In den letzten Jahren haben der staatlich organisierte Kunstraub als Instrument politischer Kriegsführung und der militärische Kunstschutz in historischer Perspektive vermehrt Aufmerksamkeit gefunden.1 Dies betrifft Strukturen und Vorgänge besonders des staatlich organisierten nationalsozialistischen Kunstraubs im Zweiten Weltkrieg sowie die Sicherstellung und Rückführung des Kunst- und Kulturguts nach Kriegsende. Seit den 1990er-Jahren und verstärkt seit der Washingtoner Konferenz von 1998, die Richtlinien für die Prüfung von Ansprüchen auf die Restitution „verfolgungsbedingt entzogenen Kulturguts“ verabschiedete, ist zudem die Provenienzforschung zu einem kunsthistorischen Arbeitsfeld geworden, dessen historische und politische Relevanz spätestens seit der internationalen Debatte über den Fall Gurlitt nicht mehr bestritten wird.
Interesse finden in diesem Zusammenhang neben einzelnen Restitutionsfällen auch die institutionellen Strukturen und organisatorischen Vorgänge bezüglich der Sicherstellung von „displaced art“ durch die Siegermächte nach dem Zweiten Weltkrieg. So manche der seit 1945 zunächst unternommenen Bemühungen, die Rückführungen nach von den Siegermächten gemeinsam beschlossenen Richtlinien abzuwickeln, scheiterten ab 1947 aufgrund der wachsenden politischen Spannungen zwischen Ost und West.2 In allen Besatzungszonen wurden Sammeldepots für Kunst- und Kulturgut eingerichtet. Dazu zählten sowohl Raubgüter aus dem In- und Ausland, die nach Deutschland gebracht worden waren, als auch deutsche Sammlungsbestände, die wegen kriegsbedingter Gefährdung hatten evakuiert werden müssen. Der weitaus größte Teil nationalsozialistischer Raubkunst – aus vielen Ländern Europas – ebenso wie umfangreiche Bestände etwa der Berliner Museen befanden sich bei Kriegsende im Bereich der US-Besatzungszone. Dort wurden daher die meisten Kunstsammelstellen eingerichtet: unter anderem in Marburg, Offenbach und Celle3 sowie in München4 und in Wiesbaden.
Die 2013 in Mainz angenommene kunsthistorische Dissertation von Tanja Bernsau skizziert zunächst allgemeine Grundsätze von Kulturgüterschutz und Restitution im Zweiten Weltkrieg und der Nachkriegszeit, bis hin zur Gründung der UNESCO 1945. Der Schwerpunkt liegt auf der für den militärischen Kunstschutz und für die Restitution zuständigen Einheit der amerikanischen Militärregierung, der „Monuments, Fine Arts & Archives Section (MFA&A)“ (Kapitel 2). Kapitel 3 behandelt den Wiesbadener Central Collecting Point (CCP), der von Juni 1945 an im Landesmuseum Wiesbaden eingerichtet wurde – übrigens der einzige CCP, der von Anfang an in einem originären Museumsgebäude untergebracht war. Bis März 1946 leitete der Kunstschutzoffizier Walter I. Farmer, auf dessen autobiographische Darstellung sich die Autorin in erster Linie stützt (S. 179), den Wiesbadener CCP. Von Februar 1946 bis zur Übergabe der Einrichtung an die Hessische Treuhandverwaltung 1949 richtete der CCP im Landesmuseum zehn Ausstellungen aus (Kapitel 3.4). In Bernsaus Arbeit geht es nicht in erster Linie um Restitution, denn ausländische Raubkunst wurde hauptsächlich über den Münchner CCP restituiert, während im Wiesbadener CCP vor allem Werke mit Provenienz aus deutschem Museumsbesitz aufbewahrt und erst nach Jahren zurückgegeben wurden. Bereits in einem Aufsatz von 1986 ist bemerkt worden: „So versuchte man [...], das Wiesbadener Depot wie einen Selbstbedienungsladen für Ausstellungsexponate zu gebrauchen.“5
Kapitel 4 ist betitelt mit „Analyse: Ein Wiederaufbau der Museumslandschaft in Deutschland unter dem Einfluss der Besatzer?“. Dort schildert Bernsau unter dem Motto „Westward ho!“ die bereits in Kapitel 3.2.5 ausführlich dargelegte Geschichte der umstrittenen Ausstellungstour von Gemälden aus Berliner Museumsbesitz in Nordamerika – eine Aktion, die nicht nur von deutscher Seite heftig kritisiert wurde, sondern der mit dem „Wiesbadener Manifest“ vom 7. November 1945 auch eine Gruppe amerikanischer Kunstschutzoffiziere klar, allerdings erfolglos entgegentrat.6 Ebenfalls mit zahlreichen Wiederholungen geht die Verfasserin erneut auf die Ausstellungen im CCP ein, die von Farmer und den auf ihn folgenden Direktoren verantwortet wurden: den Kunsthistorikern Edith A. Standen, Francis W. Bilodeau und Theodore A. Heinrich. Ernst Holzinger, Direktor des Frankfurter Städel und von der Militärregierung zum „Direktor der Museen in Großhessen“ ernannt, war als „Chief German Expert“ zeitweise am CCP Wiesbaden tätig, beeinflusste dessen Ausstellungspolitik aber nicht. Bis auf die Präsentation der Kölner Sammlung Haubrich (1948) mit Arbeiten, die im Nationalsozialismus als „entartet“ gegolten hatten, handelte es sich bei diesen Ausstellungen um Werke älterer Kunst. Impulse in Gestalt einer dezidierten amerikanischen Ausstellungspolitik zur Förderung neuerer und zeitgenössischer Kunst gingen vom CCP Wiesbaden nicht aus – anders als etwa in Bayern, wo Vertreter der US-Militärregierung solche Ausstellungen veranstalteten („Extreme Malerei“, Augsburg 1947; „Kunstschaffen in Deutschland“, München 1949). Und so formuliert Bernsau als Fazit ein Negativresultat: Die „Nutzung von Kunstausstellungen als Instrument der Re-Education [war] von den Besatzern nicht explizit vorgesehen“ (S. 443). Sie resümiert: „Nichtsdestotrotz lässt sich die Arbeit der MFA&A als nachhaltig wertvoll bezeichnen.“ (S. 447)
Ein Anhang von rund 180 Seiten beschließt den Band. Die biographischen Daten zu den im CCP tätigen Kunstschutzoffizieren und weiteren Mitarbeitern basieren in großen Teilen auf der von Robert M. Edsel begründeten Website <http://www.monumentsmenfoundation.org>, zusammen mit seinem Buch „The Monuments Men“ die Vorlage für George Clooneys Anfang 2014 herausgekommenen Hollywoodfilm.7 Einige Archivalien, über die der Leser sich leicht im Internet informieren könnte, werden in Abschrift wiedergegeben, zum Beispiel ein Auszug aus der Verfassung der UNESCO von 1945. Das Quellenverzeichnis enthält unter anderem Abschriften aus den Findbüchern der Ardelia Hall Collection in der National Archives and Records Administration (NARA); diese Dokumente sind schon seit langem auf der Website <http://www.archives.gov> abzurufen. Das anschließende Literaturverzeichnis ist unübersichtlich aufgeteilt, was die Suche nach bestimmten Titeln erschwert.
Die im Untertitel angekündigte Analyse des CCP „als Drehscheibe für den Wiederaufbau der Museumslandschaft nach 1945“ bleibt Bernsau schuldig. Generell lassen ihre Ausführungen die Kontextualisierung vermissen. Es fehlt der Blick etwa in das nahegelegene Frankfurt, wo Holzinger erst seit 1947 unabhängig von der Militärverwaltung moderne und zeitgenössische Kunst zeigen konnte. Die Autorin erwähnt weder sein nicht spannungsloses Verhältnis zum CCP noch seine Frankfurter Ausstellungspolitik im Konflikt mit der Militärregierung; der Beitrag von Dorothea Schöne zu diesem Thema ist Bernsau offenbar nicht bekannt.8 Die Dokumentation einer 2012 in Köln veranstalteten Tagung zu Ausstellungswesen und Sammlungspolitik nach Kriegsende9 konnte die Verfasserin wohl nicht mehr berücksichtigen.
Tanja Bernsau lässt angesichts umfangreichen Archivmaterials eine gewisse Überforderung anklingen: „Aus diversen Archivschnipseln lassen sich einzelne Fälle der geglückten Restitution rekonstruieren.“ (S. 250) Gerade im Zugriff auf „diverse Archivschnipsel“ jedoch zeigt sich die Beherrschung eines Themas. Offensichtlich hat die Autorin die in den National Archives in Washington verwahrten Archivalien der Militärverwaltung zum Wiesbadener CCP in der schon genannten Ardelia Hall Collection nicht umfassend oder gar im Original konsultiert. Die Recherche wird mittlerweile durch den Online-Zugriff erleichtert (<http://www.fold3.com>). Statt auf Quellen beruft sich Bernsau in wesentlichen Teilen ihrer Ausführungen auf die Sekundärliteratur, auf autobiographische Äußerungen (etwa von Walter Farmer) sowie auf die Website und das erwähnte Buch „The Monuments Men“ von Edsel, der das Pathos und die Selbststilisierungen aus Dokumenten der „Oral History“ übernimmt. Eine ausgewogene, deutsche ebenso wie amerikanische Quellen berücksichtigende Auswertung, wie Dorothea Schöne sie beispielhaft vorgeführt hat10, findet im vorliegenden Buch nicht statt. Viele der 49 Abbildungen geben im Faksimile Textdokumente, Grafiken und Statistiken wieder. Über das erhaltene, umfangreiche Bildmaterial zum CCP Wiesbaden – etwa in der Ardelia Hall Collection, in der National Gallery in Washington DC oder in Farmers Nachlass – äußert sich Bernsau nicht. Es wäre zu wünschen gewesen, auch diesen wesentlichen, bildlichen Teil der Überlieferung zum CCP Wiesbaden berücksichtigt zu finden.
Anmerkungen:
1 Siehe den Forschungsbericht von Christian Welzbacher, Kunstschutz, Kunstraub, Restitution. Neue Forschungen zur Geschichte und Nachgeschichte des Nationalsozialismus, in: H-Soz-u-Kult, 13.12.2012, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2012-12-001> (01.07.2014).
2 Siehe Wolfgang Eichwede / Ulrike Hartung (Hrsg.), „Betr.: Sicherstellung“. NS-Kunstraub in der Sowjetunion, Bremen 1998; Osteuropa 56 (2006) H. 1–2: Kunst im Konflikt. Kriegsfolgen und Kooperationsfelder in Europa, hrsg. von Manfred Sapper, Claudia von Selle und Volker Weichsel.
3 Vgl. Lothar Pretzell, Das Kunstgutlager Schloß Celle 1945 bis 1958, Celle 1959.
4 Vgl. Craig Hugh Smyth, Repatriation of Art from the Collecting Point in Munich after World War II. Background and Beginnings. With Reference especially to the Netherlands, Maarssen 1988; Iris Lauterbach, Der Central Art Collecting Point in München 1945–1949. Kunstschutz, Restitution und Wissenschaft, in: Inka Bertz / Michael Dorrmann (Hrsg.), Raub und Restitution. Kulturgut aus jüdischem Besitz von 1933 bis heute, Göttingen 2008, S. 195–201.
5 Arnulf Herbst, Zur Geschichte des Wiesbadener Collecting Points, in: Kunst in Hessen und dem Mittelrhein 25 (1986), S. 11–19, hier S. 17.
6 Siehe auch Irene Kühnel-Kunze, Bergung, Evakuierung, Rückführung. Die Berliner Museen in den Jahren 1939–1955, Sonderband Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz 1983, Berlin 1984.
7 Robert M. Edsel, The Monuments Men. Allied Heroes, Nazi Thieves, and the Greatest Treasure Hunt in History, New York 2009; dt.: Monuments Men. Die Jagd nach Hitlers Raubkunst, St. Pölten 2013; deutsche Website zum Film: <http://www.monumentsmen-derfilm.de> (01.07.2014).
8 Dorothea Schöne, Revision, Restitution und Neubeginn. Das Städel nach 1945, in: Uwe Fleckner / Max Hollein (Hrsg.), Museum im Widerspruch. Das Städel im Nationalsozialismus, Berlin 2011, S. 241–285.
9 Julia Friedrich / Andreas Prinzing (Hrsg.), „So fing man einfach an, ohne viele Worte“. Ausstellungswesen und Sammlungspolitik in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, Köln 2013.
10 Siehe Anm. 8.