Wien war eine der wichtigsten militärischen Operationszentralen im nationalsozialistischen Großdeutschland, deren Rolle in der Organisation des Vernichtungskriegs im Osten bis heute wenig erforscht ist. Als Sitz des Wehrkreiskommandos XVII sowie des Luftwaffenkommandos Ostmark fungierte Wien als wichtige Schaltzentrale für die Rekrutierung, Verschiebung und nicht zuletzt die Disziplinierung riesiger Truppenverbände. Darüber hinaus war Wien, neben Berlin, mit neun Wehrmachtgerichten wichtigster Standort der Militärjustiz. Es ist letzterer Aspekt, mit dem sich Mathias Lichtenwagners Buch „Leerstellen“ auseinandersetzt.
Der Fokus der Monographie liegt auf den Stätten der Verfolgung – den steinernen Zeugen einer Unrechtsjustiz. Am Beispiel der Stadt Wien untersucht der Autor die Geschichte und Funktionen jener Gebäude, die während der NS-Zeit als Sitz für die Wehrmachtgerichte, Gerichtsherren, Fahndungsstellen bzw. Haftstätten dienten. Die Studie will einerseits neue Erkenntnisse über das komplexe System der Militärgerichtsbarkeit gewinnen und andererseits den Umgang der österreichischen Gesellschaft und Politik mit diesem Erbe beleuchten. Der stadtgeschichtliche Ansatz erweist sich als durchaus fruchtbar. So gelingt es dem Autor unter anderem die enge Verflechtung zwischen rechtssprechenden und vollziehenden Instanzen deutlich zu machen. Dies ist wichtig, weil viele Wehrmachtrichter nach 1945 vorgaben, nichts von den menschenverachtenden Zuständen in den verschieden Haft- und Strafstätten gewusst zu haben.
Im Mittelpunkt seines Forschungsinteresses stehen allerdings die Entwicklungen nach 1945 und insbesondere die Frage, wie das Schicksal jener Zehntausenden, die der Wehrmachtsjustiz zum Opfer fielen, aus dem gesellschaftlichen Gedächtnis getilgt wurde. Keine Beschriftung, Tafel oder sonstiges Zeichen erinnert bis heute an die Tatsache, dass in diesen Gebäuden Unrecht gesprochen wurde bzw. Verfolgte gequält wurden.
Eingeleitet von einem kursorischen Überblick zur Struktur und Organisation der NS-Militärjustiz untersucht die Studie in vier thematischen Einzelkapiteln jeweils einen Aspekt der militärgerichtlichen Verfolgungsmaschinerie.
Im ersten Kapitel lokalisiert der Autor anhand akribischer Quellenrecherche die teilweise in Vergessenheit geratenen Standorte und Zweigstellen der verschiedenen Wehrmachtgerichte und Kommandanturen (letztere waren Sitz der Gerichtsherren, welche den Urteilen Rechtskraft verliehen). Was dabei auffällt, ist die räumliche Nähe der einzelnen Gerichte (so befanden sich an einigen Standorten, wie am Franz Josefs Kai oder der Hohenstauffengasse, zeitweise mehrere Gerichte) und Fahndungs- bzw. Haftinstitutionen (S. 128–29). Wie dicht das Netzwerk der NS-Militärjustiz auch inhaltlich war, zeigt sich besonders deutlich in der Zusammenarbeit des Gerichts der Division 177 und der Wehrmachtsstreife, die Lichtwagner im zweiten Kapitel behandelt.
Gerade die unrühmliche Rolle der Wehrmachtsstreifen als Handlanger der Wehrmachtsjustiz und der Gestapo ist bis heute kaum untersucht. In Wien wurde auf Anregung des am Gericht der Div. 177 tätigen Oberfeldrichters Dr. Karl Everts eine eigene Streifeneinheit in der nahen Rossauerkaserne gebildet. Soldaten, die sich dem Fronteinsatz durch Selbstverstümmelung zu entziehen versuchten (oder dessen verdächtigt wurden), wurden hier gefoltert, um Geständnisse zu erpressen.1 Wieso die Geschichte dieser Einheit bis heute nicht aufgearbeitet ist, ist, so mutmaßt der Autor, vor allem der Tatsache geschuldet, dass mit Major Karl Biedermann gerade einer der (wenigen) Helden der österreichischen militärischen Widerstandsbewegung Kommandeur der Wehrmachtsstreife war (S. 221).
Das dritte Kapitel untersucht die Haftanstalten der Wehrmacht, in denen Wehrmachtsangehörige entweder in Untersuchungshaft saßen, Arrest- oder Gefängnisstrafen abbüßten oder für den Weitertransport in Wehrmachtsgefängnisse, Arbeitslager oder Strafeinheiten „zwischengelagert“ wurden. Insgesamt sieben Hafteinrichtungen konnte Lichtenwagner ausfindig machen, wobei die Wehrmacht für die Unterbringung der zahlreichen Häftlinge in erster Linie Kasernen oder zivile Gefängnisse nutzte, welche die zivile Justizverwaltung abtreten musste.
Zwar gelingt es dem Autor nicht wirklich, mehr Licht in das komplexe und undurchsichtige Strafsystem der Wehrmacht zu bringen, was aber eher der schwierigen Materiallage und dem „terminologischen Chaos“ (S. 228) als dem Autor anzulasten ist; wohl aber illustriert die Studie anhand von Verfahrensakten, die hohe Zahl an Verfolgungsinstitutionen, die ein Häftling oft durchlaufen musste. Zudem wird deutlich, dass die Verfolgung nicht im Verborgenen, sondern vor den Augen aller stattfand. Die Beschuldigten wurden nicht nur in ihren Wohnungen, in Cafés oder Bars, oder auf offener Straße verhaftet, sondern sogar mit der Straßenbahn zwischen den verschiedenen Haftstätten und Gerichten transportiert (S. 46).
Eindrücklich ist das letzte Kapitel „Hinrichtungsorte“, für das der Autor auf Aufzeichnungen von Militärseelsorgern zurückgreifen konnte, welche die letzten Stunden mit zum Tode Verurteilten verbrachten. Die Ausführungen zum Landesgericht Wien, in dem Häftlinge mit dem Fallbeil oder Strang ermordet wurden, oder zum relativ gut dokumentierten Militärschiessplatz Kagran2, wo zum Tode verurteilte Soldaten durch Erschießungskommandos exekutiert wurden, führen die Auswirkungen der menschenverachtenden Spruchpraxis deutlich vor Augen.
Die Leerstellen, auf die der Titel des Buches rekurriert, verweisen auf die Lücken im österreichischen Gedächtnis. Es sind Gedächtnislücken im doppelten Wortsinn, denn sie meinen sowohl die fehlende Erinnerung an die Opfer der NS-Militärjustiz im gesellschaftlichen Gedächtnis als auch die Absenz von Erinnerungszeichen im öffentlichen Raum. Obwohl die Republik Österreich die Opfer der NS-Militärjustiz 2005 und 2009 juristisch rehabilitierte, freilich erst nach langjährigen Diskussionen, und den Unrechtscharakter der Wehrmachtsjustiz offiziell bestätigte, gibt es an keinem der öffentlichen Gebäude, die in der Zeit von 1938 bis 1945 der Militärjustiz als Gerichtsstand oder Haftstätte dienten, einen Hinweis auf seine frühere Funktion. Darüber hinaus fehlen auch in den meisten historiographischen Darstellungen zu diesen Gebäuden Informationen zu deren Nutzung in der NS-Zeit. Die Aussparung ist umso bedeutungsvoller, als es sich bei den heutigen Nutzern dieser Gebäude durchwegs um öffentliche bzw. halb-öffentliche Institutionen handelt. Das imposante, ehemalige k.u.k Kriegsministerium am Stubenring 1 etwa diente in der NS-Zeit als Standort einer Kommandantur und der Feldgerichte der Division 177 und des XVII. Armeekorps. Heute ist es Sitz von vier Ministerien. Keines fand es bislang der Mühe wert, die gut dokumentierte Tätigkeit dieser Gerichte in diesem Haus und das Schicksal ihrer Opfer in irgendeiner Form zu erwähnen – ein vergangenheitspolitisches Armutszeugnis für die Regierungen der letzten Jahre.
Mit akribischer Sorgfalt hat der Autor die Funktion der einzelnen Gebäude in der NS-Zeit, in der sie als Gerichtssitze, Kommandanturen, Haftstätten oder Hinrichtungsorte fungierten, recherchiert und deren Charakter als Verfolgungsinstitution mit zahlreichen Fallbeispielen aus Gerichtsakten belegt. Positiv hervorzuheben sind zudem die hervorragende und reiche Illustration des Buches. Leider wirkt die Erzählung durch die Aneinanderreihung dieser Fülle von Belegen mitunter etwas monoton und repetitiv; die Fallbeispiele sind oft zu kursorisch behandelt, um einen wirklichen Eindruck vom Umgang mit den Betroffenen zu gewinnen. Auch finden sich einige Fehler oder Ungenauigkeiten in den Ausführungen zur Militärjustiz und dem Strafvollzug: so war etwa die Wehrmachtsjustiz keineswegs nur für die Bestrafung spezieller Delikte zuständig (S. 23), KZ Einweisungen von militärgerichtlich Verurteilten erfolgten schon bevor Himmler Befehlshaber des Ersatzheeres wurde (S. 164).3
„Leerstellen“ führt die Ausgrenzung der Opfer aus dem öffentlichen Gedenken klar vor Augen. Eine tiefergehende Auseinandersetzung mit den Ursachen für dieses Schweigen sucht man aber vergebens. Zwar spielte der über Jahrzehnte in Österreich fleißig strapazierte Opfermythos, auf den der Autor verweist, zweifellos eine maßgebliche Rolle. Doch lässt sich damit die Absenz jeglichen Gedenkens vollends erklären? Wieso etwa scheuen sich das österreichische Bundesheer und das Verteidigungsministerium noch immer – und obwohl sie sich dezidiert von der Wehrmacht abgrenzen – ihre Soldaten mit den gut dokumentierten Verbrechen der NS-Militärjustiz zu konfrontieren? Auch die wichtige Frage, ob diese Leerstellen mit „traditionellen“ Erinnerungszeichen gefüllt werden können (und sollen), erörtert die Studie leider nicht. Dafür entschädigt sie mit wichtiger Grundlagenarbeit. Und mit einem inspirierenden Beispiel, wie mit diesem Verschweigen umgegangen und Menschen zum Nachdenken angeregt werden könnten: im Rahmen von aktionistischen Spaziergängen brachten Lichtenwagner und die Initiative der AK Denkmalpflege temporäre Tafeln an den Gebäuden an mit der Aufschrift „Hier hängt [k]eine Gedenktafel für die Verfolgten und Ermordeten der NS-Militärjustiz“. Die Tafeln wurden von den Gebäudenutzern innerhalb von wenigen Stunden entfernt.
Anmerkungen:
1 Gerhard Artl hat als einer der Ersten diesen Fall untersucht. Gerhard Artl, Oberfeldrichter Everts und die Serie von Selbstverstümmelungen im Sommer 1944 in Wien, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs, 43 (1993), S. 194–205.
2 Herbert Exenberger und Heinz Riedel, Militärschießplatz Kagran, Wien 2003.
3 Siehe Thomas Geldmacher, Strafvollzug. Der Umgang der Deutschen Wehrmacht mit militärgerichtlich verurteilten Soldaten, in: Walter Manoschek (Hrsg.), Opfer der NS-Militärjustiz. Urteilspraxis, Strafvollzug, Entschädigungspolitik in Österreich, Wien 2003, S. 470–471.