Titel
Wege zur Weisheit oder Was lehrt uns die antike Philosophie?. Aus dem Französischen von Heiko Pollmeier


Autor(en)
Hadot, Pierre
Erschienen
Frankfurt/Main 1999: Eichborn Verlag
Anzahl Seiten
398 S.
Preis
DM 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Guido O. Kirner, Humboldt-Universitaet-Berlin

Im Buchtitel des französischen Originals von 1995 stellt der französische Gelehrte und Experte für antike und besonders spätantike Philosophie Pierre Hadot in seinem nunmehr auf deutsch publizierten resümierenden Alterswerk1 eine schlichte Frage: Was ist die antike Philosophie? Seine ebenso schlichte Antwort, der sich die gesamten Ausführungen des Buches widmen, lautet: Es handelt sich um eine bestimmte Lebensweise! Diese Aussage hat jedoch weitreichende Implikationen sowohl für die Auffassung von Philosophie als solcher als auch für die Interpretation antiker Texte.

Der antike Begriff 'Philosophie' impliziert eine existentielle Wahl bzw. Entscheidung auf eine bestimmte Weise sich selbst und mit anderen zu leben. Danach bedarf es bestimmter geistiger Übungen, der Sorge um sich selbst und um andere. Angestrebt wird ein bestimmter idealer quasi-göttlicher Zustand, der sich im idealen Weisen symbolisiert. Die Philosophie ist der Weg sich diesem Ideal anzunähern und verlangt eine Konversion des gesamten Seins und eine Transformation der Weltvorstellung, die wiederum einer Seelenführung, einer Betreuung und Leitung durch einen Lehrer. Hierzu dient auch der philosophische Diskurs, der bei Hadot nichts anderes meint als eine mündlich oder schriftlich formulierte philosophische Lehre.2 Seine These lautet: "Der philosophische Diskurs hat seinen Ursprung in einer Lebenswahl und einer existentiellen Entscheidung und nicht umgekehrt. Zweitens werden diese Entscheidungen und diese Wahl niemals in der Einsamkeit getroffen: Weder Philosophie noch Philosophen gibt es jemals außerhalb einer Gemeinschaft, mit einem Wort: einer philosophischen 'Schule'." (S. 17)

Philosophische Lehre und Lebensweise sind nach Hadot für den antiken Philosophen weder aufeinander reduzierbar noch voneinander trennbar. Nicht aufeinander reduzierbar, weil es stets in erster Linie darum ging, besser zu werden und die Lehre bzw. der Diskurs nur dann als philosophisch galt, wenn er zu einer bestimmten Lebensweise führt; sodann aber auch, weil beide völlig heterogener Art sind, da das Wesentliche des philosophischen Lebens, nämlich die Erfahrung bestimmter Zustände und innerer Haltungen nur begrenzt oder gar nicht im Diskurs formulierbar sind (z.B. die platonische Erfahrung der Liebe, die aristotelische Intuition der einfachen Substanzen, vor allem die vereinende Erfahrung Plotins). Die gelebten Erfahrungen sind eben nicht von der Art eines Diskurses und von Aussagesätzen. Zweitens sind sie aber auch nicht voneinander zu trennen, da kein Diskurs philosophisch genannt zu werden verdient, wenn er von der philosophischen Lebensweise getrennt ist. Dies wäre der "leere Diskurs" der Sophisten oder nach Seneca die Liebe zum Wort (philologia) anstatt zur Weisheit (philosophia). Umgekehrt kann aber das philosophische Leben auch nicht auf den philosophischen Diskurs verzichten, dient er doch dazu, die Lebenswahl zu rechtfertigen und rational zu begründen sowie schließlich als Mittel auf sich selbst oder auf andere einzuwirken (S. 201-204). Die Trennung von philosophischer Theorie und Praxis kam den Alten also nicht in den Sinn. Stärker noch, nicht aufgrund bestimmten Anschauungen sei man als Philosoph bezeichnet worden, sondern wegen der Art und Weise zu Leben bzw. bestimmte philosophisch formulierte Maßstäbe in der Lebenspraxis zu verwirklichen (so galten z.B. auch der jüngere Cato, Rutilius Rufus und Quintus Mucius Scaevola als Philosophen).

Wie es Hadot gelingt nach einer knappen begriffsgeschichtlichen Einführung (historia, paideia, sophia, philosophia) die obengenannten Kernaussagen zur antiken philosophischen Praxis in seinem kompliziert-verästelten Werdegang der verschiedenen Ausprägungen in den antiken Philosophenschulen darzustellen ist beeindruckend. Ausgehend von der paradigmatischen Wirkung der Figur des Sokrates und der Definition des Philosophen in Platons Symposion zeichnet er den Weg nach über die platonische Akademie und dem aristotelischen Lykeion, sodann den Schulen des Hellenismus (Kynismus, Pyrrhon, Epikurismus, Stoizismus, Aristotelismus, Skeptizismus und Platonismus) bis hin zur römischen Kaiserzeit (Plotin, Porphyrios, Neuplatonismus).

Mit Gelassenheit ohne Oberflächlichkeit ruft Hadot eine Unruhe ohne Polemik hervor. Eine gewisse Scham schleicht sich bei dem ein, der Philosophie nur mit der Kenntnis bestimmter Gedankensysteme assoziieren würde. Die klare Sprache, die getreu seiner eigenen Philosophieauffassung keinem Theoriejargon verfällt, sowie die geschickt ausgewählten Belegstellen aus antiken Quellen, wissen zu überzeugen und verdeutlichen die "fröhlichen Art des Ernstes" (Nietzsche) damaligen Philosophierens. Im philosophischen Dialog wurde eben kein Wissen als vorgefertigter Gegenstand erlernt, sondern Gegenstand war immer der, der gerade sprach. Philosophie wird vorgestellt als eine durch Affektivität zwischen Lehrer und Schüler vermittelte Anleitung zum vortrefflichen (tugendhaften) Leben mit dem Ziel einen Seelenfrieden zu finden. Auch wenn der Weg zu dem Ideal des angestrebten Zustands der Weisheit unterschiedlich definiert wurde, standen (und stehen) dafür nur eine begrenzte Anzahl von Praktiken zur Verfügung: Askese, Beichte, sokratischer Dialog, Selbstgespräch, Memorierung von Maximen, Meditation, Gewissensprüfung etc. Sogar das kontemplative Leben, das Leben gemäß dem Geist bei Aristoteles, ja die theoria selbst wird zu einer Lebenspraxis, bei der mehr die Methode als das Ergebnis, mehr der Weg als das letztlich unerreichbare Ziel der absoluten Weisheit im Vordergrund steht. Es ging eben nicht darum einen bestimmten Diskurs zu entwickeln, der seinen Zweck in sich selbst hätte, sondern darum, auf die Seelen einzuwirken. Jegliche Aussage müsse daher im Hinblick auf seine Wirkung auf den Zuhörer verstanden werden. Ziel war es "zu formen, d.h. ein Können zu lehren, einen habitus, ein neues Urteils- und Kritikvermögen zu entwickeln, und zu transformieren, d.h. die Art zu ändern, wie man lebt und die Welt betrachtet." (S. 314) Kurz: Formung und nicht Information, psychagogische Techniken des Selbst und eine therapeutische Auffassung des Wissens treten in den Mittelpunkt antiker Philosophie. Deshalb sei es auch nicht erstaunlich bei Platon, Aristoteles oder Plotin Aporien, Wiederholungen oder scheinbare Inkohärenzen zu finden, denn wesentlich war die Beziehung zwischen Werk und Adressat. Folglich gelte heute der methodische Imperativ die Bedingungen damaligen Philosophierens zur berücksichtigen: z.B. die Anpassung an die geistigen Fähigkeiten der Zuhörer, die Bedingungen im Zusammenleben der Schule oder die enge Beziehung zur Mündlichkeit, so daß das schriftlich Überlieferte nur Hilfsmaterial für die mündliche Vermittlung war (etwa bei Aristoteles) oder selbst Ergebnis eines vorausgegangenen Dialoges. Kein antiker Philosoph beabsichtigte eine systematisch-einheitliche Theorie zu entwickeln. Die Schriften blieben Werkzeuge zur Begründung und Stabilisierung einer philosophischen Lebensführung.

Einige Passagen in Hadots Buch sind m.E. besonders erwähnenswert, ohne hier näher auf sie eingehen zu können. Zum einen seine Herausarbeitung der sog. "Ethik des Dialogs" (Mittelstrass) (S. 83-86, 207). In der Form dieser geistigen Übungen und Diskussionstechnik wird etwas in kleinem Rahmen vollführt und vorexerziert, was in jüngerer Zeit als "Theorie des kommunikativen Handelns" oder sonstigen Diskursethiken versucht wird auf einen universalen Nenner zu bringen (ohne daß Hadot auf diesen Vergleich abzielt). Erhellend ist ferner die Darstellung dessen, was man eine ethische Physik nennen könnte und heutzutage befremdlich klingt (S. 153, 162-165, 241-246). Schließlich beeindruckt die Darstellung der beiden entgegengesetzten, sich aber ergänzenden Bewegungen der Selbstbewußtwerdung, nämlich einerseits die Konzentration des Ichs auf eine punktuelle (zeitlose) Gegenwart und das Bewußtsein vom Augenblick des Todes, wodurch erst der absolute Wert des Daseins erfahrbar wird; andererseits die Ausdehnung des Ichs zum kosmischen Bewußtsein, bei dem man sich auf das riesige Feld des unendlichen Raums hin zu erweitern sucht, um in einer einzigen Intuition die Totalität der Wirklichkeit zu begreifen, so daß sich das Ich gleichzeitig seiner eigenen Kleinheit und Nichtigkeit bewußt wird aber auch seiner Größe, weil es zu diesem Bewußtsein vordringen kann (S. 221-241). Die antike Philosophie scheint hier nicht nur an antike Mysterienreligionen zu erinnern, sondern wieder nach Osten zu rücken. Daher verwundert auch nicht Hadots kurzer Vergleich mit dem Buddhismus oder sein Hinweis auf die Chancen der Komparatistik zwischen Antike und Orient, die sich hier bieten (S. 269f, 318).

Nach der Lektüre des Buches bleiben freilich einige Fragen. Wie gestalteten sich konkret die sozialen Beziehungen der Philosophen und Philosophenschulen zu ihrem politischen oder sozialen Umfeld?3 Berücksichtigt Hadot nicht nur die "Hochphilosophie", wenn man davon ausgeht, daß es auch Hauslehrer bzw. Wanderlehrer oder städtisch angestellte Philosophielehrer gegeben hat, die die Bezeichnung 'Philosoph' wohl nicht verschmäht hätten, von ihren Schülern aber keineswegs eine existentielle Entscheidung abverlangten, da diese gegen Bezahlung nur ihre Bildung und damit Umgangsformen verbessern wollten? Gab es diesbezügliche feinere hierarchische Abstufungen als etwa nur die zwischen Philosophen und Sophisten? Inwieweit können gerade die von Hadot selbst erwähnten Tendenzen (S. 173-176) seit dem 2. Jh. n. Chr. zur "Verbeamtung des Philosophieunterrichts", der zunehmenden Vermittlung von Orthodoxie durch die Auslegung autoritativer Texte auf Kosten des freien Dialogs noch die durchgängige Charakterisierung der antiken Philosophie als einer Lebensform rechtfertigen? Eignet sich das Abgrenzungskriterium der Philosophie als Lebensweise wenn die Begriffe Lebensweise, Wahl und geistige Übung so ziemlich alles beinhalten können?

Dennoch: Hadots Anliegen bleibt klar. Der Untertitel der deutschen Ausgabe 'Was lehrt uns die antike Philosophie?' scheint ihn uns förmlich aufzwingen zu wollen. Doch auch wenn Hadot die Unterschiede zum heutigen "Beamtendenker" und "Professoren" in seiner Einleitung und im Schlußkapitel betont, wird sowohl derjenige enttäuscht werden, der scharfe Polemiken gegen hegelsche "Kathederhanswurstiaden" à la Schopenhauer erwartet als auch derjenige, der das irrationale, naturverbundene und archaische im griechischen Denken betont sehen möchte (vgl. die Kritik Hadots an Eric Robertson Dodds und den Vertretern der Schamanismus-These, S. 209-216). Daß seine Erklärung für die Trennung von Theorie und Praxis durch das Christentum eine Skizze bleibt, wird ihm keiner vorwerfen wollen, bedürfte es dazu mindestens eines neuen Buches. Fast stärker sind dann auch wieder seine Relativierungen, wenn er die Nachwirkungen der antiken Philosophie als Lebensform auf Renaissancedenker und Aufklärungsphilosophen (Petrarca, Erasmus, Descartes, Montaigne, Kant) beschreibt. Die von Hadot gegen Ende seines Buches formulierten Fragen (S. 315) haben es aber in sich: Bedarf es nicht einer Wiederentdeckung des antiken Begriffs des Philosophen? Sollte man Philosoph nicht wieder als einen Menschen definieren, der ein bestimmtes philosophisches Leben führt, statt einen Professor oder Schriftsteller, der philosophische Diskurse entwickelt? Muss man darauf warten, selbst ein philosophisches System konstruiert zu haben, um philosophisch leben zu können? Was aber heißt philosophisch zu leben? Was ist heute die Praxis der Philosophie? Hadot wollte zumindest zeigen, daß die philosophische Praxis relativ unabhängig von den philosophischen Diskursen war, da dieselbe geistige Übung durch unterschiedlichste Diskurse gerechtfertigt werden konnte, die nachträglich entstanden, um Erfahrungen zu beschreiben, die sich letztlich jeglicher Theoretisierungs- oder Systematisierungsanstrengung entziehen. So überwindet die Praxis die Gegensätze der Diskurse. Das Erbe der antiken Philosophie bleibt für Hadot jedenfalls aktuell, weil er sie als Experimentierstätten geistiger Erfahrung aufgefaßt, denen dauerhafte Grundhaltungen und universale Modelle entsprechen, wie sie weisheitssuchenden Menschen in verschiedenen Zivilisationen in nur begrenzter Zahl zu Verfügung stehen. Schon deshalb fasziniert dieses Buch, beginnt hier Antike doch auf seine Art wieder lebendig zu werden und nicht in Leichenreden über den Untergang des Humanismus ihren Aktualitätsverlust zu beklagen. Eine Folgerung kann man mit Sicherheit ziehen: Für Hadots antike Philosophen wären jene, die ungeachtet der Konsequenzen für die eigene Lebensweise philosophische Diskurse als reine Theorie von ihren Lehrstühlen verkünden einfach nur Sophisten.

Anmerkungen:
1 Eine Sammlung von wichtigen Aufsätzen und Essays von Hadot bietet das Buch 'Philosophy as a Way of Life. Spiritual Exercises from Socrates to Foucault', (Blackwell) Oxford/Cambridge Mass. 1995. Sie enthält außerdem eine ausführliche und hilfreiche Einleitung von Arnold I. Davidson zu Hadots Werk und Methode sowie ein interessantes Interview im Anhang. Auch wer an der intellektuellen Beziehung zu M. Foucault interessiert ist, wird hier einiges finden. Die deutsche Ausgabe scheint derzeit im Buchhandel vergriffen.
2 'Diskurs' bedeutet für Hadot: diskursiven Denkens, das in geschriebener oder gesprochener Sprache ausdrückt wird und meint also nicht den heute verbreiteteren Sinn einer Art und Weise zu sprechen, die eine Einstellung enthüllt, vgl. S. 19.
3 Vgl. dazu jetzt: Peter Scholz: Der Philosoph und die Politik. Die Ausbildung der philosophischen Lebensform und die Entwicklung des Verhältnisses von Philosophie und Politik im 4. und 3. Jh. v. Chr. (Frankfurter althistorische Beiträge 2), Stuttgart 1998.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension