„Transparenz“ heißt das Zauberwort. Auf den ersten Blick scheint damit alles klar zu sein: In Brüssel verordnet sich die Europäische Union, ihre Entscheidungen sollten „so transparent wie möglich“ sein.1 Das helfe gegen Korruption, ergänzen die Aktivisten von „Transparency International“. Derweil beteuern Manager in der Finanzwirtschaft, ihre Produkte würden bald transparenter werden, ebenso ihre Bezahlung. Während Genforscher versuchen, den „Bauplan“ des Lebens zu durchschauen, wollen Neurologen den menschlichen Geist visualisieren. Und solange sonst nichts half, enthüllte der Internetaktivist Julian Assange verheimlichte Kriegsgräuel. „Publishing improves transparency, and this transparency creates a better society for all people“, verheißt Assanges Forum „WikiLeaks“.2 Sogar für den Bundesnachrichtendienst scheint Transparenz das Gebot der Stunde zu sein, zumindest mit Blick auf die schon etwas entfernte Vergangenheit. So hat der deutsche Auslandsgeheimdienst Historiker damit betraut, seine Gründungsgeschichte in der Nachkriegszeit zu erforschen; er lässt sie dafür an Archivakten, deren Existenz lange geleugnet worden war.3
Transparenz also: „Wirtschaft, Technik, Politik sind im Begriff, sich rhetorisch in lichte Sphären, ja geradezu in immaterielle Scheinwelten zu verwandeln, in denen sich alles zu sehen gibt, was einst dem Auge und der Erkenntnis verschlossen blieb“, resümiert der Literaturwissenschaftler Manfred Schneider. „[S]eit gut 20 Jahren“ habe sich in dem ursprünglich mittellateinischen Wort „ein dichtes messianisches Potenzial angesammelt“ (S. 12f.) – bei Aposteln der Transparenz, aber auch bei Akteuren, die sie sich als Politikplacebo zunutze machen wollen. Dabei existiert Transparenz meist nur im Futur – als Wunsch oder Ankündigung. Der „Transparenztraum“, wie das Buch überschrieben ist, sei so unerreichbar wie alle Utopien. Daher strebe er immer nach einer Steigerung, denn: „Transparenz hier und jetzt gibt es nicht.“ (S. 14)
Andererseits zeigen die Informationen, die der frühere NSA-Mitarbeiter Edward Snowden aus der Geheimdienstpraxis enthüllt hat, dass das ständige Beobachtetwerden albtraumhafte Züge tragen kann. Beim unkontrollierten Treiben eines Nachrichtendienstes ist das offensichtlich; Snowdens Geheimnisverrat hat daran erinnert, dass Spione keine Privatsphäre kennen. Es besteht also Anlass, über den widersprüchlichen Charakter einer allgegenwärtigen Kontrollmetapher nachzudenken – im Privaten wie in der Öffentlichkeit. Für potentiell totalitär hält etwa der aus Südkorea stammende, heute in Berlin lehrende Philosoph Byung-Chul Han die gegenwärtige „Transparenzgesellschaft“4, deren Grundlage die Glasfaserkabel des Internets seien. An dieser Gesellschaft bauten vor allem große Onlinekonzerne wie Google oder Amazon; sie protokollierten jeden Klick und sammelten Daten, ihrerseits weitgehend unkontrolliert. Gefüttert werde „Big Data“ aber von uns allen, die wir unser virtuelles Leben via Facebook, Twitter & Co. selbsttätig entblößen.
Im Verlag Matthes & Seitz, der die „Transparenzgesellschaft“ und noch einige weitere Bücher von Byung-Chul Han herausgebracht hat, ist auch Schneiders „Transparenztraum“ erschienen. Wie der Philosoph sieht der Germanist die aktuelle Transparenzrhetorik kritisch. Er diagnostiziert einen „Transparenzwahn“, in den sich der „Transparenztraum“ hineingesteigert habe und in dem sich „Machtverlangen, theoretische Gewalt, blinde Medienideologie und unmögliche Versprechen“ miteinander verbunden hätten (S. 15f.). Einerseits verspottet Schneider die technikverliebten „Nerds“, wie sie sich vor ihren Rechnern einbildeten, „die platonischen Urbilder der Welt zu betrachten“ (S. 15). Auch die rasante Desillusionierung der Piratenpartei passt in dieses Bild. Doch andererseits fürchtet er sich vor den Folgen des digitalen „Transparenzwahns“, dessen Profiteure sich selbst nicht zeigten – die NSA so wenig wie anonyme „Whistleblower“. Zugleich drohten die bewährten Institutionen der demokratischen Öffentlichkeit, das Parlament ebenso wie die klassischen Medien, von der Entwicklung ernsthaft beschädigt zu werden (S. 294f.).
Ob nun als Albtraum der Enttäuschung oder der Entblößung: Die Kritik der Gegenwart folgt bei Schneider aus der kulturhistorischen Rekonstruktion der Transparenzmetapher. Denn die Allgegenwart dieses Sprachbilds hat eine Vorgeschichte, deren philosophische, architektonische und vor allem literarische Quellen Schneider für diesen engagierten Lang-Essay zusammengetragen hat. Er beginnt mit dem antiken Mythos, in dem die nörglerische Gottheit Momos die Konstruktion des Menschen bemängelte. Leider habe dieser kein Fenster in der Brust, durch das man ihm in die Seele schauen könne. Weiter geht die Spurensuche mit Rousseau, dem zufolge die Welt undurchsichtig wurde, als die Menschen zu sprechen begannen. Mit dem Wort kamen die Lüge und das Missverständnis, und daher steht der Transparenztraum für den ewigen Wunsch, das Sprachzerwürfnis aus der Welt zu schaffen. Und Schneiders gegenwartsbezogene Geschichte endet nicht bei Sigmund Freud, den Surrealisten und dem Versuch, das Unbewusste sichtbar zu machen.
Der Transparenztraum, schreibt Schneider, habe die meiste Zeit wie alle Metaphern nur in Büchern und Traktaten gelebt. Eine erste Ausnahme sei die Terrorphase der Französischen Revolution gewesen. Die Jakobiner stellen sich Schneider als Adepten Rousseaus dar, die das Transparenzpostulat in die Tat umsetzen wollten. „Robespierres Tugendterrorismus wollte die Gehirne durchsichtig machen und alle Köpfe abschlagen, in denen kein vorbehaltloser Revolutionsenthusiasmus wohnte.“ (S. 161) Die Pointe greift als Erklärung zu kurz; die Geschichte der Guillotine hat mehr als diese eine Facette, so wie die Gewalt eine Vielzahl von Gründen hatte. Hier ist Schneider wohl selbst der Suggestivkraft der Transparenzmetapher auf den Leim gegangen, was allerdings keinesfalls gegen sein Buch spricht. Denn die zahlreichen Fundstellen von gläsernen Wänden und durchschauten Seelen erhellen eindrucksvoll, dass es sich bei der Transparenz um ein visuelles Konzept handelt.
Der Transparenz geht es um das Sichtbarwerden, um das Auge als zentralen Sinn der Welterschließung. Wo dem Blick scheinbar alle Erkenntnis offen ist, da brauchen Menschen nicht mehr miteinander zu reden – mit negativen Folgen. So wie im Fall der ratlosen Marie in einer Erzählung des Unterhaltungsschriftstellers Christian Heinrich Spieß von 1796, die ihren verstummten Verehrer fragt: „Willst Du denn auch mit mir nicht reden?“ Der junge Mann war der irrigen Meinung verfallen, alle Welt könnte seine Gefühle unverschlüsselt lesen, weil seine Brust aus Glas sei – ein Wort der Liebe kam ihm deshalb nie über die Lippen (S. 95f.).
Ein weiterer Aspekt des Sehens ist die Kontrolle. Dass die Beobachtung, und zwar so perfekt wie möglich, untrennbar zur Transparenzidee gehört, wird nirgends so sinnfällig wie bei dem Mustergefängnis, das der Philosoph Jeremy Bentham entworfen hat. „Panoptikum oder Das Kontrollhaus“ heißt die Schrift von 1787: „Darstellungen einer neuartigen Konstruktionsidee für alle Arten von Einrichtungen, in denen jedwede Person unterzubringen und zu kontrollieren ist, als da wären Besserungsanstalten, Gefängnisse, Fabriken, Arbeitshäuser, Armenhäuser, Lazarette, Manufakturen, Hospitäler, Irrenhäuser und Schulen“.5 Alle Räume des Panoptikums sollten große Fenster haben, und der ganze Bau war entweder rund oder polygonal gedacht, so dass die Aufseher von der Mitte aus alles beobachten könnten.
Überhaupt die Architektur: In der Baukunst hat der Transparenztraum die literarische Bedingtheit seiner metaphorischen Existenz hinter sich gelassen. Seien es der Berliner Hauptbahnhof oder die gläserne Reichstagskuppel – vor allem in der Bundesrepublik gilt Transparenzarchitektur heute als ausgesprochen demokratisch.6 Die Glasarchitektur ist die gebaute Variante des Transparenztraums: zunächst als Phantasie, seit den Gewächshäusern des 19. Jahrhunderts immer häufiger auch in materieller Gestalt aus Glas und Stahl. In diesem Sinne entwarf Bruno Taut 1914 einen Glaspavillon, plante Mies van der Rohe 1921 ein Glashochhaus am Berliner Bahnhof Friedrichstraße, verpasste Walter Gropius dem Dessauer Bauhaus 1926 eine Fensterfassade und baute Hans Schwippert 1949 dem Bundestag in Bonn einen Plenarsaal mit zwei gläsernen Wänden. Zu Recht gilt die Architektur der Moderne zwischen 1910 und 1930 dem Literaturwissenschaftler Schneider als eine zweite Phase (nach der Französischen Revolution und vor der digitalen Gegenwart), in der der Transparenztraum teilweise Wirklichkeit wurde. Selbst wenn man sich an manchen Stellen mehr, pardon, Klarheit wünschen mag, ist Manfred Schneiders Buch eine reiche Fundgrube für alle, die sich über das heutige Transparenz-Postulat wundern und sich für seine Geschichte interessieren. Der Band sei der „Intellectual History“ wärmstens empfohlen.
Anmerkungen:
1 „Transparenzportal“: <http://ec.europa.eu/transparency/index_de.htm> (04.03.2014).
2 <http://wikileaks.org/About.html> (04.03.2014).
3 Vgl. Peter Carstens, Heute mal transparent. Der BND lässt seine Geschichte erforschen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.12.2013, S. 2 (über das Colloquium der Unabhängigen Historiker-Kommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes), sowie zuvor Christian Mentel, „Noch klappt es nicht richtig“. Ein Interview mit Klaus-Dietmar Henke zum Forschungsprojekt des Bundesnachrichtendienstes, in: Zeitgeschichte-online, Juni 2013, <http://www.zeitgeschichte-online.de/interview/noch-klappt-es-nicht-richtig> (04.03.2014).
4 Byung-Chul Han, Transparenzgesellschaft, Berlin 2012.
5 Ebenfalls bei Matthes & Seitz: Jeremy Bentham, Das Panoptikum, hrsg. von Christian Welzbacher, aus dem Englischen von Andreas Leopold Hofbauer, Berlin 2013.
6 Vgl. Deborah Ascher Barnstone, The Transparent State. Architecture and Politics in Postwar Germany, London 2005.