Der Gedanke an das „Ende“ Roms ist gewöhnlich mit zwei Zäsuren verknüpft: mit einer chronologischen, dem Jahr 476, als der „letzte“ weströmische Kaiser abgesetzt wurde, und mit einer geographischen, die für den Zeitraum ab 395 oft fraglos von einer Zweiteilung des Römischen Reiches in eine West- und eine Osthälfte ausgeht. Zumindest eine dieser Zäsuren, die chronologische, scheint für Henning Börm in seiner Monographie mit dem bis weit ins 6. Jahrhundert ausgreifenden Überblick zur Geschichte des spätrömischen Westens keine Rolle zu spielen. Auch in anderer Hinsicht kann man erkennen, dass es sich nicht um eine bloße Reprise der Ereignis- und Strukturgeschichte der letzten Phase weströmischer Geschichte handelt, für die man sich Absatz unter Studenten erhofft, die grundsätzliche Orientierung auf diesem Gebiet suchen, sondern dem Buch ein durchaus eigenständiger Zugriff auf den behandelten Zeitabschnitt zugrunde liegt, der sich aus Börms Forschungsinteressen ergibt.
Nach der Vorstellung des für die behandelte Zeit verfügbaren Quellenmaterials führt Börm durch einen Überblick zur Geschichte des römischen Westens im 4. Jahrhundert zu seinem Thema hin, das er sodann in zunächst fünf chronologisch orientierten Kapiteln bis 568 abhandelt. Hiervon entfallen vier äußerlich konventionell unterteilte Kapitel auf den Zeitraum von 395 bis 476: Ein Kapitel mit Stilicho im Mittelpunkt reicht bis zur Plünderung Roms durch Alarichs Goten im Jahre 410, das nächste steht im Zeichen der Feldherren Constantius (III.) und Bonifatius, unterbrochen von der mit dem Übergang der Kaiserwürde von Honorius auf Valentinian III. verbundenen Krise, sodann folgen ein dem Heermeister Aëtius als Hauptperson gewidmetes Kapitel sowie eine Darstellung der Schlussphase des weströmischen Kaisertums nach dem Ende der theodosianischen Dynastie bis 476.
Die in diesen Kapiteln dargebotenen Inhalte lassen auch den wenig informierten Leser nicht in einer Fülle von Einzelheiten versinken1, sondern schaffen Orientierung: Dies betrifft im Kleinen zum Beispiel die allmählichen Verschiebungen im Kräfteverhältnis zwischen dem Westen und dem Osten des Römischen Reiches zugunsten des Ostens, die Kriterien für die Einmischung des Ostens in Angelegenheiten des Westens, die Abhängigkeit der Kaiser von ihren Feldherren und daraus resultierende Maßnahmen, die Bemühungen der Heermeister, sich unentbehrlich zu machen und so ihre prekäre Stellung abzusichern, sowie Rivalitäten zwischen den je eigene Ziele verfolgenden Militärs und Parteibildungen am Hof, in die die Kaiser, ihre Angehörigen und das Hofpersonal einbezogen wurden.
Börms zweifellos bedeutendster für Orientierung sorgender Aspekt aber besteht in der prominenten Herausstellung des Bürgerkriegsgedankens, unter dem er den Umgang der Beteiligten miteinander betrachtet und den er in der Gegenüberstellung von „Völkerwanderung oder Bürgerkrieg?“ zum Ende der die Zeit bis 476 behandelnden Kapitel abschließend reflektiert. Dabei nimmt er explizit gegen die in letzter Zeit wieder mehr in den Vordergrund getretenen exogenen Faktoren als Ursache für das Ende des weströmischen Reiches2 Stellung und integriert stattdessen die wandernden Verbände gerade in ihrer Funktion als foederati in das Bürgerkriegsgeschehen, indem er den „verfeindeten Gruppen innerhalb der römischen Oberschicht selbst“ die Verantwortung dafür gibt, diese Verbände in die Auseinandersetzungen hineingezogen zu haben, „da sie sich ihrer Kampfkraft bedienen wollten“ (S. 116). Mit dem Bürgerkriegsparadigma rückt Börm einen Leitgedanken in den Mittelpunkt, der angesichts verfeindeter innerrömischer Gruppierungen manche widersprüchlich wirkenden Aktionen der Heermeister sowie der Westgoten, Vandalen, Sueben und Hunnen zu erklären und in Zusammenhang zu stellen vermag, ohne dass man auf eine Bedrohung von „außen“ rekurrieren muss. Diese Deutung zeugt von tiefem Verständnis für die genuin römische Sichtweise und Mentalität.
Nach den vier Kapiteln, die den Zeitraum von 395 bis 476 behandeln, widmet Börm der – sogar etwas längeren – Periode von 476 bis 568 nur noch ein einziges Kapitel. Darin zeigt sich, dass er diesem Zeitabschnitt mit der Herrschaft erst Odoakers, dann der Ostgoten in Italien, den Kriegen Justinians im Westen und deren Folgen in seiner Darstellung trotz des Untertitels seines Buches nicht dasselbe Gewicht wie den vorausgehenden Jahrzehnten gibt, sondern vielmehr Kontinuitätslinien herausstellen will, die mit dem häufig als Einschnitt angesehenen Jahr 476 keineswegs abgebrochen waren. Beispielsweise war durchaus nicht klar, dass nach der Unterbrechung 476 bzw. 480 nicht doch noch einmal ein weströmischer Kaiser erhoben werden konnte: In diesem Sinne interpretiert Börm neu und recht plausibel die 498 durch Anastasius erfolgte Rücksendung der kaiserlichen Insignien an den italischen Machthaber Theoderich3; bisher galt diese Geste als für den Ostgotenkönig gedachte Anerkennung einer kaiserlichen Stellvertreterfunktion im Westen. Insgesamt erfüllt dieses Kapitel ähnliche Funktionen wie Börms Einstieg mit dem Überblick zum 4. Jahrhundert. Für Börm endet die Geschichte Westroms erst mit der Abschaffung des weströmischen Hofs durch einen Rechtsakt, die constitutio pragmatica Justinians von 554. Diese Maßnahme stellt sich augenscheinlich als Revision der letztlich auf das Mehrkaisertum zurückgehenden Auseinanderentwicklung der beiden Reichsteile dar, freilich unter dem umgekehrten Vorzeichen einer Präponderanz des Ostens, die ja durch das Mehrkaisertum sich erst hatte ergeben können. Dass der Osten unter diesen Bedingungen die politische Lage im Westen nicht sonderlich souverän einschätzte, zeigte im Jahre 568 der Einmarsch der Langobarden in Italien.
Auf den chronologischen Teil folgt ein Block mit fünf kürzeren systematischen Kapiteln, die diverse strukturgeschichtliche Gesichtspunkte abhandeln: Kaisertum und Hof, Reichsverwaltung, Armee, Wirtschaft und religiöse Entwicklungen. Sie bringen notwendige Ergänzungen im Interesse einer ganzheitlichen Betrachtung des behandelten Zeitraums und unterstützen das Verständnis durch die Möglichkeit, Einzelmaßnahmen in bestimmte Strukturvoraussetzungen einzuordnen. Dabei bietet Börm durch Rekurs bis ins 2. und 3. Jahrhundert, bei Bedarf bis Augustus Einsichten, die die Leitlinien herausstellen und das Zurechtfinden in den Ereignissen des 5. und 6. Jahrhunderts erleichtern. Den Abschluss bilden ein kurzer Ausblick bis zur Kaiserkrönung Karls des Großen und ein Anhang mit Zeittafel, nützlichem Glossar, Literaturverzeichnis, knappen Anmerkungen und Register.
Diese Einführung in die weströmische Geschichte des 5. und 6. Jahrhunderts ist zuverlässig fundiert, nicht zuletzt in Börms eigenen Forschungen4, die es ihm ermöglichen, Zugänge zu dem behandelten Zeitabschnitt mit selbst erarbeiteten Elementen zu markieren. Um dies nachzuvollziehen, lohnt sich ein Blick in die – durchweg knappen – Endnoten. Sie lassen erkennen, dass Börm in Darstellung und Argumentation auf neuestem Forschungsstand operiert, die wesentliche Literatur kennt und eingearbeitet hat und vor allem sich zu ihr auch positioniert, wenngleich im Rahmen einer solchen Einführung keine eingehende Auseinandersetzung möglich ist, sondern kurze Hinweise genügen müssen.5 Daher liegt in der Darstellung nicht gleich auf der Hand, dass Börm führende Militärvertreter mit Zugang zur Verwaltung und zum Hof wie Constantius (III.), Aëtius und Ricimer hinsichtlich ihrer Verantwortung für die Desintegration des weströmischen Teilreiches in der Regel negativer beurteilt als die Autoren der diesen Personen gewidmeten Monographien. Börm lässt seine Quellenkenntnisse einfließen und nutzt neben der Forschungsliteratur auch die einschlägigen Handbücher und einige Veröffentlichungen renommierter Althistoriker für breitere Leserkreise.6 Über viele Ereignisse und Phänomene des behandelten Zeitraums sind angesichts der Quellenlage keine absolut sicheren Einschätzungen möglich. Dem wird Börm in jeder Hinsicht durch gegebenenfalls vorsichtige, letzte Verbindlichkeit ausschließende Formulierungen gerecht. Dabei nutzt er jedoch in verantwortungsvoller Weise den ihm gerade hierdurch verfügbaren Spielraum, zu Einzelheiten wie auch zu strukturierenden Leitlinien eigene Anschauungen zur Geltung zu bringen, so dass sein Überblick zur weströmischen Geschichte von Honorius bis Justinian durchaus individuell geprägt ist.
Anmerkungen:
1 Dies erscheint als ein nicht zu unterschätzender Nachteil der in größerem Maße auf politische und kirchliche Ereignisgeschichte ausgerichteten Darstellung von Ingemar König, Die Spätantike, Darmstadt 2007, einer Einführung, die S. 73–110, wenngleich unter Einbeziehung Ostroms, den Zeitraum von 395 bis 476 behandelt.
2 Vgl. Peter Heather, The Fall of the Roman Empire, London 2006 sowie Bryan Ward-Perkins, The Fall of Rome and the End of Civilization, Oxford 2006; zu beiden Werken die Rezension von Udo Hartmann, in: H-Soz-u-Kult, 09.07.2007, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-3-022> (09.09.2013).
3 Ausführlich entfaltet der Autor den Gedanken in Henning Börm, Das weströmische Kaisertum nach 476, in: Henning Börm / Norbert Ehrhardt / Josef Wiesehöfer (Hrsg.), Monumentum et instrumentum inscriptum. Beschriftete Objekte aus Kaiserzeit und Spätantike als historische Zeugnisse. Festschrift für Peter Weiß zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2008, S. 47–69.
4 Vgl. sein Literaturverzeichnis S. 199–216, hier S. 200f.
5 Vgl. etwa die Bemerkungen zu Tido Janßen, Stilicho. Das weströmische Reich vom Tode des Theodosius bis zur Ermordung Stilichos (395–408), Marburg 2004 (S. 221, Anm. 17); Werner Lütkenhaus, Constantius III. Studien zu seiner Tätigkeit und Stellung im Westreich 411–421, Bonn 1998 (S. 222, Anm. 4); Timo Stickler, Aëtius. Gestaltungsspielräume eines Heermeisters im ausgehenden Weströmischen Reich, München 2002 (S. 223, Anm. 25); Dirk Henning, Periclitans res publica. Kaisertum und Eliten in der Krise des Weströmischen Reiches 454/5–493 n. Chr., Stuttgart 1999 (S. 225, Anm. 1 u. 7–8; S. 226, Anm. 37); Friedrich Anders, Flavius Ricimer. Macht und Ohnmacht des weströmischen Heermeisters in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2010 (S. 226, Anm. 23); Mischa Meier, Anastasios I. Die Entstehung des Byzantinischen Reiches, Stuttgart 2009, sowie ders., Ostrom – Byzanz, Spätantike – Mittelalter. Überlegungen zum „Ende“ der Antike im Osten des Römischen Reiches, in: Millennium 9 (2012), S. 187–254 (S. 228, Anm. 31); Helmuth Schneider, Das Ende des Imperium Romanum im Westen, in: Richard Lorenz (Hrsg.), Das Verdämmern der Macht. Vom Untergang großer Reiche, Frankfurt am Main 2000, S. 26–43 (S. 230, Anm. 9).
6 Vgl. beispielsweise eine Reihe von Beiträgen bei Mischa Meier (Hrsg.), Sie schufen Europa. Historische Portraits von Konstantin bis Karl dem Großen, München 2007.