Th. Albrecht: Für eine wehrhafte Demokratie

Titel
Für eine wehrhafte Demokratie. Albert Grzesinski und die preußische Politik in der Weimarer Republik


Autor(en)
Albrecht, Thomas
Reihe
Politikgeschichte und Gesellschaftsgeschichte 51
Erschienen
Anzahl Seiten
383 S.
Preis
€ 29,70
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Volker Depkat, Historisches Institut Lehrstuhl für Allgemeine Geschichte der Neuesten Zeit, Ernst-Moritz-Arndt-Universität

Relativ bald nach 1989 ist gefordert worden, die für die Zeitgeschichtsforschung charakteristische Kleinteiligkeit einschließlich der damit verbundenen Betonung historischer Brüche zu überwinden und sich stärker auf die Kontinuitäten des 20. Jahrhunderts zu konzentrieren 1. Diese Forderung nach 'Längsschnitten' ist teils mit sozialisationsgeschichtlichen Ansätzen verbunden worden 2. Nun boten biographische Studien immer schon die Möglichkeit, anhand von Längsschnitten das Verhältnis von Zäsuren und Kontinuitäten zu thematisieren. Selten aber sind 'Individuum' und 'Geschichte' so konsequent aufeinander bezogen, sind Sozialisationserfahrungen so prägnant zu den politischen Ordnungsvorstellungen und dem konkreten Handeln des einzelnen in Beziehung gesetzt worden, wie in der hier angezeigten Dissertation. Sie zeichnet auf breiter Quellenbasis ein insgesamt rundes, das Individuelle wie das Typische herausarbeitende Bild der zu Unrecht vergessenen Person Albrecht Grzesinskis (1879-1947), fragt nach den prägenden persönlichen und politischen Erfahrungen, die Orientierungen für das Regierungshandeln boten und schafft es, über die biographische Analyse ein neues Licht auf das demokratische Preußen der Weimarer Republik zu werfen.

In den 1920er Jahren stand die Stabilität der preußischen Regierungsverhältnisse in schneidendem Kontrast zu den schnellen Regierungswechseln im Reich. Dies zeigt Thomas Albrecht, daß es unter den Bedingungen der Weimarer Republik durchaus möglich war, "funktionsfähige demokratische Regierungen zu etablieren" (S. 7). Einen wesentlichen Grund dafür sieht er in den verantwortlichen Politikern, die das Regierungssystem trugen, in ihm so machtbewußt wie verantwortungsvoll agierten und ihre politische Praxis an klarer republikanisch-demokratischer Programmatik ausrichteten. Grzesinski wird folglich nicht allein in seiner ganzen Individualität analysiert, sondern immer auch als typischer Repräsentant dieser politischen Führungselite. Am Beispiel Grzesinskis widerlegt Albrecht insgesamt überzeugend die immer wieder vorgebrachte pauschale Behauptung, daß der SPD in der Weimarer Republik ein realistisches Verhältnis zur Macht gefehlt habe.

Die Studie ist zeitlich und thematisch breit angelegt, wobei der auf das Regierungshandeln der Weimarer Jahre ausgerichtete Perspektivpunkt die Darstellung bestimmt. Zunächst werden die biographischen Prägungen Grzesinskis von der Geburt bis zur Revolution von 1918/19 nachgezeichnet. In der Selbstinterpretation Grzesinskis wie auch in der Analyse Albrechts umfaßt dieser Zeitraum die politische Lehrzeit des späteren preußischen Innenministers. Es wird deutlich, daß dessen Werdegang als Metallarbeiter, Gewerkschaftsfunktionär und Verwaltungsexperte einen Erfahrungsraum definierte, der politische Zielvorstellungen und praktische Politik in der Weimarer Republik nachhaltig prägte. Grzesinski wuchs in einfachen, aber kleinbürgerlichen Verhältnissen auf, die sein Engagement in der Arbeiterbewegung keineswegs vorzeichneten. Im Gegenteil: der Eintritt in den Deutschen Metallarbeiterverband (1897) und die Sozialdemokratische Partei (1900) bedeuteten die "Abkehr von der 'bürgerlichen Welt' der Eltern" (S. 29). Das professionelle Milieu, in dem Grzesinski sich seit dem Beginn seiner Lehre als Metalldrücker bewegte, die auf der Wanderschaft vielfältig gemachten Erfahrung der Mißstände in den Betrieben wie auch die des 'Klassenkampfes von oben' trieben eine allmähliche Politisierung voran, die die Basis für Grzesinskis Karriere als besoldeter Gewerkschaftsfunktionär bildete.

Grzesinski wird als "Typus des handwerklichen Arbeiterführers" analysiert, für den auch andere gemäßigte Sozialdemokraten wie Gustav Noske, Wilhelm Sollmann, Carl Severing und Friedrich Ebert stehen. Eine theorieferne, dezidiert pragmatische Grundhaltung kultivierend, stieg Grzesinski bis zum Ersten Weltkrieg durch Energie, organisatorisches und politisches Geschick in Offenbach und Kassel zum hauptamtlichen Gewerkschaftsbevollmächtigten auf. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges kam für ihn überraschend; er sah in dem einmal erklärten Krieg aber eine Möglichkeit, die Arbeiter in Staat und Gesellschaft zu integrieren und ihnen so Gestaltungsmöglichkeiten zu eröffnen. Die Entwicklungen des Krieges schienen dieser Position Recht zu geben; die über den Staat vermittelte Annäherung zwischen Unternehmern und Arbeiterschaft, die in der Anerkennung der Freien Gewerkschaften gipfelte, erhöhten den eigenen Einfluß beträchtlich.

Die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges, vor allem die von staatlichen Behörden organisierte Kriegswirtschaft, befestigten Grzesinskis autoritäres Staatsverständnis. Damit zusammen hängt die sich mit dem Krieg verbindende 'Einsicht', daß die Autorität und Stabilität eines Staates auf der Loyalität seines Militärs und seiner Verwaltung beruhte. Jede Politik zur Stabilisierung der Republik mußte deshalb darauf zielen, die Verfügungsgewalt über diese Exekutivorgane zu erreichen. Die Demokratisierung von Militär, Polizei und Bürokratie wurde folglich zum wichtigsten Politikziel Grzesinskis. Die Garantie eines freien und allgemeinen Wahlrechts allein würde das öffentliche Leben in Deutschland nicht automatisch demokratisieren, meinte er, blieb damit aber bis 1933 in der eigenen Partei in der Minderheit.

Der Machtzuwachs der Gewerkschaften im Ersten Weltkrieg hatte für Grzesinskis Karriere Konsequenzen. Als DMV-Vorsitzender wurde er zum 'starken Mann' Kassels, der alles daran setzte, Einheit und Disziplin der Organisation aufrechtzuerhalten. Diese politische Zielstellung bestimmte sein Handeln auch in der Revolution 1918/19. Grzesinski war Vorsitzender des am 9. November 1918 gebildeten örtlichen Arbeiter- und Soldatenrates und wirkte als "Organisator der Revolution" (S. 71). Sein eigener politischer Forderungskatalog war bereits mit der Parlamentarisierung des Reiches im Oktober 1918 weitgehend erfüllt. Die Revolution im November kam für ihn deshalb überraschend; sie bedeutete eine Phase des unkontrollierten Wandels, der das bisher Erreichte zu gefährden schien. Indem Grzesinski sich an die Spitze der örtlichen Revolution setzte, nahm er ihr erfolgreich die potentielle Radikalität. Kassel war nach dem 9. November eine Ruhezone der Revolution.

Durch die Revolution wurde Grzesinski in die Landes- und Reichspolitik katapultiert. Als Delegierter Hessens auf dem Berliner Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte und als Mitglied des "Zentralrats der Arbeiter- und Soldatenräte" war er eine loyale Stütze der Politik Friedrich Eberts. Die Sozialisierung der Wirtschaft war für Grzesinski das Projekt der Zukunft, zu dessen Durchsetzung eine staatliche Stabilität notwendig war, die 1918/19 erst noch erreicht werden mußte. Die demokratische Republik war die Voraussetzung für einen evolutionären und deshalb weitgehend friedlichen Übergang zum Sozialismus.

Zwischen 1919 und 1933 war Grzesinski als führendes Mitglied der sozialdemokratischen Landtagsfraktion und in verschiedenen Verwaltungspositionen einer der einflußreichsten Politiker Preußens. Den größten Einfluß hatte er während seiner zweimaligen Tätigkeit als Polizeipräsident von Berlin (1925 - 1926; 1930 - 1932) und als preußischer Innenminister (1926 - 1930). Als seine Hauptaufgabe betrachtete er in allen Positionen die Stärkung der Republik durch die konsequente Verfolgung ihrer Feinde, den Ausbau der polizeilichen Exekutive, die grundlegende Reform der Behördenorganisation und eine konsequente demokratische Personalpolitik. Dabei ging er zuweilen rücksichtslos vor, taktierte geschickt zwischen den verschiedenen Instanzen und Institutionen, schuf mit harter Hand immer wieder handstreichartig vollendete Tatsachen.

Nachdem er um 1921 einsehen mußte, daß die Chance zur Demokratisierung der Armee auch aufgrund einer zu sorglosen und halbherzigen Politik der eigenen Partei verpaßt worden war, konzentrierte Grzesinski sich auf die Polizei und die zivile Verwaltung. Diese Politik kam während seiner Zeit als Innenminister zur vollen Entfaltung. Während sein Vorgänger im Amt, Carl Severing, die Demokratisierung der Verwaltung durch tiefgreifende organisatorische und personelle Veränderungen eher vernachlässigt hatte, trieb Grzesinski dies nun entschieden voran. Das gilt vor allem für die Personalpolitik, wo Grzesinski konsequent durchgriff. Albrecht kann statistisch belegen, daß Grzesinskis, bisher von der Forschung eher zurückhaltend bewertete, Personalpolitik einen deutlichen "Fortschritt in der Durchdringung der Verwaltung mit überzeugten Anhängern der Republik gebracht" hat (S. 230).

Die Personalpolitik war eingebettet in umfassende Strukturreformen. Die Entscheidungsspielräume dafür waren einerseits durch die offene Frage der Reichsreform, andererseits durch die widerstreitenden Interessen von Kommunen, Bezirken und Provinzen eng begrenzt. Da die angestrebte große Verwaltungsreform angesichts der Mehrheitsverhältnisse im preußischen Landtag nicht durchsetzbar war, verfolgte Grzesinski einen pragmatischeren Ansatz, der einzelne Teile aus dem geplanten Gesamtpaket getrennt in Angriff nahm. Als Erfolg seiner Politik ist die Auflösung der Gutsbezirke zu werten. Bis zum Oktober 1929 löste Grzesinski über 11.500 der insgesamt 11.894 Gutsbezirke auf, die bis dahin dem Zugriff der staatlichen Behörden weitgehend entzogen waren und deren 1.458.888 Einwohner kein kommunales Wahlrecht hatten. Außerdem paßte er durch das größte Umgemeindungsgesetz in der preußischen Geschichte im rheinisch-westfälischen Industriegebiet die Verwaltungsorganisation an die, durch die dynamische wirtschaftliche Entwicklung geschaffenen, Tatsachen an. Am nachhaltigsten konnte Grzesinski im Bereich der Polizei sein Reformkonzept umsetzen. Hier wirkte er sogar traditionsbildend: Der materielle Gehalt seiner Polizeireformen fand nach 1945 Eingang in die Polizeigesetze der jungen Bundesrepublik.

Grzesinskis Reformpolitik war mittel- und langfristig angelegt. Sie setzte auf Zeit, die jedoch weder er in seinem Amt noch die Weimarer Republik insgesamt hatten. Das Ende seiner Tätigkeit als Innenminister kam unerwartet. Am 26. Februar 1930 trat Grzesinski, dessen uneheliches Zusammenleben mit der Schauspielerin Daisy Torrens, wenngleich seit Jahren bekannt, zum Gegenstand öffentlicher Agitation seiner politischen Gegner zu werden drohte, von seinem Amt als Innenminister zurück, um die mit knapper Mehrheit in Preußen regierende Koalition zu erhalten. Doch wurde er schon bald nach seinem Rücktritt zum Polizeipräsidenten von Berlin ernannt. Allerdings litt seine Tätigkeit unter den unterschiedlichen Auffassungen über die Personalpolitik zwischen ihm und seinem Nachfolger als Innenminister, Carl Severing. Es kam wiederholt vor, daß Severing scharfe personalpolitische Disziplinarmaßnahmen Grzesinskis wieder aufhob. Gerade in den Jahren der Staatskrise behinderten so Rivalitäten innerhalb der preußischen Verwaltung ein einheitliches und entschiedenes Auftreten gegenüber den erklärten Feinden der Republik.

Zum Zeitpunkt des Staatsstreiches am 20. Juli 1932 bekleidete Grzesinski als Berliner Polizeipräsident eine Schlüsselposition. Nach anfänglichem Zögern widersetzte er sich unter Berufung auf formale Mängel seiner Absetzung und wurde daraufhin trotz Abgeordnetenimmunität von der Reichswehr gefangen genommen. Sehr anregend sind die Überlegungen Albrechts über die Frage nach den Möglichkeiten eines gewaltsamen Widerstandes. Indem er die Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte des Zeitgenossen sehr viel ernster nimmt als üblich, erhebt er sich über die bisher doch sehr normativ geprägte Forschungsdiskussion. Er stellt zu Recht heraus, daß ein Generalstreik bei sechs Millionen Arbeitslosen nicht nur geringe Erfolgsaussichten gehabt hätte, sondern daß die Nationalsozialisten von einem fehlgeschlagenen Generalstreik hätten profitieren können (S. 320). Zudem müsse man die Abneigung gegenüber Gewalt und die strikte Verfolgung einer Legalitätspolitik, die seit Jahrzehnten das politische Handeln Grzesinskis geleitet hatte, anerkennen (S. 321). Am plausibelsten erscheint mir jedoch das Argument, daß es nach Grzesinskis Meinung seit der Verhängung des Ausnahmezustandes am 20. Juli 1932 für Widerstand "zu spät" gewesen sei. Jemand wie Grzesinski, dessen Politik seit 1919 eine konsequente Demokratisierung von Justiz, Polizei, Schule und Verwaltung als vorbeugende Sicherung der Demokratie betrachtet hatte, der die in der Vergangenheit verpaßten Chancen klar erkannt und dennoch versucht hatte, in Teilbereichen seine Vorstellungen umzusetzen, und der selbst in der Preußenkrise 1932 für rechtzeitige entschiedene Aktionen seitens der preußischen Regierung eingetreten war, um einer Reichsintervention zuvor zu kommen, hatte offenbar die Erwartung des möglichen Scheiterns der eigenen Bemühungen immer schon mit einkalkuliert. Am 20. Juli 1932 schien sich diese Erwartung zu erfüllen.

Mit der nationalsozialistischen 'Machtergreifung' war Grzesinski, der einst gesagt hatte, man sollte Hitler mit der Hundepeitsche wieder aus Deutschland treiben, einer der am meisten gehaßten Männer. In schneller Folge trafen ihn die Repressalien des NS-Staates. Er entzog sich der Verfolgung durch Flucht. Seine politische Arbeit im Exil, zunächst in Paris, dann in New York, wird leider nur noch kurz gestreift. Die Darstellung fällt an beschreibender Dichte und analytischer Tiefe deutlich ab. Wie die Erfahrung des sich mit dem Exil verbindenden biographischen Bruches auf die politischen Ordnungsvorstellungen und das konkrete Handeln Grzesinskis wirkte, schimmert nur ansatzweise durch. Dieser 'Abfall' erklärt sich natürlich aus der Aufgabe, die sich Albrecht selbst gesetzt hat, nämlich das Regierungshandeln Grzesinskis in der Weimarer Republik zu erörtern. Allerdings ist die Studie insgesamt so breit angelegt, daß ich es bedauert habe, nicht mehr darüber zu erfahren, wie sich das Verhältnis von 'Sozialisationserfahrung', 'Geschichtserfahrung' und 'politische Ordnungsvorstellungen' unter den Bedingungen des Exils gestaltete. Dies hätte den die 'traditionellen' Epochengrenzen des 20. Jahrhunderts überwindenden 'Längsschnitt' noch weiter geführt. Es scheint aber das 'Schicksal' guter und anregender Arbeiten zu sein, daß sie den Rezensenten immer noch mehr fordern lassen.

Anmerkungen:

1 Paul Erker: Zeitgeschichte als Sozialgeschichte: Forschungsstand und Forschungsdefizite, GG 19 (1993), 216. Hans Günter Hockerts: Zeitgeschichte in Deutschland: Begriff, Methoden, Themenfelder, HJb 113 (1993), 127. Anselm Doering-Manteuffel: Deutsche Geschichte nach 1945: Entwicklung und Problemlagen der historischen Forschung zur Nachkriegszeit, VfZg 41 (1993), 24.

2 Klaus Tenfelde: 1914 bis 1990 - Einheit der Epoche, Aus Politik und Zeitgeschichte 41 (1991) Nr. 40, 27. September 1991, 5-7.

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