„Ein Gespenst geht um in Europa.“1 Mit Sätzen wie diesen lässt man Manifeste beginnen. Die Digital Humanities verfügen über mindestens drei2, und geistergleich schweben sie schwer fass- und nur schemenhaft erkennbar revolutionäre Ambitionen artikulierend durch die akademischen Institutionen. Wiewohl sich die digitalen Geisteswissenschaften schon seit Jahren einen Platz in den Programmen von Forschungsfinanziers gesichert und sich auch im deutschsprachigen Raum zunehmend in Form von Verbänden, Zeitschriften, Zentren und Lehrstühlen etabliert haben3, blieb einem Großteil der in den Geisteswissenschaften Aktiven bislang verschlossen, womit der Begriff Digital Humanities (kurz: DH) konkret gefüllt ist. Eine ganze Reihe an einführenden Darstellungen liegt vor, um dieser Wissenslücke abzuhelfen.4 Mit den Sammelbänden „Debates in the Digital Humanities“, herausgegeben von Matthew K. Gold, und „Understanding Digital Humanities“, herausgegeben von David M. Berry, sollen zwei an dieser Stelle näher in den Blick genommen werden.
Die geisteswissenschaftliche Nutzung digitaler Rechentechnik ist nur unwesentlich jünger als der elektronische Computer selbst. Freilich führten entsprechende Projekte stets ein Schattendasein an den Instituten ihrer jeweiligen Mutterdisziplinen. Erst mit der massenhaften Verfügbarkeit von preiswerten Personal Computern und vor allem durch die Popularisierung des Internet „everything changed for computing in the humanities“ (Willard McCarty, Debates in the DH, S. 116). In den 1990er-Jahren galten Bemühungen in diversen geisteswissenschaftlichen Disziplinen dem Aufbau IT-gestützter Infrastrukturen. Schwerpunkte bildeten vornehmlich die digitale Erfassung analoger Güter und das elektronische Kodieren, Klassifizieren und Edieren von Textmaterial. In einer zweiten Phase rückten born digital – rein digital geschaffene – Daten und Werkzeuge zu ihrer Analyse in den Mittelpunkt des Interesses (Berry, Understanding DH, S. 3–4). Ab den frühen 2000er-Jahren setzte sich der Begriff Digital Humanities als verbindende Klammer für unterschiedliche Projekte, Forschungsinteressen und Methoden aus diversen Disziplinen durch und etablierte sich, wie Matthew Kirschenbaum (Debates in the DH, S. 5–8) beschreibt, innerhalb nur eines Jahrzehntes nachhaltig im Wissenschaftssystem.
Doch wofür steht der Begriff heute konkret? Was sind die Digital Humanities? Darauf sollte sich auch nach der Lektüre beider Bände niemand eine eindeutige Antwort erwarten. Denn die DH-Gemeinde gefällt sich im Ungefähren, womöglich auch deshalb, weil sie so viele Strömungen und Ansätze zu integrieren sucht, dass eine Konkretisierung kaum mehr praktikabel ist. Eine große Bandbreite zeigen die Definitionen, die das Projekt „A Day in the Life of Digital Humanities“ gesammelt hat und von denen einige im Artikel „Day of DH“ gelistet sind. Es geht um das Digitale und die Geisteswissenschaften – soweit und so wenig hilfreich der Minimalkonsens.
Kirschenbaums Tipp in „What is Digital Humanities and What's It Doing in English Departments?“, man möge den Begriff einfach in Googles Suchschlitz eingeben und finde dann schon den Wikipedia-Artikel dazu (Debates in the DH, S. 4), ist sicherlich nicht ernst gemeint. Denn in seinem Artikel „Digital Humanities As/Is a Tactical Term“ (Debates in the DH) schreibt der Autor, der Begriff diene aufgrund seiner Anschlussfähigkeit an aktuell medial gehypte Begriffe wie Offenheit, Breitenwirkung, Kollaboration, Interdisziplinarität, Big Data, Wirtschaftsnähe und weiteren als Vehikel zur Verteidigung der Geisteswissenschaften und solle dafür sorgen, dass mit neuen Kollegen, Themen und Finanzierungsquellen frischer Wind in deren Institutionen einziehe (S. 415f.).
Die Idee, unter dem Label „DH“ für eine Renaissance der Geisteswissenschaften einzutreten, findet sich bei weiteren Autorinnen und Autoren – von denen übrigens die überwältigende Mehrheit, nicht untypisch für die DH Community, ursprünglich aus diversen geisteswissenschaftlichen Disziplinen und nicht etwa aus der Informatik kommen. Katherine Hayles etwa sieht in der Ausdehnung auf digitale Technologien die Chance, das „Informationszeitalter“ für die Geisteswissenschaften zu beanspruchen (Understanding DH, S. 61f.). Ganz ähnlich äußert sich auch Cathy N. Davidson: „I would insist that this is our age and that it is time we claimed it and engaged with it in serious, sustained, and systemic ways.“ (Debates in the DH, S. 477) Davidson fordert einen Paradigmenwechsel ein: Technologie und Geisteswissenschaften seien nicht als Gegensätze zu betrachten, sondern als zwei Seiten miteinander verschränkter intellektueller, sozialer, politischer und ökonomischer Praktiken. Man müsse anerkennen, wie stark sich auch die Geisteswissenschaften durch die Verfügbarkeit von Rechentechnik verändert hätten, um die Chancen auf weitergehende Veränderungen in Forschung, Schreiben und Lehre wahrnehmen zu können (S. 477). McCarty präsentiert Vorschläge, was die Digital Humanities zum Wohle ihrer Mutterdisziplinen in einem schwierigen ökonomischen Umfeld beitragen könnten: etwa bessere Ressourcen für die Forschung zu schaffen, der eigenen Neugier bei der Auswahl von Themen Vorrang zu geben vor Großprojekten und nicht zuletzt Nachweise für den intellektuellen Wert der DH zu erbringen (Debates in the DH, S. 119). Bislang hapert es vor allem mit letzterem: Wie Rafael Alvarado kritisch bemerkt, sei es bislang keiner DH-Fraktion gelungen, die klassischen geisteswissenschaftlichen Disziplinen vom Nutzen ihrer digitalen Werkzeuge zu überzeugen (Debates in the DH, S. 50ff.). In seiner Offenheit und als Absage an Eindeutigkeit erfrischend stellt er fest, dass es eine Definition – verstanden als konsistente Menge theoretischer Überlegungen und Forschungsmethoden – der Digital Humanities gar nicht gebe. Geisteswissenschaft ist eben nicht gleich Geisteswissenschaft: „Digital Humanities clearly means different things depending on one's disciplinary perspective...“ (Alexander Reid, Debates in the DH, S. 350)
Doch ungeachtet der fehlenden Definition und der ausbleibenden Begeisterung der bislang analog gebliebenen Kolleginnen und Kollegen erfreuen sich die Digital Humanities einer ungebrochenen Lebendigkeit, die sich vorrangig in praktischen Projekten niederschlägt. Deren Darstellung kommt in beiden Werken zu kurz und reicht nicht aus, um einen Überblick über die Vielfalt der aktuellen DH-Praxis zu bekommen. Zumindest lässt sich die Bandbreite der möglichen Ansätze und des notwendigen Ressourceneinsatzes erahnen: Während Morgan Currie für ihre Untersuchung von Kontroversen bei der Entstehung von Wikipedia-Artikeln auf integrierte Funktionen der offenen Enzyklopädie und wenige frei verfügbare externe Werkzeuge lediglich mit ihrem PC ausgestattet forschen konnte (Understanding DH), nutzten Lev Manovich und sein Team die Supercomputerkapazitäten naturwissenschaftlicher Kollegen, um im großen Stil Abbildungen miteinander zu vergleichen (Understanding DH). Die meisten Vorhaben bewegen sich typischerweise zwischen diesen Extremen, etwa das von Yu-wie Lin beschriebene text mining Projekt zur automatisierten Auswertung von Zeitungsartikeln durch ein interdisziplinär besetztes Team (Understanding DH).
Die Probleme in DH-Vorhaben sind dabei weniger technischer Natur, sondern erwachsen meist aus den völlig unterschiedlichen Arbeits- und Wissenschaftskulturen, die die Beteiligten in die Teamarbeit mit einbringen und die trotz intensiver Kommunikationsbemühungen zum Scheitern von Projekten führen können (Lin, S. 310). Diese Fallstricke der interdisziplinären Zusammenarbeit im Arbeitsalltag werden regelmäßig unterschätzt. Und auch die Nutzer von DH-Projekten würden, so Charlie Edwards, sträflich vernachlässigt: Ursprünglich entwickelt von Forschern für Forscher, sei der Entwickler- bisher oft deckungsgleich mit dem Nutzerkreis gewesen und die massenhafte Anwendung durch Laien gar nicht eingeplant (Debates in the DH, S. 215). Es sei daher nicht verwunderlich, dass die überwältigende Mehrheit der Geisteswissenschaftler mit DH nichts anzufangen wisse (S. 216). Die Einbeziehung der Nutzer in Entwicklungsprozesse führe zur Akzeptanz der Projekte und sei Mitvoraussetzung für deren dauerhaften Erfolg. Als positive Beispiele nennt Edwards (S. 217f.) die kompakte virtuelle Forschungsumgebung „Transcribe Bentham“, die es Freiwilligen ermöglicht, historische Handschriften zu transkribieren sowie die Aushängeschilder des Roy Rosenzweig Center for History and New Media, Zotero und Omeka (S. 216). Bei diesen handelt es sich freilich nicht um Forschungsprojekte im engeren Sinne, sondern um allgemeine digitale Hilfmittel (Zotero ist eine Literaturverwaltung, Omeka ein spezialisiertes Content Management System für digitale Ausstellungen) für Anwendungen im Umfeld der Geisteswissenschaften. Doch das Hervorbringen neuer Erkenntnisse durch die Digital Humanities sei laut Tom Scheinfeldt, ehemals führender Mitarbeiter im Roy Rosenzweig Center und maßgeblich an der Omeka-Entwicklung beteiligt, ohnehin erst einmal nebensächlich: Schließlich hätten auch Franklin, Volta, Faraday und andere Gelehrte seinerzeit Jahrzehnte für den Bau von Werkzeugen, die Durchführung von Experimenten und die Beschreibung von Phänomenen aufbringen müssen, bevor sie gesicherte Ergebnisse vorzulegen vermochten (Debates in the DH, S. 57). Damit bekennt er sich wie Stephen Ramsay und Geoffrey Rockwell zu einer radikalen Minderheit (einer von vielen) in der DH-Welt, die das praktische Erschaffen von verschiedenen digitalen Werken zum entscheidenden Wesensmerkmal der Digital Humanities erklären (Debates in the DH).
Dass er auch das Verfassen von Twitter-Meldungen dazu zählt, ist wenig wahrscheinlich, aber bei der Lektüre beider Bände wird die zentrale Rolle des Kurznachrichtendienstes in der DH-Gemeinde deutlich. Ein Digital Humanist sei, so ein bissiges geflügeltes Wort unter DH-nahen Softwareentwicklern, ein Geisteswissenschaftler mit einem Twitter-Account. Die unkritische Begeisterung für den kommerziell betriebenen Kommunikationskanal sowohl als Forschungsobjekt als auch zum Austausch innerhalb des Feldes (siehe etwa Berry, Understanding DH, S. 15f.; Daniel J. Cohen, Debates in the DH, S. 322f.; Kirschenbaum, ebd., S.7; Bethany Nowviskie, ebd., S. 238f. und S. 246; Manovich, Understanding DH, S. 250) wirkt mitunter verstörend, provoziert allerdings auch Widerspruch. Etwa durch Edwards, der die Gefahr der Ausgrenzung jener sieht, die den Dienst nicht nutzen, und Schwächen in der persistenten Datenhaltung konstatiert. Einige Wochen alte Tweets ließen sich nur noch schwer wiederfinden (Debates in the DH, S. 222f.). Und Reid fühlt sich bemüßigt festzustellen, die DH-Ausbildung bestehe nicht darin, „Blogs und Wikis zu nutzen oder Twitter oder YouTube Accounts anzulegen“ (Debates in the DH, S. 365).
Um die Akzeptanz der inzwischen nicht mehr neuen Medien im wissenschaftlichen Publikationsprozess bemühen sich mehrere Autor/innen. So wird etwa das Konzept des peer review zur Diskussion gestellt (Davidson, Debates in the DH, S. 481; Paul Fyfe, ebd., S. 267). Für Kathleen Fitzpatrick handelt es sich um eine aus der Welt des Buchdrucks übernommene Praxis, die auf die Knappheit des Rohstoffes Papier zurückgeht und sich nicht ohne Weiteres auf Veröffentlichungen im Internet übertragen lässt. Der Wert von Texten würde hier nicht mehr durch die Imprimatur des Verlages und den Segen etablierter Autoritäten verliehen, sondern hänge von der Rezeption durch eine Leserschaft ab, deren Aufmerksamkeit und Zeit für die Lektüre angesichts eines stetig wachsenden Angebotes an online verfügbaren Inhalten immer stärker begrenzt werde: „Liking and linking both enact a new kind of selectivity.“ (Debates in the DH, S. 453) Die technischen Möglichkeiten, um die Reichweite von Publikationen zu messen, seien freilich noch nicht in sinnvolle Bewertungsmechanismen überführt worden (S. 456f.). „Debates in the Digital Humanities“ stellt selbst ein Experiment im Bereich des digital scholarship dar: Der Band ist sowohl als Print- als auch als digitale Open-Access-Version erschienen5, und die Texte wurden laut Gold verschiedenen, auch neuartigen Formen des peer review unterzogen (S. XII).
Der Wissenschaftsbetrieb sieht sich aber nicht nur mit neuen Publikationsformen konfrontiert, sondern auch mit beruflichen Lebensläufen, die sich traditionellen Kategorisierungen entziehen. Die Grundannahme von Julia Flanders Beitrag zu alternativen akademischen Karrieren – dass nicht für jede/n am Ende des akademischen Rattenrennens ein Lehrstuhl steht – kann Gültigkeit über die Digital Humanities hinaus beanspruchen (Debates in the DH, S. 293). Doch treffen hier die grundverschiedenen Arbeitskulturen aus dem wissenschaftlichen und dem Dienstleistungsbereich besonders deutlich aufeinander, die akademische Freiheit in der Einteilung der eigenen Arbeitszeit (einhergehend mit der unausgesprochenen Erwartung zu Mehrarbeit bei Tagungen, Publikationsprojekten, Drittmittelanträgen) kombiniert mit der Messung der geleisteten Arbeit in Arbeitsstunden. Nicht wenige digital humanists wird Flanders Werdegang an den eigenen erinnern; zu schade, dass am vorläufigen Ende ihres CV eine Viertelstelle in der universitären Lehre und ergänzende Selbstständigkeit stehen (S. 302). In Zeiten des IT-Fachkräftemangels dürfte ausreichend Personal für die Digital Humanities unter diesen Bedingungen kaum zu gewinnen sein. Die gewünschte doppelte Expertise in Softwareentwicklung und geisteswissenschaftlicher Forschung bringt heute nur eine Minderheit mit (Hayles, Understanding DH, S. 59), die Bemühungen um die Ausbildung des eigenen Nachwuchses werden erst in Jahren greifen (Reid, Debates in the DH, S. 350) und haben außerhalb des anglo-amerikanischen Raumes zumeist noch Pioniercharakter.
Neben derart pragmatischen Beiträgen finden sich auch einige, die darum bemüht sind, den Digital Humanities einen ideologischen Geist einzuhauchen. Liu beklagt die mangelnde Kulturkritik des Feldes und Jamie „Skye“ Bianco fordert eine ethische Wende. Die nicht inhalts- und projektgebundenen Diskussionen um die DH würden an den weißen, maskulinen, meritokratischen tech-boom der 1990er-Jahre erinnern (Debates in the DH, S. 98). Nicht unberechtigt wirft er der Szene Theorie-Scheue vor. Lisa Spiro bereichert die Fachethik um die Skizze eines Wertekanons (Debates in the DH) und Elizabeth Losh empfiehlt den DH ein Bündnis mit dem hacktivism (etwa dem politisch motivierten Angriff auf IT Infrastrukturen) einzugehen (Debates in the DH, S. 171) und sich nicht als Werkzeug für eine drohende profitorientierte Kapitalisierung der Geisteswissenschaften herzugeben. Der alten Garde des Fachs wirft sie vor, oft mehr an praktischen als an ideologischen Aspekten der Informationstechnologie und deren disruptivem Potential interessiert zu sein (S. 178). Tara McPherson treibt die Vorwürfe weiter, indem sie in „Why Are the Digital Humanities So White?“ Merkmale des Betriebssystems UNIX – Vorläufer diverser heute eingesetzter – als durch versteckten Rassismus motiviert implementiert sieht. Die der Entwicklung zugrunde gelegten Prinzipien – Modularität, Klarheit, Abschottung verschiedener Bereiche voneinander –, die dafür sorgen, dass der Computer auch bei Problemen mit der Ausführung eines Programmes weiterhin funktionsfähig ist, „underscore a worldview in which a troublesome part might be discarded without disrupting the whole“ (Debates in the DH, S. 145) – genau wie im „neoliberalen Multikulturalismus“ der kapitalistischen Gesellschaft (S. 148). Man mag sich einmal die Mienen von IT-Experten vorstellen, die mit diesen bislang vernachlässigten Aspekten des system design konfrontiert werden. Für Debatten auf Augenhöhe sind informationstechnisch geschulte Geisteswissenschaftler/innen dringend erforderlich.
Weniger spektakulär fallen naturgemäß die Texte zur Theorie der Digital Humanities aus. Da meist deren Fehlen beklagt wird – der Pragmatiker Scheinfeldt bildet mit „Sunset for Ideology, Sunrise for Methodology?“ eine Ausnahme –, legen mehrere Autoren eigene Vorschläge für einen theoretischen Unterbau vor. Laut Jussi Parikka kommt in den Digital Humanities dem Begriff "Archiv" eine zentrale Rolle zu, insbesondere in seiner Neuinterpretation und Transformation mittels digitaler Techniken. Dies werfe fundamentale Fragen nach der Funktionsweise des kulturellen Gedächtnisses auf (Understanding DH). Dan Dixon merkt an, dass in DH-Vorhaben zwar oft von Mustern – patterns – gesprochen wird, diese aber im Gegensatz zu Strukturen, Beziehungen, Unterschieden, Wiederholungen und Ähnlichkeiten bislang keine philosophische Beachtung erfahren hätten, was oft zu einer epistemologischen Unschärfe führe (Understanding DH). Gary Hall fragt, ob der "computational turn" nicht eigentlich ein "scientific turn" sei, eine Orientierung von Geisteswissenschaftlern an Naturwissenschaften und Mathematik, um die eigene Forschung besser legitimieren zu können, und ob der „Daten-Fetischismus“ (Debates in the DH, S. 133) auf mangelndes Selbstbewusstsein zurückzuführen sei. Die unkritische Übernahme fremder, oft unpassender Konzepte aus anderen Disziplinen hätten die Geisteswissenschaften laut Johanna Drucker aber gar nicht nötig. Vielmehr müsse es darum gehen, eigene theoretische Konzepte in die Schaffung neuer Methoden mit einzubringen. Dies erfahre in der praktischen Arbeit meist zu wenig Beachtung (Debates in the DH). Bislang bleibt abzuwarten, ob es den Digital Humanities gelingen wird, sich neben einer Praxis auch eine Theorie zu erarbeiten, die sich in die geistesgeschichtlichen Traditionen der Ausgangsdisziplinen einzuschreiben vermag.
Wer erklärt nun am besten die Digital Humanities? Welche Texte lassen sich als Einführung oder als Überblick etwa für Lehrveranstaltungen empfehlen? Mit „Present, Not Voting: Digital Humanities in the Panopticon“ (Understanding DH) versteht es Melissa Terras nicht nur, anhand von „Transcribe Bentham“ die typische Genese eines DH Projektes aufzuzeigen, sondern auch auf die vielfältigen drängenden Baustellen innerhalb des Feldes hinzuweisen: die Notwendigkeit des Nachweises der eigenen Relevanz durch ein professionelleres Verständnis von wissenschaftlichen Outputs; die ungeklärte Frage nach der langfristigen Verfügbarkeit und Pflege digitaler Projekte angesichts zeitlich begrenzt bewilligter Drittmittel und der zunehmenden Einschränkung der Basisfinanzierung; den Spagat zwischen historischen Quellen, Fachwissenschaftlern und neuen Technologien im DH-Arbeitsalltag.
Ebenfalls kritisch behandeln Bernhard Rieder / Theo Röhle (Understanding DH) in „Digital Methods: Five Challenges“ die Problemfelder des Fachs und skizzieren Lösungsansätze für einen zuweilen anzutreffenden naiven Objektivitätsglauben; die weit verbreitete Verwendung von Komplexität reduzierenden Visualisierungen; dem technologischen „Blackboxing“ durch eine fehlende Offenlegung des Quellcode von Softwarewerkzeugen und der Unfähigkeit, diesen lesen zu können; die Spannungen, die durch die Konfrontation in interdisziplinär besetzten Arbeitsteams entstehen; und schließlich der Hang zum Universalismus, der beim Modellieren und Formalisieren abermals die Reduktion komplexer Phänomene billigend in Kauf nimmt.
Neil Fraistat unternimmt mit „The Function of Digital Humanities Centers at the Present Time“ (Debates in the DH) einen literarischen Rundgang durch das Maryland Institute for Technology in the Humanities und geht anhand der dort durchgeführten Projekte und vorgehaltenen Ressourcen auf die Bedeutung ein, die DH-Zentren als Mittler zwischen Geisteswissenschaften und Technologie und in Bezug auf die Entwicklung interdisziplinärer und kollaborativer Arbeitsweisen zukommt.
Schließlich bietet Lin noch eine einleuchtende Definition des Begriffs Digital Humanities aus ethnologischer Sicht an und macht damit deutlich, wie wenig sich die originalen Geisteswissenschaften im Angesicht des Digitalen überlebt haben. Transdisziplinarität kennzeichne im Vergleich zu Inter- oder Multidisziplinarität eine wesentlich dynamischere Zusammenarbeit von Forschern mit sehr unterschiedlichen Hintergründen, die dazu führt, dass sich neue Praktiken, Normen und konzeptionelle Grundlagen ergeben, die sich aus den Theorien, Konzepten und Ansätzen der Herkunftsdisziplinen speisen (S. 296f.). Die Digital Humanities nicht als Meta-, Sub- oder Hilfs-, sondern als Transdisziplin? Viele werden damit leben können.
Anmerkungen:
1 Karl Marx / Friedrich Engels, Werke, Bd. 4, Berlin (Ost) 1972, S. 461.
2 Marin Dacos, Manifesto for the Digital Humanities, Paris 2011 <http://tcp.hypotheses.org/411> (14.12.2014); o.A., The Digital Humanities Manifesto 2.0, o.O. o.D., <http://www.humanitiesblast.com/manifesto/Manifesto_V2.pdf>(14.12.2014); DHI Paris (Hrsg.), Wissenschaftlicher Nachwuchs in den Digital Humanities: Ein Manifest, Paris 2013, <http://dhdhi.hypotheses.org/1995> (14.12.2014).
3 Beispielhaft zur im Vergleich zu den USA und dem Vereinigten Königreich verspätet erfolgten Etablierung in Deutschland sei auf die Gründung des Verbandes Dhd (Digital Humanities im deutschsprachigen Raum) im Juli 2012 in Hamburg sowie die Einrichtung einer Arbeitsgruppe Digitale Geschichtswissenschaft auf dem Historikertag 2012 verwiesen. Siehe o.A., DHD Gründung 2012 <http://www.dig-hum.de/dhd-gr%C3%BCndung-2012> (14.12.2014) sowie Thomas Meyer, Historikertag 2012: eHumanities, in: H-Soz-Kult, 16.01.2013,<http://www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-1999> (14.12.2014).
4 Beispielhaft: Anne Burdick et al. (Hrsg.), Digital_Humanities, Cambridge, MA 2012 <http://mitpress.mit.edu/sites/default/files/titles/content/9780262018470_Open_Access_Edition.pdf> (14.12.2014); Melissa Terras / Julianne Nyhan / Edward Vanhoutte (Hrsg.), Defining Digital Humanities: A Reader, Farnham 2013; Susan Schreibman / Ray Siemens / John Unsworth (Hrsg.), A Companion to Digital Humanities, Oxford 2004, <http://www.digitalhumanities.org/companion/> (14.12.2014).
5 Siehe Mattew K. Gold (Hrsg.), Debates in the Digital Humanities, <http://dhdebates.gc.cuny.edu/> (14.12.2014).