J. v. Zitzewitz: Die Stadt, der Highway und die Kamera

Cover
Titel
Die Stadt, der Highway und die Kamera. Fotografie und Urbanisierung in New York zwischen 1945 und 1965


Autor(en)
Zitzewitz, Jutta von
Erschienen
Anzahl Seiten
271 S., 114 Abb.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Clemens Zimmermann, Historisches Institut, Universität des Saarlandes

Das mit 114 Schwarz-Weiß-Abbildungen und 9 Farbtafeln ausgestattete Buch geht von einem aktiven Wechselverhältnis zwischen Fotografie und „Urbanisierung“ aus. Untersucht werden sollen die „Verflechtungen“ medialer Praxis und der Transformationen des Stadtraums, ebenso – weiter gefasst – die Beziehungen der Fotografie zum „Feld des Urbanen“ sowie „der Einfluss der Fotografie auf die Urbanistik“ (S. 9, 14, 19, 21). Die Fotografie hatte, so die theoretische Setzung, gegenüber dem Fernsehen in der visuellen Kultur der Periode 1945–1965 noch Bedeutungshoheit, jedenfalls im untersuchten Zusammenhang. Die Kunsthistorikerin Jutta von Zitzewitz hebt in ihrer Dissertation auf die Polarität von „Magazinfotografie und unabhängiger Autorenfotografie“ ab und holt weit in die Geschichte der amerikanischen Dokumentar- und Landschaftsfotografie aus, vor allem in die Periode des New Deal.

Mit „Urbanisierung“ sind all die überaus raschen Veränderungen des städtischen Raums von New York gemeint (Verfall, großflächige Abrisse, Straßen- und Brückenbauten, Bau weiterer Infrastrukturen), durch die sich die räumliche Trennung von Arbeit und Wohnen sowie die absolute Priorität für den Autoverkehr endgültig durchsetzten. Allerdings waren die massiven Suburbanisierungsprozesse, das Fortschreiten sozialer und ethnischer Segregation und die ungeheure Dynamik des Autoverkehrs nicht allein auf politische Interventionen zurückzuführen, sondern auch auf industrielle Interessen. Die fast allgemeine Steigerung des Lebensstandards und die Idealvorstellungen im kulturellen Mainstream von einem vermeintlich besseren Leben auf dem „Land“ – diese Gesichtspunkte kommen zu kurz. Da die in die meist seriell produzierten Vorstädte à la Levittown geflohenen Mittelschichtsangehörigen weiterhin in der Innenstadt arbeiteten, zugleich aber der öffentliche Nahverkehr reduziert wurde, kam ein Verkehrschaos zustande, das wiederum die neuen Straßen- und Brückenbauprojekte zu legitimieren vermochte, auf deren fotografische Darstellung und Darstellbarkeit die Studie fokussiert ist.

Die „Nicht-Orte“ der Stadtentwicklungsprozesse, die schon die Aufmerksamkeit von Fotografen im frühen 20. Jahrhundert gefunden hatten, interessieren die Autorin ebenso, besonders auch die visuelle Kritik von Fotografen am Autofetischismus und die melancholischen Arbeiten Charles Pratts über die Peripherie (S. 133, 164). An dessen paradigmatischer Fotografie des „FDR Drive“ und an zahlreichen weiteren Beispielen ordnet von Zitzewitz die jeweiligen fotografischen Werke in die Gesamtgeschichte visueller Diskurse ein. Es geht ihr um den ästhetischen und sozialen Eigensinn der Fotografen-Autoren, um die Suche nach deren Selbstverständnissen und um deren erfolgreiche Praxis, gegenüber der hegemonialen Moderne die Qualitäten städtischer Dichte und Diversität vorzuführen (S. 46), die gerade verloren zu gehen drohten.

Im ersten Kapitel („Stadtplanung und Fotografie: Voraussetzungen“) wird neben der Benennung der widerstreitenden politischen Akteure, festgemacht am fast allmächtigen Planer Robert Moses und an seiner Gegenspielerin, der Stadtsoziologin und Aktivistin Jane Jacobs1, auf die Tendenzen der geplanten Suburbanisierung eingegangen. Der Entwicklung der ausspähenden Luftbildfotografie schreibt die Verfasserin eine entscheidende Funktion für die Durchsetzung großflächiger Stadtplanung zu, in der die Interessen der Bewohner und die Konturen ihrer Quartiere buchstäblich als klein erschienen. Über die in der Forschung schon bekannte militärische Bedeutung von Luftbildaufnahmen hinaus führt von Zitzewitz den Nachweis, wie eine solche Darstellungsform im zivilen Planungsbereich sowohl einen wissenschaftlichen Anspruch transportierte als auch offensichtlich das Publikum beeindruckte.

Das zweite und größte Kapitel („Der Highway und die Fotografie“) geht von der These aus, dass man mit der Geschichte von Park- und Highways nicht nur einen Schlüssel zur gesamten urbanistischen Entwicklung der USA in der Hand habe, sondern dass die Visualisierung von landschaftsangepassten, geschwungenen Fahrbahnen und die Repräsentationen glücklicher Autofahrer auch wesentliche Elemente der Fotografiegeschichte dargestellt hätten. Der Highway als Sujet „steht als Bindeglied zwischen allen Aspekten, die im Rahmen der Arbeit eine Rolle spielen“ (S. 22). Er sei zugleich nur zu verstehen, wenn man sich den amerikanischen Mythos der Landnahme und der Vorstellungen von Kolonisierung vergegenwärtige. Fotografisch sei das Thema indes eine schwierige Aufgabe geblieben; hierbei verweist von Zitzewitz auf Analogien zur Autobahndarstellung im Nationalsozialismus (S. 71, 103, 107). Bildgeschichtlich sticht ebenso der Brückenbau hervor, der von Fotografen wie Andreas Feininger, Erich Hartmann, Walker Evans und Hart Crane unterschiedlich konnotiert und ästhetisch divers verfolgt wurde. Es werden die Akteure des realgeschichtlichen Wandels benannt: Bundesstaat, Stadtverwaltung, Planer wie Moses, Industriefirmen wie General Motors und Marketingverbände, die sich stets auch medial präsentierten. Das fotografische Großprojekt von Roy Stryker für Esso suchte eine „transamerikanische Erzählung der Mobilität“, orientierte sich aber rückwärtsgewandt an den Bildkompositionen der New-Deal-Fotografie (S. 51, 79).

Den Bildmagazinen „Life“, „Fortune“ und „Look“ werden regelrechte „Strategien“ zugeschrieben, den „American Way of Life“ und die gewaltigen Verkehrsbauten zu propagieren. Die Zeitschriften hätten eine „affirmative Sicht auf die Highway-Kultur“ sowie eine „Strategie der Naturalisierung und Domestifizierung der Highways“ verfolgt (S. 49, 95). Viele Artikel waren schablonenhaft montiert, doch zeigen sich auch neue Montagetechniken des Nebeneinanders von Landkarten, Grafiken und Fotografien (S. 98).

Unter der Überschrift „Urbanistik, Urbanisierung und Fotografie“ wendet sich die Verfasserin im dritten Kapitel den Wechselbeziehung zwischen Fotografie und urbanistischer Disziplin zu. Letztere habe mit einem Bekenntnis zur postmodernen Stadt und ihrer medialisierten, als „vital“ apostrophierten Oberfläche (so der US-Architekt Robert Venturi) bereits die spätere Ästhetisierung der Stadtplanung antizipiert (S. 144).

Im vierten Kapitel über das „umkämpfte“ Harlem als „unsichtbare Stadt“ wird der These nachgegangen, dass sich die dortigen unwürdigen Lebensbedingungen und die präsente Gewalt im Stadtteil in den Bildberichten nicht nur spiegelten, sondern dass diese bewusst zur Exklusion der Afroamerikaner und zur Ausblendung aus dem Wahrnehmungsbereich des weißen Zeitschriftenpublikums eingesetzt worden seien. Ebenso erscheint der für die Magazine vermeintlich charakteristische Sozialdokumentarismus nur noch als ambivalente Zurschaustellung der als fremdartig konstruierten afroamerikanischen Bevölkerung. Die Magazine waren allerdings darauf angewiesen, immer wieder innovative Bildinhalte zu präsentieren; sie konnten nicht einfach als „Fremdenführer im städtischen Elendstourismus“ fungieren (S. 182). So kam es 1948 zu einer herausragenden Insiderreportage des Afroamerikaners Gordon Park über den „Harlem Gang Leader“ Red Jackson (S. 179).

Fünftens schließlich: Im Kapitel „Fotografie und städtische Memorialkultur“ über den nicht zu verhindernden Abriss der Pennsylvania Station 1963–1966 wird gezeigt, wie man sich erneut dem aus dem 19. Jahrhundert stammenden fotografischen Thema der Ruine zuwandte und damit einem subjektiv-romantisierenden Duktus. Dieser aktivierte die Kategorie des historischen Gedächtnisses, das sich jetzt zumindest bei einem kleinen Teil der Öffentlichkeit in politischen Aktionen ausdrückte. Insofern fanden sich in der New Yorker Stadtfotografie bereits Ansätze einer heute wieder hoch aktuellen „Archäologie der Moderne“ (S. 219).

Die Studie bezieht auf prononcierte Weise theoretische und interpretative Positionen, ihr Duktus ist indes ausgesprochen sachlich. In hoch konzentrierter Form, in präziser Sprache, mittels unzähliger Bild- und Quellenbelege ergeben sich Einblicke in die Stadt- und Fotografiegeschichte, weit über New York hinaus, die man woanders noch nie so pointiert und umfassend dargestellt sah. Auf der Grundlage breiter und langwieriger Archivstudien wird ein ungemein reichhaltiges Material präsentiert, das nur durch die Kombination von diachronischer und synchronischer Darstellungsweise gebändigt werden konnte. Im Mittelpunkt steht die Klärung der Funktionen von Fotografie nicht nur in den Planungsprozessen, sondern für die Form, Wahrnehmung und Gestaltbarkeit des Städtischen überhaupt. Kühl analytisch verfasst, aber dennoch mit Sympathie für die Bewohner geschrieben, werden in dem Werk die Dimensionen der Kunst-, Medien-, Stadt-, Planungs-, Theorie- und Diskursgeschichte optimal aufeinander bezogen. Man erhält das perfekt gestaltete Buch zu einem fairen Preis.

Anmerkung:
1 Vgl. zu ihr jetzt Dirk Schubert, Jane Jacobs und die Zukunft der Stadt. Diskurse – Perspektiven – Paradigmenwechsel, Stuttgart 2014; ders. (Hrsg.), Contemporary Perspectives on Jane Jacobs. Reassessing the Impacts of an Urban Visionary, Farnham 2014.