Umfangreiche Darstellungen zum Roemischen Reich, zumal wenn sie es in seiner Gesamtheit und Entwicklung ueber mehrere Jahrhunderte abhandeln, versuchen implizit oder explizit auch eine Antwort auf die immer wieder faszinierende Frage zu geben, wie es den "Roemern" gelang, ueber Jahrhunderte ein so riesiges und heterogenes Reich zu beherrschen. Die Schwerpunkte der Abhandlungen koennen sich dabei verschieben, seien es nun die Taten herausragender Machthaber, die rechtlichen Institutionen, der politische Pragmatismus oder Expansionismus im Rahmen einer traditional-konservativen Mentalitaet bzw. Herrschaftsideologie oder die Bindungswirkung personaler und informeller Abhaengigkeitsverhaeltnisse. Die Fragen an sowie der methodische Umgang mit dem fragmentarischen und disparaten Quellenmaterial koennen jeweils ganz verschiedene Vorstellungen von einem Roemischen Reich hervorrufen. So neigt z.B. eine chronologisch-ereignisgeschichtliche Darstellung dazu, aus der Kaiserzeit eine nacherzaehlte Kaisergeschichte zu machen, waehrend eine systematische Strukturgeschichte Gefahr laeuft, Wandel zu unterschaetzten und regionale sowie zeitliche Unterschiede einzuebnen. Die Verbindung von Struktur und Ereignis, von individuell willkuerlichem Herrschaftshandeln und ihren formalen Voraussetzungen sowie der Anspruch, den politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Verhaeltnissen in ihrer Mannigfaltigkeit gerecht zu werden, all das stellt hoechste Ansprueche an die Historiographie.
Zwei in ihrem Umfang und Anspruch zwar sehr verschiedene, sich aber in thematischen Teilbereichen auch ueberschneidende Buecher zur roemischen Kaiserzeit sind 1998 erschienen. Versteht sich Ausbuettels Monographie als Einfuehrung in die Verwaltungsstrukturen des roemischen Reiches von Augustus bis zum Niedergang im Westen, so handelt es sich bei der nunmehr aus dem Franzoesischen ins Deutsche uebersetzten "strukturellen Darstellung" der Hohen Kaiserzeit von Jacques und Scheid um den ersten Band eines auf zwei Baende angelegten Handbuches (Bd. 2: 'Italien und die Provinzen' ist in Vorbereitung).
Liest man den Titel von AUSBUETTELs Buch, so stellt sich sogleich die Frage, was ohne buerokratische Durchdringung eines in sich geschlossenen Territoriums eigentlich unter Verwaltung im Roemischen Reich verstanden werden kann. Ausbuettel definiert Verwaltung als die "Taetigkeiten des Staates und der verschiedenen dazugehoerigen Staedte", besonders solche, "die auf vorgegebenen politischen Beschluessen beruhen und bestimmte Lebensbereiche ordnen und gestalten. Im Rahmen dieser Vorgaben werden die innere Sicherheit, das Gerichts- und Finanzwesen, der Bau und der Unterhalt oeffentlicher Einrichtungen und die Versorgung der Bevoelkerung behandelt." (4) Ein derart weiter Verwaltungsbegriff wirft jedoch das Problem auf, inwieweit dieser ueberhaupt noch von der Herrschaftsstruktur insgesamt abgegrenzt werden kann. Andererseits tritt aber auch eine Verkuerzung der Grundzuege der roemischen Verwaltung zutage, wenn diese nur als Folge von politischen Vorgaben und nicht als Reaktion auf politische Gegebenheiten betrachtet werden. Besonders bedauerlich erscheint es aber, wenn Ausbuettel die Verwaltungsordnung nicht aus der Verwaltungspraxis, d.h. in seiner konkreten Anwendung unter den jeweils gegebenen sozialen und politischen Umstaenden sowie bei der Groesse des Reiches auch regional kulturell variierenden Bedingungen eroertert. Schliesslich waere es fuer das Verstaendnis der Eigenart und Funktionsweise der roemischen Administration zur Kaiserzeit unerlaesslich, auch die personalen und informellen Patronagenetzwerke zu beruecksichtigen. Ausbuettel bleibt in seinen folgenden Kapiteln dagegen deskriptiv, wenn nicht gar enumerativ.
Im Gegensatz zur praegnanten und hilfreichen Zusammenfassung der Grundzuege der kaiserzeitlichen Verwaltungsstruktur unter besonderer Beruecksichtigung des Provinzialregiments im Schlusskapitel, stiften die jeweiligen Einzelkapitel eher Verwirrung. Dies ist wohl auch das Resultat eines in methodischer Hinsicht kaum reflektierten Ansatzes, welcher dazu fuehrt, dass in kurzen Abschnitten Informationen zu Amtsbezeichnungen, (nicht immer klar abgrenzbaren) Zustaendigkeitsbereichen, deren Lokalisierung, Datierung und Hierarchisierung sowie diverse kaiserliche Initiativen aus immerhin fuenf Jahrhunderten zwar geballt zusammengetragen jedoch kaum analysiert und in ihrer Funktionsweise erklaert werden. Dies ermuedet um so mehr, wenn ausserdem der Eindruck eines in seinen Einzelheiten allzu kontinuierlichen Verwaltungssystems vermieden werden soll. So muessen immer wieder Eingriffe in die Verwaltung zu unterschiedlichen Zeiten eingeflochten werden. Da diese aber nur manche Provinzen und diese zudem in unterschiedlicher Weise betreffen konnten, entstehen nicht selten eher an Exzerpte erinnernde Textpassagen. Falls damit der Eindruck vermittelt werden sollte, dass den "verschiedenen administrativen Aenderungen niemals irgendein staatspolitisches Konzept zugrunde" lag (194), so hat der Autor sein Ziel durchaus erreicht. Jedoch bleibt es zweifelhaft, ob der 'Unordnung der Dinge' auch eine solche der Darstellung entsprechen muss.
Ganz anders verhaelt es sich bei dem Buch von JACQUES und SCHEID. Auch wenn die Gliederung in acht groessere Kapitel mit insgesamt etwas ueber 260 Unterabschnitten dazu verleitet, das Buch als Nachschlagewerk zu benutzen, ergibt erst die Gesamtlektuere ein plastisches Bild vom strukturellen Aufbau des roemischen Reiches zur Hohen Kaiserzeit. Dabei braucht man sich freilich nicht an die gegebene Reihenfolge der Kapitel zu halten. Es waere z.B. von Vorteil, zuerst die Abschnitte aus dem Kapitel "Gesellschaft" zu lesen, um sich dann der Verwaltungsstruktur zu widmen, welche trotz ihrer knappen Darstellung erhellender dargestellt wird als bei Ausbuettel. Ohne den Autoren aufgrund der hier gebotenen Kuerze bis in die feinen Veraestelungen ihrer gelungenen Darstellung der Wirtschafts-, Rechts-, Sozial-, Verwaltungs- und Herrschaftsstrukturen im Rahmen des Verhaeltnisses von Kaiser, Senat, rudimentaerem Verwaltungsapparat, Militaer, Provinzialeliten, Klientelkoenigen und besonders den Staedten folgen zu koennen und in seiner Komplexitaet nachzuzeichnen, liesse sich die Grundtendenz des Buches folgendermassen stichwortartig zusammenfassen: die Betonung der strukturellen Kontinuitaet des Roemischen Kaiserreiches trotz der Wandlungsprozesse sowie seiner strukturellen Heterogenitaet, ohne die allmaehlich fortschreitende Stabilisierung Integrationsleistung zu leugnen. Als eine Art programmatische Zielsetzung der Autoren kann ihre Absicht verstanden werden, den "monolithischen und monarchischen Eindruck des Prinzipats" und die statische Auffassung des Regimes zerstoeren zu wollen (5).
Was den ersten Punkt (Kontinuitaet trotz Wandel) anbetrifft, so wird der Prinzipat als eine noch stark in der Tradition der Republik verankerte, jedoch aufgrund der Kumulation der Befugnisse des Prinzeps neue Herrschaftsform (vgl. 44) geschildert, und schlicht als "Restauration der traditionellen republikanischen Institutionen mit der uebergeordneten Gewalt des princeps" definiert (53). Der einzige groessere Unterschied sei die "Verhaertung der aristokratischen Aspekte der republikanischen Regierungsform und die dauerhafte Vorherrschaft einer einzigen Familie" (51) gewesen, die "allmaehlich zu so etwas wie einer Institution des roemischen Volkes" wurde (33). Eine andere Folge war, dass die "Zentralisierung und die Permanenz der kaiserlichen Initiativ-, Zwangs- und Berufungsgewalt neue staatsrechtliche Traditionen begruendete" (51). Die Originalitaet des Prinzipats zeichnete sich eben durch die "kunstvolle Kombination aus dynastischen Eigenschaften und oeffentlichen Investiturakten" aus, indem die kaiserlichen Vollmachten nur insofern vererbt werden konnten als sie - wenn auch nur formal und akklamatorisch - zuvor vom roemischen Volk (spaeter vom Heer) auf Vorschlag des Senats eingefordert bzw. verliehen werden mussten (vgl. 29, 33).
Auch in anderer Hinsicht betonen die Autoren die Kontinuitaetsaspekte der Prinzipatszeit, was zugleich auch einen Teil ihrer Forschungskritik ausmacht. So stellte die Kaiserzeit in der "Geschichte der freien Staedte keinen wirklichen Bruch dar, ausser in der Hinsicht, dass ihr bevorzugter Partner nun der Prinzeps war" (247). Auch die "Herrschaft der Honoratioren" innerhalb der Staedte (Dekurionenstand) "war ein Dauerzustand und nicht das Ende eines Prozesses, in dem eine Oligarchie das Volk entmachtet haette" (273). Allgemein koenne man anstelle "einer Entwicklung oder Dekadenz der antiken Stadt (...) vielmehr die Kontinuitaet ihrer Prinzipien konstatieren" (277, vgl. 307, 394). Ferner habe die Annexion neuer Gebiete trotz der Unterschiede zwischen den einzelnen Gebieten nicht zu massiver Veraenderung der Strukturen gefuehrt, hoechstens zu kleineren Anpassungen. "Die regionale und lokale Verwaltung wurde Einheimischen ueberlassen, ueber denen auf hoechster Ebene roemische Beamte standen. [...] War ein bestimmtes Entwicklungsniveau erreicht und eine angepasste Fuehrungsschicht vorhanden, konnten autonome Staedte gegruendet werden" (202, vgl. 243). Schliesslich wenden sich die Autoren gegen die These, dass sich die Bedeutung des Patronats mit dem kaiserlichen System verringert habe. Zwar seien mit dem Untergang der alten grossen Senatorenfamilien die "riesigen Klientelen verschwunden" und die Auswirkungen der Patronage seien jetzt mehr sozialer und administrativer denn strenggenommen politischer Natur gewesen, jedoch "toetete weder die absolute Vorherrschaft des Kaisers (der in vielen Faellen selbst als Patron und Freund taetig wurde) noch die Entwicklung administrativer Strukturen unter seiner Kontrolle diese persoenlichen Beziehungen ab" (347).
Kommen wir zum zweiten Punkt (Integration trotz struktureller Heterogenitaet). Auch hier betonen die Verfasser die zentrale Rolle der Staedte. Es sei naemlich ein immer wieder vernachlaessigter Faktor, "dass das Reich in etliche tausend getrennte Gemeinwesen zerfiel, die nicht nur administrative und politische Strukturen" sondern auch "kohaerente soziale Einheiten" darstellten, welche fuer den Grossteil der Bevoelkerung der einzige Bezugsrahmen blieben (345f.). Die Staedte waren jene Zellen, aus denen sich das Reich aufbaute und vom Kaiser moeglichst nicht angetastet, vielmehr beschuetzt und gefoerdert wurden. Ihre Autonomie als wichtigstes Prinzip der staedtischen Politik verlangte Selbstverwaltung. Jedoch konnten der Kaiser oder die von ihm dazu beauftragten Statthalter bzw. speziell ernannten Beamten (Korrektoren, Kuratoren) jederzeit in die Angelegenheiten der Staedte eingreifen, ganz gleich welche Rechtsstellung sie innehatten. Hingegen sei diese Moeglichkeit nie systematisch genutzt worden, ausser in Krisensituationen oder auf Wunsch der Einwohner selbst (vgl. 194, 207). Auch die Schwaeche der roemischen Provinzialverwaltung fuehrte faktisch zu einer grossen Autonomie, wenn auch nur innerhalb der vom Provinzialregiment gezogenen Grenzen und unter der Autoritaet der Statthalter (vgl. 245). Dem Statthalter fielen eingedenk seiner faktisch unbeschraenkten Aktionsmoeglichkeiten dennoch hauptsaechlich Kontrolltaetigkeiten zu (vgl. 194).
Grundlegend ist die Tatsache, dass im Rahmen der von den Roemern bevorzugten binaeren Darstellung der Gesellschaft die Grenzlinie je nach Kontext juristisch, wirtschaftlich oder sozial definiert sein konnte und somit unterschiedlich verlief, dass aber in den antiken Quellen bei der Bezeichnung der herrschenden Schichten der Stadt oder des Reiches politische, moralische und soziale Faktoren untrennbar verbunden waren (329). "Die vielen Faktoren, die zur Definition der Sozialposition beitrugen, behinderten auch die Herausbildung grosser Klassen, die reichsweit kohaerent und sich gemeinsamer Interessen bewusst gewesen waeren, zumal die Roemer auf Differenzierung und Hierarchisierung grossen Wert legten." (346) Zugang zum Rat und Magistrat der Stadt war dem Sozialrang (condicio) der "ehrbaren Leuten" (honesti, honestiores) vorbehalten, deren Ehrbarkeit und Einfluss (dignitas; auctoritas) vom Vermoegen aber auch von Abkunft, tugendhafter Lebensweise (z.B. fides, honestas) und Charakter (z.B. gravitas) abhing, die ihren Ruf (fama, existimatio) ausmachten. Die Masse des Volkes (plebeii, humiliores, tenuiores) wurde dagegen als ewig minderjaehrig und erziehungsbeduerftig betrachtet. Auch wenn sie als obligatorischer Bestandteil einer jeden Stadt betrachtet wurde, galt sie im Negativbild als unfaehig, Verantwortung zu uebernehmen. Ihre legitime Funktion beschraenkte sich daher auf soziale und politische Abhaengigkeit (vgl. 273, 329f.).
Aus der dichotomischen Gesellschaftskonzeption ergibt sich dann ein weiterer Grundzug, naemlich der Vorrang der vertikalen vor horizontalen Sozialbeziehungen. "Jedes Individuum war dabei Bestandteil eines oder mehrerer Abhaengigkeits- oder Solidaritaetsnetze, die Mitglieder verschiedener Sozialkategorien direkt oder indirekt miteinander verbanden." (346f.) Die Bedeutung dieser reziproken, aber asymmetrischen Patron-Klient-Verhaeltnisse erklaert dann auch ihre Integrationswirkung. Sie stabilisierten die Macht des Kaisers als Quelle aller Wohltaten, die man durch Vermittler jeden Ranges erwerben konnte. Persoenliche Beziehungen waren fuer ihn ein maechtiges Kontrollinstrument, das wesentlichen Anteil an der Aufrechterhaltung des politisch-sozialen Gleichgewichts in den Staedten hatte und teilweise die unzureichenden zentralen Verwaltungsstrukturen ausglich (vgl. 352, 369). Die Rolle der Kaiser beim "Prozess der Integration der Provinzen" sei "auf der Reichsebene umfassend und gewaltig" gewesen, erscheine aber "im einzelnen, chronologisch und geographisch differenziert betrachtet als abgehackt und unregelmaessig" (315). Andererseits verfestigte sich auch "die Macht der lokalen Eliten und ermoeglichte es ihnen, ihre Vorherrschaft zu behaupten und an die Nachkommen weiterzugeben. Die ueberaus selektive Vergabe des roemischen Buergerrechts, die fruehzeitige Oeffnung des Ritterstandes und die etwas spaetere des Senatorenstandes verstaerkte die Identifikation der Honoratioren mit dem kaiserlichen System, vergroesserte ihre Vormachtstellung in der Region und machte sie zu bevorzugten Verhandlungspartnern der roemischen Obrigkeit." (369) So koenne man vermuten, "dass die fortschreitende Integration der Munizipaleliten und ihre Akzeptanz des roemischen Systems die Beziehung zwischen Statthaltern und Gemeinden entspannten, da so eine zunaechst faktische, spaeter innerlich akzeptierte Solidaritaet entstand", wobei die "Ueberlegenheit der roemischen Justiz ueber die lokalen Rechtssysteme (...) sicherlich zu dieser Entwicklung beigetragen" habe (196, zu letzterem vgl. a. 252).
Zu den vom Rezensenten ausgeblendeten Themenbereichen bliebe anzumerken, dass bei der kurzen und praegnanten Eroerterung der Religionen (Gemeinschaftscharakter, Ritualismus: Orthopraxie statt Orthodoxie, Gleichrangigkeit der Deutungen, polytheistische Funktionsgoetter), das monotheistische Judentum und Christentum bedauerlicherweise nur sporadische Erwaehnung finden. Eventuell muss man diesbezueglich den zweiten Band abwarten. Was die Analyse der Wirtschaft anbetrifft so beschraenken wir uns hier auf den Hinweis, dass die Verfasser eine mittlere Position zwischen "Modernisten" und "Primitivisten" einnehmen und die Verdienste der Cambridger Schule wuerdigen aber auch gleichzeitig relativieren (vgl. 317-21, 400, 414-18).
Allgemein bleibt festzuhalten: durch die Beruecksichtigung aber auch gleichzeitige kritische Distanz zu den wichtigsten (archaeologischen, epigraphischen und literarischen) Quellen sowie durch die fuer die Antike nicht weniger relevante Markierung jener Bereiche, wo nur Plausibilitaetsvermutungen moeglich sind, sodann durch die ausgewogene Diskussion der wichtigsten Forschungspositionen bei deutlicher Kennzeichnung des eigenen Standpunktes, haben die Verfasser ein Handbuch vorgelegt, welches den Erfordernissen eines kuenftigen Standardwerkes entspricht. Gleichzeitig wird es Forschungen aus anderen historischen Epochen aber auch anderen wissenschaftlichen Disziplinen einen erleichterten Zugriff fuer diachrone Vergleiche der Gesellschafts- und Herrschaftsstrukturen erlauben.