D. v. Reeken u.a. (Hrsg.): ‚Volksgemeinschaft‘ als soziale Praxis

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Titel
‚Volksgemeinschaft‘ als soziale Praxis. Neue Forschungen zur NS-Gesellschaft vor Ort


Autor(en)
von Reeken, Dietmar; Thießen, Malte
Reihe
Nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“ 4
Erschienen
Paderborn 2013: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
377 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Jakob Benecke, Lehrstuhl für Pädagogik, Universität Augsburg

Die Chiffre der „Volksgemeinschaft“ wurde vom NS-Regime und seiner Propaganda im Kontext der eigenen Machtausübung unentwegt beschworen. Intention dieser Bezugnahme war es, die eigene Politik zu legitimieren sowie die deutsche Bevölkerung zur leistungsbereiten Mitwirkung an der Umsetzung der eigenen ideologischen Zielsetzungen zu motivieren. Der inflationäre Gebrauch der Chiffre und ihre eben skizzierte Struktur sind in der Forschung zur NS-Herrschaft weder neu noch strittig. Die in den letzten Jahren verstärkt aufgekommene und sich in entsprechender Spezialforschung gleichermaßen wie in Übersichtsbänden1 niederschlagende wissenschaftliche Debatte über die NS-„Volksgemeinschaft“ entzündet(e) sich an vertiefenden Fragen dieses Zusammenhangs. Vorrangig geht es hierbei um die, mit ihrer Proklamation verbundenen, politischen Intentionen sowie die diesbezüglich tatsächlich vollzogenen Realisierungsgrade.

Dieses Erkenntnisinteresse an der „Volksgemeinschaft“ und hieraus entspringende konkrete Fragestellungen sind auch die Ausgangsbasis des hier besprochenen Bandes, der die Beiträge einer Tagung des Niedersächsischen Forschungskollegs „Nationalsozialistische ‚Volksgemeinschaft‘? Konstruktion, gesellschaftliche Wirkungsmacht und Erinnerung vor Ort“ aus dem Jahr 2012 zusammenträgt. Die Einschätzung der „Volksgemeinschafts“-Chiffre als wirkungsmächtig wird in den Beiträgen übergreifend spürbar. Sie schreiben dieser nahezu durchweg große Relevanz für die politischen und sozialen Praxen der NS-Herrschaft zu. Die Auffassung, es habe sich hierbei um einen bloßen Propagandamythos gehandelt, findet sich in keinem der Beiträge. Konkretes Erkenntnisinteresse der Tagung und damit des Bandes mit seinen insgesamt 22 Beiträgen, die sich, neben Einführung (Dietmar von Reeken und Malte Thießen) und abschließender Bilanz (Michael Wildt), auf sieben Unterkapitel mit je zwei bis fünf Beiträgen verteilen, ist die Frage nach der tatsächlichen Ausgestaltung lokaler „Volksgemeinschaft(en)“ vor Ort. Verbindende zentrale Perspektiven sind hierbei einerseits eine Untersuchung der NS-Gesellschaft vor Ort, „also anhand von Lokal- und Fallstudien zu einzelnen Regionen und Städten“ (S. 13) sowie andererseits eine Analyse der „Volksgemeinschaft“ als soziale Praxis. Mit diesem regional und praxeologisch konzipierten Zugriff auf die NS-Gesellschaft verbinden die Herausgeber des Bandes eine dreifache Erwartungshaltung: „Der Blick auf die soziale Praxis macht erstens auf die Vieldeutigkeit des Begriffes aufmerksam (1), zweitens auf die Bedeutung lokaler Akteure und Machtbeziehungen (2) sowie drittens auf die Transformationen der ‚Volksgemeinschaft‘, mit denen soziale Dynamiken greifbar werden (3)“ (S. 19). Dieser Vorgabe werden die Beiträge des Bandes in großer Mehrheit gerecht und tragen damit – unter je themenspezifisch und methodisch zugeschnittener Perspektive – erkennbar dazu bei, „das Forschungskonzept ‚Volksgemeinschaft‘ schärfer zu profilieren“ (ebd.).

Der Band vereint unterschiedliche Auseinandersetzungen mit der NS-„Volksgemeinschaft“, die von der thematisch und methodisch heterogenen Erforschung ihrer Realisierungen über theoriebasierte Zugänge bis zu Versuchen einer Systematisierung der bereits vorliegenden Forschung und Theoriebildung reichen. Die große Bandbreite der hierbei vorgenommenen Fokussierungen wird bereits erkennbar, wenn man die unterschiedlichen Zugänge der einzelnen Kapitel betrachtet: Perspektiven und Zugriffe; Ländliche Gesellschaften; Städtische Repräsentationen; Akteure der Vergemeinschaftung; Exklusionen vor Ort; Rüstung und Krieg; Nachwirkungen. Wenngleich für die vorhandenen Beiträge auch andere Kategorien bzw. eine feinere Kategorisierung denkbar gewesen wären (gerade aus praxeologischer Perspektive erschließt sich die vorgenommene Zuordnung zum Kapitel „Akteure der Vergemeinschaftung“ nicht zur Gänze, die eine Reihe aktiv an Letzterer beteiligter Gruppen in andere thematische Schwerpunkte und somit in andere Kapitel des Bandes eingliedert) und keineswegs sämtliche Bezüge berücksichtigt werden konnten, die bei dieser weiten Auslegung des Themas relevant erscheinen (Aspekte der Geschlechter- oder Generationendifferenzierung werden lediglich in einigen Beiträgen implizit eingebracht), so ist es doch gerade diese Heterogenität, die sich als erkenntnisförderlich erweist. Durch die Aufnahme solcher, im vorliegenden Kontext nur selten einbezogener Bereiche historischer Forschung, wie beispielsweise der Architektur- und Stadt- (Sylvia Necker, Kerstin Thieler, Lu Seegers, Gunnar Zamzow) sowie der Sportgeschichte (Henry Wahlig) werden neue Facetten der „Volksgemeinschaft“, ihrer regionalen Verwirklichung und Wahrnehmung beleuchtet. Vergleichbares gilt für die empirisch unterfütterten Vorschläge neuer bzw. veränderter theoriebasierter Zugänge zum Thema: die Forderung, zur Analyse lokalspezifischer Gemeinschaften im Nationalsozialismus nicht weiter auf die Gemeinschaftskonzeption bei Ferdinand Tönnies, sondern auf jene Emile Durkheims zu rekurrieren (Habbo Knoch); das Plädoyer, hierbei auf eine Kombination von historischer und operativer Semantik im Sinne der Systemtheorie Niklas Luhmanns zurückzugreifen (Armin Nolzen); die analytische Anbindung einer Untersuchung der Aushandlungsprozesse lokaler Vergemeinschaftungsprozesse an Norbert Elias’ Konzeption einer kommunikativen Figuration (Inge Marszolek); die themenspezifische Fruchtbarmachung der „Bühnen“-Metaphorik Erving Goffmans für eine Analyse der durchaus konflikthaften Gemeinschaftsbildung in ländlichen Lebenswelten (Ernst Langthaler, Anette Blaschke); den Versuch, die verfügbaren kategorisierenden Systematisierungen der unterschiedlichen Formen abweichenden Verhaltens während der NS-Zeit mit den entsprechenden Kategorien auf den Inklusionsbereich auszudehnen und so vermeintlich das gesamte damalige Verhaltensspektrum systematisch erfassen zu können (Reiner Hering). Ergänzt werden diese Beiträge durch solche, die sich dem Tagungsthema unter Bezugnahme auf zeitgenössische Berufsgruppen widmen, die das Regime als Vermittler vor Ort (zur Volksschullehrerschaft Kathrin Stern, Jörg-W. Link und Wilfried Breyvogel) und Verteidiger (zur NS-Justiz Christine Schoenmakers) seiner Gemeinschaftsideologie betrachtete. Durch ihre Einbeziehung der Entwicklungen vor 1933 (Habbo Knoch, Jörg-W. Link und Wilfried Breyvogel) bzw. nach 1945 (Christine Schoenmakers) zeigen diese Beiträge in erkenntnisförderlicher Weise die themenspezifische Gleichzeitigkeit von Kontinuitäten und Diskontinuitäten auf, wodurch sie eine differenziertere und Epochen übergreifende Analyse anregen. Hinzu kommen außerdem Beiträge, deren jeweils regional zugeschnittener Fokus auf den gemeinschaftsspezifischen sukzessiven Exklusionen der jüdischen Bevölkerung (Henry Wahlig), der eskalierenden Gewaltausübung durch das exkludierende Personal (David Reinicke), den besonderen Bedingungen einer Gemeinschaftsgenese unter den vielfach widersprüchlichen Einflussnahmen des Krieges (Lars Amenda, Christoph Rass) sowie den Nachwirkungen der NS-Bevölkerungspolitik nach 1945 (Bianca Roitsch, Neil Gregor) liegt. In einem eigenen Kapitel warnt Neil Gregor im Kontext seiner Analyse der Debatte um das „Schweigen nach 1945“ (S. 341) vor einer „Tendenz vieler Forschungen […] zu Verallgemeinerungen des Untersuchungsgegenstandes und zu einer Homogenisierung sozialer Vielfalt, mit der die Fiktion einer ‚Volksgemeinschaft‘ im Grunde fortgeschrieben wird“ (S. 352). Diese Einschätzung, die der Autor mit keinen Belegen versieht, steht im deutlichen Widerspruch zum überwiegend hohen analytischen Niveau der Beiträge des Bandes. Dies gilt auch für den mittlerweile erreichten Differenzierungsgrad der Forschung zur „Volksgemeinschaft“ insgesamt, wie die Bilanz Michael Wildts verdeutlicht (S. 355 und 369f.). Letztere referiert diesen vorrangig aus dessen eigener Perspektive und berücksichtigt hierbei die Beiträge des Bandes nur sporadisch (beispielsweise S. 361f.). Abgerundet wird diese multiperspektivische Annäherung an konkrete Gemeinschaftsbildungsprozesse unter der NS-Herrschaft durch einen Blick „von außen“ (Frank Bajohr), der auf erkenntnisförderliche Weise die bekannte Quelle der „Deutschland-Berichte“ der SOPADE mit Dossiers, Meldungen und Analysen ausländischer Botschafter vergleicht (S. 80) und herausarbeitet, wie „Volksgemeinschaft“ zum „Differenzbegriff“ wurde, dessen Bezugsobjekt aus dem je eigenen Selbstverständnis der beiden Gruppen heraus mit unterschiedlichen Argumenten abgelehnt wurde.

Insgesamt gesehen ergeben sich auch bei diesem Sammelband genretypische Ambivalenzen. Einerseits bietet die Zusammenstellung eine reichhaltige und vielseitig zur Vertiefung anregende Vielfalt der perspektivisch innovativen Auseinandersetzungen mit der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“. Andererseits finden sich hier Synthesen, die erkennbar aus einer langjährigen Forschungserfahrung resultieren. Dieser Struktur entsprechend bedarf es jedoch des bedarfsgerecht auswählenden, themenspezifischen Zugriffs auf einzelne Teile des Bandes. Dies gilt schon deshalb, da sich, bedingt durch die Darstellungslogik von Tagungsbeiträgen, über die einzelnen Aufsätze hinweg einerseits Redundanzen ergeben, etwa wenn wiederholt der allgemeine Forschungsstand skizzenhaft präsentiert wird, während es andererseits zwischen einzelnen Beiträgen zu Aussagewidersprüchen kommt. So wird Tönnies’ Gemeinschaftskonzeption in einem Beitrag als theoretischer Analysezugang explizit abgelehnt und für seine Ablösung plädiert (Habbo Knoch, S. 41f.) und in einem späteren zum gleichen Zweck explizit vorgeschlagen (Christoph Rass, S. 309). Dies alles begrenzt allerdings lediglich die Nutzungsmöglichkeiten der Publikation als Ganze und ist weniger ein Qualitätsmangel der durchweg ambitionierten Beiträge dieses Tagungsbandes, denen eine breite und weiter vertiefende Rezeption zu wünschen ist.

Anmerkung:
1 Vgl. neben dem hier besprochenen Band insbesondere Frank Bajohr / Michael Wildt (Hrsg.), Volksgemeinschaft. Neu Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2009, sowie Detlef Schmiechen-Ackermann (Hrsg.), „Volksgemeinschaft“. Mythos, wirkungsmächtige soziale Verheißung oder soziale Realität im „Dritten Reich“?, Paderborn 2012.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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