte (zit. auf S. 131) – der eigenen NS-Vergangenheit sowie sein ständiges Streben nach Macht und Ämtern in der Wissenschaft, an der Universität, in der Hochschulpolitik usw.?
Der erste Teil des Buches zeichnet Schieders Bildungsweg nach – er war führendes Mitglied der rechtsradikalen, antisemitischen „Gildenschaft“ und promovierte 1933 bei dem Münchner nationalsozialistischen Historiker Karl Alexander von Müller – sowie seinen Aufstieg zum Königsberger Professor – mitten im Krieg, per Hausberufung, dank exzellenter politischer Vernetzung. Schieders Nähe zur NS-Ideologie und zu anderen NS-Historikern wird dabei heruntergespielt. Im zweiten Teil steht dann der Neuanfang nach 1945 im Mittelpunkt. Unter dem für den lässigen Stil des Buches charakteristischen Titel „Bürgerlicher Reload“ geht es um den ominösen „Lernprozess“, den Schieder-Schüler wie Hans-Ulrich Wehler ihrem Lehrer stets unterstellt haben, den sie aber nicht konkret nachweisen konnten, weil ja der erste Schritt, den Irrtum beim Namen zu nennen, nie getan wurde. Schieder hat das immer abgelehnt. Im Gegenteil: Einen echten Neuanfang gab es nicht, außer dass Schieder nach dem Krieg einen neuen Lehrstuhl suchte. Die Freunde waren im Wesentlichen die alten, sofern sie nicht, wie Kleo Pleyer, gefallen waren. Und unter Freunden hat man dann auch Schieder geholfen, so wie er wiederum seinen Freunden und deren Freunden half.
Seine Berufung nach Köln wurde zu einem der ersten kleinen Berufungsskandale der Nachkriegsrepublik, jedenfalls aus heutiger Sicht. Denn eigentlich wollte die Universität den in New York lehrenden Emigranten Hans Rosenberg (1904–1988) berufen, der wissenschaftlich hochqualifiziert war und bereits ein internationales Ansehen genoss. Doch wie Nonn berichtet, gelang es dem konservativen Mediävisten Peter Rassow, der zwar nicht direkt mit Schieder, aber mit manchen seiner Freunde verbandelt war, durch eine gezielte Fehlinformation Rosenberg so zu verschrecken, dass er den Ruf ablehnte und damit Schieder den Weg freimachte. Nonn sieht diese Intrige allerdings in einem milden Licht: Kein „Machtkartell von nationalsozialistisch Belasteten“ habe Rosenberg verhindert und Schieder durchgedrückt, sondern es habe sich lediglich um einen der üblichen „Machtkämpfe um Stellen und historisch-politische Deutungshoheit“ gehandelt (S. 138). Weder in Köln noch anderswo habe es damals Kämpfe zwischen ehemaligen Nazis und deren Gegnern gegeben, sondern bloß Kämpfe zwischen „verschiedenen politischen Milieus oder Lagern: dem katholischen, dem sozialdemokratischen und dem bürgerlich-protestantischen“ (S. 138). Mit dieser Milieu-These, die er als besondere Erkenntnis herausstreicht, liefert Nonn scheinbar eine passende Erklärung dafür, dass es in den 1950er- und 1960er-Jahren eigentlich nie um NS-Verstrickungen (also Vertuschungen und Wiedereinstellungen) gegangen sei, sondern nur um die Durchsetzung legitimer, soziologisch begründeter Interessen: „Die Versuche zur Verdrängung dieser Vergangenheit waren nicht Resultat einer allgemeinen und im Grunde unterschiedslosen Belastung. Sie sind vielmehr zu verstehen als Auswirkung des Fortbestehens der Milieus und als Resultat ihrer Machtkämpfe untereinander, in denen der Vorwurf der NS-Belastung eine Waffe war.“ (S. 139) Auch so kann man Geschichte neutralisieren.
Kapitel für Kapitel werden dann Schieders Nachkriegsaktivitäten präsentiert: seine jahrzehntelange, autokratische Herausgeberschaft der „HZ“, seine Herausgeberschaft der „Dokumentation der Vertreibung“, seine Fürsorge für Doktoranden und Habilitanden (fast alle erhielten Stellen und waren dem „Meister“ ein Leben lang verpflichtet), schließlich auch sein Engagement für das mehrbändige „Handbuch der europäischen Geschichte“, das Nonn als Schieders „Lebenswerk“ bezeichnet (wie viele ehemalige Nazis setzte Schieder auf Westeuropa als Bollwerk gegen den Bolschewismus; mit Historikern jenseits des „eisernen Vorhangs“ verweigerte er jedes Gespräch). Das alles kulminiert in einem langen Kapitel über die Studentenrevolte von 1967/68, die Hochschulreform und die Auseinandersetzung mit den eigenen Schülern, von denen einige – wie Hans-Ulrich Wehler, Wolfgang J. Mommsen, Helmut Berding usw. – zu den Begründern der „Historischen Sozialwissenschaft“ und ab 1975 der Konkurrenzzeitschrift „Geschichte und Gesellschaft“ gehörten.
Auch hier versucht Nonn zu beschwichtigen und zu allererst, die Maßstäbe neu zu richten: Die Beschäftigung mit „68“ sei bis heute „fast ausschließlich“ eine „Domäne derjenigen gewesen, die damals selbst als studentische Akteure Furore machten“ (S. 307).12 Das will er ändern. Seine Rekonstruktion von Schieders Lebenswelt angesichts studentischer Protestaktionen ist entsprechend einfühlsam. Die Angst des Sechzigjährigen vor langhaarigen Fachschaftsvertretern, die unqualifizierte Reden halten, erscheint ihm nur zu verständlich. Die „Gleichsetzung der Studentenbewegung mit den Nationalsozialisten“ sei „um 68 unter Historikern ausgesprochen gängig“ gewesen (S. 309), und unter Hinweis auf Götz Alys Buch „Unser Kampf“ (2007) stimmt er dem implizit zu. Dass sich hinter dem Gerede vom „latenten Bürgerkrieg“ eine groteske Realitätsverweigerung alter, konservativer Männer verbergen könnte, kommt ihm nicht in den Sinn. Auch war der kulturrevolutionäre Sprachduktus keine Kölner Besonderheit (obwohl er etwas Karnevaleskes hatte), sondern in der ganzen Bundesrepublik, in ganz Westeuropa und nicht zuletzt in den USA verbreitet, also mit entsprechender Gelassenheit zu betrachten. Viele liberale Professoren schlossen sich ihm an.13 Doch auch wenn sich Schieder, wie die Studenten sagten, bis dahin als „Wetterfahne der herrschenden Klasse“ (zit. auf S. 315) bewährt hatte – der abrupte Übergang vom autoritären CDU-Staat zu einer wirklich „offenen Gesellschaft“ ging über seinen Horizont. Plötzlich war der Großordinarius „nackt“, und er reagierte mit Panik. Er ließ seine Vorkriegsschriften aus der Bibliothek entfernen und wegschließen; Hörsäle betrat er nur noch unter dem Begleitschutz von Assistenten und Hilfskräften, später gar nicht mehr.
Wieder erweist sich Nonn, der die Studentenbewegung als einen „Sturm im Wasserglas“ bezeichnet, welcher kaum zu Veränderungen geführt habe, „wenn man von bloßen Äußerlichkeiten wie dem Verzicht auf Talare absieht“ (S. 332), gegenüber seinem Protagonisten als einfühlsam, so dass ihm bei mindestens einer Episode die Phantasie durchgeht: Als Schieder 1970 den Kölner Historikertag in seiner Funktion als Verbandsvorsitzender eröffnen wollte, habe eine „Gruppe Münchener Geschichtsstudenten“ versucht, „den Redner vom Pult zu verdrängen und selbst das Wort zu ergreifen. Es kam zu einer Rangelei, bei der auf Seiten der Professoren unter anderem Ernst Nolte handgreiflich wurde“ (S. 317). Soweit der äußere Hergang, angeblich – aus heutiger Sicht zwar nicht ganz so skandalös, wie der Autor meint, aber aus damaliger Sicht natürlich eine Majestätsbeleidigung. Um seine Erzählung zu belegen, beruft sich Nonn auf Interviews mit pensionierten Schieder-Schülern. Zwei der angeblichen Störer nennt er namentlich: Josef Mooser und Stefan Breuer. Hans-Ulrich Wehler habe sie damals auffordern müssen, „doch den alten Mann in Ruhe zu lassen“, schreibt er (S. 317). Wer möchte da nicht Mitleid haben? Eine so heikle Information hätte eigentlich überprüft werden müssen. Doch ausgerechnet mit diesen Kollegen hat Nonn keinen Kontakt aufgenommen.
Also hat der Rezensent seinerseits nachgefragt, und es stellte sich heraus: 1. dass Josef Mooser, heute emeritierter Professor an der Universität Basel, an dem fraglichen Historikertag gar nicht teilgenommen hat, und dass 2. Stefan Breuer, heute Professor an der Universität Hamburg, zwar in der Tat jener Münchener Studentengruppe angehörte, die „nach Schieders Eröffnungsrede“ und auch „nach einem weiteren, extrem langweiligen Vortrag“, wie sich Breuer erinnert14, ein kritisches Statement zur Lage des Faches äußern wollte, ihr Vorhaben aber angesichts der wütenden Reaktion einiger Professoren schnell wieder aufgab; „mit der Person Schieder“ jedenfalls habe dies „alles überhaupt nichts zu tun“ gehabt. Kurzum: Nonn, der sich darüber mokiert, dass die „68er“-Bewegung nur eine „erfundene Tradition“ ihrer „ehemaligen Aktivisten“ sei (S. 332), erfindet hier selbst ein gegen Schieder angezetteltes Handgemenge, um zu veranschaulichen, wie flegelhaft sich die Protestierer gegenüber dem Professor verhalten hätten. Dabei ging es gar nicht, wie durch Breuers Mitteilung deutlich wird, um Schieder als Person mit brauner Vergangenheit, die unfähig war, die eigene Geschichte zu hinterfragen oder hinterfragen zu lassen; das war nur dessen heimliche Angst. Auf der Tagesordnung stand vielmehr, und das war brisant genug, das „Fach Geschichte“ in einer Gesellschaft, die endlich demokratisch(er) werden, den Konservatismus und Nationalismus der Nachkriegsjahrzehnte überwinden und sich nicht bloß verbal dem Westen öffnen sollte – bis hin zum damals überall heiß diskutierten Marxismus.
Natürlich enthält Nonns Buch auch einige interessante und neue Informationen. Als erster hat er Schieders Nachlass gründlich ausgewertet und zitiert häufig aus dessen Briefwechseln. Vielleicht sogar zu häufig, denn es dominiert eine Binnenperspektive, die kaum kontextualisiert wird. Dafür reichen die Interviews mit Familienmitgliedern und Schülern nicht aus. Warum nicht ein paar Stichproben aus den Nachlässen von DDR-Historikern oder Franzosen, Engländern, Amerikanern mit Eindrücken über Schieder? Insgesamt entsteht ein Bild der Person, das in vielen Teilen zwar richtig und realistisch sein dürfte, das am Ende aber doch enttäuscht. Wie konnte dieser Mann eine solche „Faszination“ ausüben? Leider bleiben die im engeren Sinne historiographischen Debatten unterbelichtet, und auch die institutionelle Entwicklung des Faches in den Jahrzehnten nach 1945 wird nicht wirklich analysiert; ein paar grobe Statistiken genügen dafür nicht.
Der Wandel der deutschen Geschichtswissenschaft, so Christoph Nonns Schlussthese, habe nur aus dem „nationalkonservativ gesinnten bürgerlich-protestantischen Milieu“ heraus angestoßen werden können, das durch Schieder repräsentiert worden sei (S. 366). Dagegen wäre ein Hans Rosenberg in Köln und in der Bundesrepublik insgesamt zwangsläufig gescheitert (S. 364). So mündet dieses Buch, das manches Unangenehme verschweigt – zum Beispiel die eingangs erwähnte Abschaffung der „Theodor-Schieder-Gedächtnisvorlesung“ durch das Historische Kolleg oder die Tatsache, dass Schieder noch 1953 Karl Alexander von Müller lobend rezensierte und ihm 1958 sein Buch „Staat und Gesellschaft im Wandel unserer Zeit“ als Zeichen „einer seit drei Jahrzehnten fortdauernden Verbundenheit“ widmete –, in die These, dass alles so kam, wie es kommen musste, und das sei auch gut so.
Anmerkungen:
1 Stiftung Historisches Kolleg (Hrsg.), Theodor-Schieder-Gedächtnisvorlesung. Horst Fuhrmann, Das Interesse am Mittelalter in heutiger Zeit. Beobachtungen und Vermutungen; Lothar Gall, Theodor Schieder 1908–1984, München 1987, Zitat S. 47; URL: <http://www.historischeskolleg.de/fileadmin/pdf/dokumentationen_allgemein_pdf/dok02_fuhrmann_gall.pdf> (17.11.2013).
2 Rudi Goguel, Über die Mitwirkung deutscher Wissenschaftler am Okkupationsregime in Polen im Zweiten Weltkrieg, untersucht an drei Institutionen der deutschen Ostforschung, phil. Diss. Humboldt-Universität zu Berlin 1964.
3 Michael Burleigh, Germany Turns Eastwards. A Study of ‚Ostforschung’ in the Third Reich, Cambridge 1988.
4 Karl Heinz Roth, Wir, Schieders Enkel. Reflexionen anläßlich des Buchs von Ingo Haar über die Historiker im Nationalsozialismus, in: Junge Welt, 22.1.2001.
5 Angelika Ebbinghaus / Karl Heinz Roth, Vorläufer des „Generalplan Ost“. Eine Dokumentation über Theodor Schieders Polendenkschrift vom 7. Oktober 1939, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 7 (1992) H. 1, S. 62–94; zugänglich unter: <http://gplanost.x-berg.de/wprim.html#Vorl> (17.11.2013).
6 Susanne Heim / Götz Aly, Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Hamburg 1991 (engl. Übers. 2003, frz. Übers. 2006). Ergänzend: Wolfgang Schneider (Hrsg.), „Vernichtungspolitik“. Eine Debatte über den Zusammenhang von Sozialpolitik und Genozid im nationalsozialistischen Deutschland, Hamburg 1991. Während bei Heim / Aly von den Historikern noch kaum die Rede war, wurde deren Beitrag zur „völkischen Flurbereinigung“ explizit thematisiert in: Götz Aly, „Endlösung“. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt am Main 1995, S. 15ff.
7 Charles S. Maier, Comment, in: Hartmut Lehmann / James Van Horn Melton (Hrsg.), Paths of Continuity. Central European Historiography from the 1930s to the 1950s, Cambridge 1994, S. 389–395, hier S. 395.
8 Bei Historikern wie Hans-Joachim Beyer oder Fritz Valjavec konnte eine solche Beteiligung an Mordaktionen dann tatsächlich nachgewiesen werden.
9 Siehe die Beiträge in: Winfried Schulze / Otto Gerhard Oexle (Hrsg.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1999.
10 Johannes Fried, Eröffnungsrede zum 42. Deutschen Historikertag am 8. September 1998 in Frankfurt am Main, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 46 (1998), S. 869–874.
11 Vgl. Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten, Göttingen 2000 (2., revidierte Aufl. 2002), sowie zahlreiche Aufsätze desselben Autors.
12 Zum Beleg verweist er auf Publikationen von Norbert Frei (geb. 1955) und Ingrid Gilcher-Holtey (geb. 1952), die meines Wissens keine aktiven „68er“ waren.
13 Siehe dazu etwa die Autobiographie von Gilbert Ziebura, der damals an der Freien Universität Berlin lehrte: Kritik der „Realpolitik“, Berlin 2009, S. 163ff.
14 Stefan Breuer, E-Mail an den Rezensenten vom 8.11.2013.