M. Bickenbach u.a.: Die Geschwindigkeitsfabrik

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Titel
Die Geschwindigkeitsfabrik. Eine fragmentarische Kulturgeschichte des Autounfalls


Autor(en)
Bickenbach, Matthias; Stolzke, Michael
Erschienen
Anzahl Seiten
220 S., 43 Abb.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Itzen, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

„Fahr vorsichtig!“ Die Bitte der Eltern oder des eigenen Lebenspartners, bei einer längeren Autofahrt vorsichtig zu sein, ist beinahe jedem im Ohr. Nicht ohne Grund: Jahr für Jahr kommen allein auf deutschen Straßen tausende Menschen ums Leben, ganz zu schweigen von den hunderttausenden Menschen, die hierzulande jährlich bei Unfällen verletzt und traumatisiert werden. Weltweit nehmen die Zahlen gigantische Ausmaße an. Autofahren stellt eines der größten Alltagsrisiken des 20. und 21. Jahrhunderts dar. Doch anders als im privaten Umfeld spielen Verkehrsunfälle in politischen Debatten kaum eine Rolle, und auch in der deutschen Geschichtswissenschaft sind – anders als in angelsächsischen Ländern1 – Alltagsrisiken wie der Straßenverkehr eher selten ein zentraler Forschungsgegenstand.2 Für das Land, in dem der Begriff der „Risikogesellschaft“ geschaffen wurde, ist dies ein erstaunlicher Befund.

Unter den Literaturwissenschaftlern stößt das Phänomen des Verkehrsunfalls dagegen seit ein paar Jahren auf ein gewisses Interesse.3 Dies gilt auch für die beiden Verfasser des Buches „Die Geschwindigkeitsfabrik“, Matthias Bickenbach und Michael Stolzke. Die beiden Kulturwissenschaftler – Bickenbach ist Literatur- und Medienwissenschaftler in Köln, Stolzke Mitarbeiter einer Kölner Werbeagentur – beschäftigen sich bereits seit Mitte der 1990er-Jahre mit der Geschichte des Verkehrsunfalls (und beanspruchen daher im Nachwort auch die Urheberschaft für die Entdeckung des Themas). Eine geschichtswissenschaftliche Monographie, die eine der wichtigsten Forschungslücken zur Geschichte von Alltagsrisiken füllt, sollte der Leser von ihrem neuen Buch allerdings nicht erwarten, und darin liegt auch nicht der Anspruch des Bandes.

Das ist insofern ein Vorteil, als die beiden Autoren den essayistischen Stil nicht nur dazu nutzen, sich stark auf Argumente und Thesen zu konzentrieren, sondern das Buch durch zahlreiche interessante Elemente erweitern, die einen besonderen Zugang zu dem Thema bieten. So finden sich zwischen den Kapiteln jeweils kurze kommentierte Stücke aus Dichtung oder Journalismus, in denen das Phänomen des Autounfalls interpretiert wird. Bilder aus unterschiedlichen Jahrzehnten von Unfällen einerseits, von Autowerbung andererseits ergänzen den Text, und am Ende der Lektüre findet der Leser ein Personenregister ganz besonderer Art, nämlich eine Auflistung prominenter Verkehrsunfallopfer. Auch literarische Prominenz spielt in dem Buch keine geringe Rolle – die Brüder Grimm, Bert Brecht, Michel Foucault, Immanuel Kant und (natürlich) Robert Musil sind zur Interpretation der Geschichte des Verkehrsunfalls für die beiden Autoren ebenso wichtig wie Ralph Nader und seine Streitschrift „Unsafe at any speed“ von 1965.

Für diese Perspektive gibt es einen konzeptionellen Grund. Bickenbach und Stolzke beklagen in ihrem Buch, dass die klassische Technik- und Kulturgeschichte lediglich einen „äußerlichen Blick“ ermögliche, der „Rückwirkungen der Technik, ihre Schnittstellen zur Wahrnehmung, Psyche und sozialem Verhalten, außer Acht lässt“ (S. 179). Sie wollen diese Lücke schließen und nähern sich dem schwierigen Feld vor allem über eine Auswertung literarischer, filmischer und philosophischer Quellen, ohne jedoch auf zeitgenössische Ratgeberliteratur zum Autofahren oder gesellschaftspolitische Stellungnahmen und Veröffentlichungen zu verzichten.

Dieses Vorgehen der beiden Autoren kann die Lektüre des Bandes für einen konventionell ausgebildeten Historiker stellenweise gewöhnungsbedürftig machen, nicht zuletzt da beim Leser leise Zweifel aufkommen, ob der Anspruch einer „inneren Geschichte“ des Automobils über eine Diskussion literarischer Quellen zu erfüllen ist. Dies mag vielleicht auch deshalb gelten, weil das Buch zwar einen klaren Schwerpunkt auf die deutsche Kulturgeschichte des Automobils legt, aber seine Befunde sich zugleich auf Quellen angelsächsischer Länder stützen, wo sich schon im 19. Jahrhundert andere soziale und politische Praktiken im Umgang mit Alltagsrisiken durchsetzten.4 Andererseits bietet die Konzentration auf literarische Quellen unbestreitbare Chancen – nicht nur dadurch, dass es sich dabei um eine Quellengattung handelt, die von Historikern leicht zu Unrecht vernachlässigt wird. Bickenbach und Stolzke verknüpfen die Analysen von literarischen Diskursen eng mit der Realgeschichte des Automobils, aus der sie oft auch ihre Thesen ableiten. Einige Kapitel, etwa die Darstellung der 1930er- und 1940er-Jahre oder der Entwicklung der Verkehrssicherheit seit den 1950er-Jahren, lassen sich als kompakte Automobilgeschichte dieser Jahrzehnte lesen.

Was kennzeichnet nun nach Bickenbach und Stolzke die innere Kulturgeschichte des Automobils? Die beiden Autoren beschreiben das Auto als eine „Wunschmaschine“, die Selbstbestimmung, Individualität, Funktionalität und Dynamik verspreche und daraus ihre Faszination gewinne. Das entscheidende Mittel für diese Erfahrungen und Werte sei die individuell erlebbare Geschwindigkeit, die – neben dem Flugzeug – nur das Auto als „Geschwindigkeitsfabrik“ bieten könne. Bereits in den frühen Debatten um das Auto seien gefährliche Situationen und Verhaltensweisen in positive Werte verwandelt worden: Aus Raserei und Gefahr wurden auf diese Weise Dynamik und Freiheit.

Bickenbach und Stolzke schildern die Geschichte des Automobils als eine Geschichte der Verdrängung und Kompensation der dem Verkehrsmittel inhärenten Gefahren. Zu den subtileren Methoden dieser Prozesse gehören nach Ansicht der Autoren die Strategien der Hersteller, das Auto mit seinem Design zu einem erotischen Gegenstand mit femininen Zügen zu stilisieren, ebenso wie Versuche, das Innere des Autos zu einem wohnlichen zweiten Zuhause zu gestalten, das die Nutzung der gefährlichen Technologie wie selbstverständlich erscheinen lässt und die Realität der Gefahr dämpft. Aber die beiden Verfasser sehen, vor allem in den Anfangsjahrzehnten, auch direktere Methoden, das Auto vom Makel des Risikos zu befreien. Dazu zählt beispielsweise, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts Unfälle auf das Verhalten entweder rücksichtsloser oder unfähiger Autofahrer zurückgeführt wurden. Dazu gehört auch, dass die Hersteller von Beginn an ausgerechnet die Sicherheit ihrer Produkte bewerben und damit das Risiko, das grundsätzlich mit dem Auto verbunden ist, in ein Werbeargument verkehren – so zum Beispiel 1929 in einer aufwendigen Aktion eines Autoherstellers, der für einen Werbeartikel eigens einen Unfall Bert Brechts nachstellen ließ. Selbst als in den 1960er-Jahren die Debatte um die passive Sicherheit begann, führte dies nicht zu einer grundlegenden kritischen Neubewertung der Technik. Vielmehr verstärkte sich damit nur die Auffassung, dass nicht das Auto selbst, sondern der eingeschränkt fähige Fahrer Ursache eines Unfalls sei. Mit solchen Strategien ist es gelungen, so Bickenbach und Stolzke, den Unfall als die außergewöhnliche Katastrophe, „als Umkehrung des Normalen“ (S. 183) hinzustellen, wo der Unfall doch im Gegenteil eher die zu erwartende Konsequenz der Geschwindigkeitsmaschine sei.

Nicht immer kann man sich als Leser den Überlegungen der beiden Verfasser anschließen, und ihre Konzentration auf die literarische Rezeption des Phänomens wirkt mitunter etwas abstrakt und entfernt von den Alltagsphänomenen des Verkehrsunfalls. Zudem ist es durch den gewählten Ansatz unvermeidlich, dass die Akteure des beschriebenen Verdrängungsmechanismus eher schemenhaft bleiben. Es leuchtet ein, dass viele dieser Prozesse indirekt und nicht-intentional verlaufen. Bei der Kritik an solchen Entwicklungen droht aber zumindest zum Teil verloren zu gehen, dass Berufsgenossenschaften, Ärzte und Ingenieure mit ihrer Arbeit nicht nur das Automobil schützen wollten und wollen, sondern vor allem Menschenleben. Derartige kleine Einwände ändern aber nichts daran, dass der Band für Historiker sehr gewinnbringend und inspirierend zu lesen ist. Gerade die umfangreiche Bebilderung unterstützt die Thesen der beiden Verfasser sehr gut. Zudem macht der Band durch die Analyse literarischer und philosophischer Debatten eine Dimension zugänglich, die für Alltags- und Sozialhistoriker sonst eher nicht im Mittelpunkt ihrer Beschäftigung steht.

Anmerkungen:
1 Vgl. neuerdings die Monographie von Arwen Mohun, Risk. Negotiating Safety in American Society, Baltimore 2013; siehe dazu meine Rezension, in: H-Soz-Kult, 28.02.2014, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-21609> (19.01.2015).
2 Das erstaunt umso mehr, als gleichzeitig seit den 1960er-Jahren eine starke Professionalisierung der Verkehrsforschung einsetzte, an der unter anderem Psychologen, Mediziner, Juristen und Ingenieure beteiligt waren.
3 Vgl. Claudia Lieb, Crash. Der Unfall der Moderne, Bielefeld 2009; Christian Kassung (Hrsg.), Die Unordnung der Dinge. Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls, Bielefeld 2009; siehe dazu die Rezension von Johannes Kassar, in: H-Soz-Kult, 19.11.2009, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-13525> (19.01.2015).
4 Das gilt beispielsweise für Großbritannien, wo der Umgang mit Verkehrsrisiken bereits in den 1920er-Jahren weniger auf rechtliche Regulierung als auf Erziehungsmaßnahmen setzte.

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