In seinem neuesten Buch "Der flexible Mensch" prangerte der New Yorker Kultursoziologe und Historiker Richard Sennett kuerzlich wieder einmal die psychischen und sozialen Folgen des neoliberalen Kapitalismus fuer das verunsicherte Individuum an (obwohl er selbst einst gerade diese Form des Kulturpessimismus als "Tyrannei der Intimitaet" entlarvt hatte). Sennett postuliert eine Dominanz der Angst und den Verlust innerer Sicherheit durch die schwindende Moeglichkeit langfristiger emotionaler Erfahrungen und Beziehungen. Die Ohnmacht des Einzelnen in der modernen Oeffentlichkeitsarchitektur westlicher Grossstaedte und das Verlernen menschlicher Empathie sind seit vielen Jahren Sennetts Themen, denen er sich gleichermassen undogmatisch wie unkonventionell naehert.
Ohne hier die Validitaet seiner zentralen These diskutieren zu wollen, draengt sich immerhin die Frage nach der Gueltigkeit dieses Axioms des Verlustes innerer Ganzheit und der emotionalen Entfremdung auf: Welches Menschenbild verbirgt sich dahinter und welche Konzepte von psychischem "Bei-sich-sein" werden als ethisch ueberlegen suggeriert? Waren die Seelen "frueher" Lebender wirklich "gesuender"? Fuehlten sich die Menschen wirklich sicherer, angstfreier, verwurzelter als wir, die wir gelernt haben uns staendig zu reflektieren, zu hinterfragen und geographische Mobilitaet mit sozialer Offenheit gleichzusetzen? Bei Fragen nach Wahrnehmungsweisen und Erfahrungen verweist die auf harte Fakten fixierte Geschichtswissenschaft gern auf die KollegInnen von Psychologie und Soziologie, die sich allerdings ihrerseits kaum ernsthaft mit historischen Fragen beschaeftigen. Wenn Geschichtswissenschaft die Aufgabe hat, durch das Verstaendnis und die Deutung der Vergangenheit die Gegenwart besser zu verstehen und vielleicht sogar den utopischen Anspruch hat, zukuenftige Gesellschaft mitzugestalten, dann hat Richard Sennett mit seiner 1994 zuerst im Original erschienen Stadtgeschichte der anderen Art gerade der Geschichtswissenschaft interessante Angebote zu unterbreiten, mit denen eine naehere Auseinandersetzung lohnt, zumal er sich offen zu seinem normativen Anspruch bekennt. Gleichzeitig bildet "Fleisch und Stein" den historischen Unterbau fuer Sennetts gegenwartsbezogene zivilisationskritischen Thesen. Ihn interessiert die Frage, warum in modernen Zeiten mit mehr koerperlichen Freiheiten paradoxerweise eine "sinnliche Verarmung" vor allem "im Raum" zu konstatieren ist (21). Sennett geht davon aus, dass "die raeumlichen Beziehungen menschlicher Koerper ... eine enorme Rolle fuer die Reaktionen von Menschen aufeinander" spielen. Er moechte Wege finden, "den Koerper sensibler [zu] machen, moralisch empfindlicher", "mehr Anteil an anderen zu nehmen" (23). In modernen Gesellschaften beklagt er eine "Angst vor Beruehrungen", die sich auch in der zweckrationalen modernen Stadtplanung niederschlage, die Gemeinschaftsfremde zu marginalisieren, zu verdraengen oder den Kontakt mit ihnen zu verhindern versucht, was zu Erfahrungsdefiziten und in der Folge zu Intoleranz fuehre.
Zunaechst mag es aussehen, als ob sich da einer mittels weit hergeholter Verknuepfungen an die gerade entdeckte Koerpergeschichte anzuhaengen versucht, doch tatsaechlich stellt "Fleisch und Stein" eine der wenigen wirklich koerperhistorisch angelegten Monographien dar. Obwohl inzwischen als Taschenbuch endlich auch fuer studentische Portemonnaies erschwinglich geworden und demnach offenbar gut verkauft, ist dieser unorthodoxe Ansatz als eigentlich fachfremdes Werk von kulturhistorischer geschweige denn sozialhistorischer Seite bislang kaum rezipiert worden. Auf die Bedeutung des Zusammenhangs von Raumgestaltung und Koerperlichkeit fuer die Konstituierung von Gesellschaften hatte schon vor einem Jahrzehnt Pierre Bourdieu in seinem Aufsatz zum Kabylenhaus vergeblich aufmerksam gemacht.1 Anhand von Sennetts Buch sei hier deshalb noch einmal nachdruecklich auf diesen spannenden Erklaerungsansatz hingewiesen.
In einem fuer auf einzelne historische Epochen, Regionen oder Konfessionen spezialisierte HistorikerInnen ungewohnten Parforceritt durch eine Zeitspanne von 2500 Jahren und verschiedene europaeische Grossstaedte sowie das moderne New York, bietet Sennett eine angenehm essayistische und dabei mittels eines angehaengten Anmerkungsapparates dennoch kulturhistorisch fundierte Erklaerung fuer gravierenden gesellschaftlichen Wandel an. Indem er die jeweiligen Koerpervorstellungen, medizinische, kultisch-religioese wie wirtschaftliche Praktiken und ihre architektonische bzw. stadtplanerische Umsetzung in Einzelteile zerlegt, um dann die Genese menschlich-urbanen Miteinanders in einer von ihm konstruierten Chronologie und Linearitaet vorzufuehren, faellt es auf Anhieb schwer, seiner Logik zu widersprechen.
Sennett betont die geistige Verwandtschaft zum Spaetwerk Michel Foucaults, dem er intellektuell wie persoenlich eng verbunden war. In der Auseinandersetzung mit historischen Koerpervorstellungen und Koerpererfahrungen fuehrte ihn diese Ausgangsposition im Laufe der Jahre weg vom unterdrueckten Machtobjekt "Koerper" hin zum Medium und Katalysator fuer Lebens- und damit Welterfahrung.
Wie fuer Foucault liegt auch fuer Sennett der Schluessel nicht nur zur politischen und wissenschaftlichen Entwicklung der westlichen Zivilisation in der griechischen Antike, deren Koerpermodell um die Macht des Akustischen und Visuellen, um Stimme und Auge zentriert war. In ersten Teil beschreibt er in einer "Stadtfuehrung" die bauliche "Verkoerperung" des idealisierten nackten maennlichen Koerpers in der athenischen Stadtrepublik. Um die Kausalverbindung zwischen saefte- und waermeorientierten Koerperbildern und davon abgeleiteten Gesellschaftsvorstellungen in der Architektur nachzuweisen, beschreibt er die Definition des Ideals sowohl anhand seines Negativums, den einander aehnlich strukturierten Frauen- und Sklavenkoerpern als auch anhand der spartanischen Konkurrenz. Das Spannungsfeld zwischen guten und weniger guten, eigenen und fremden Koerpern gestaltete den staedtischen und gleichzeitig den damit identischen staatlich-politischen Raum, weil auch die Hitze der Rhetorik von der Verschiedenheit der Koerperwaerme abhing. Sennett versteht es gerade in diesem ersten Teil des Buches medizinhistorische, archaeologische, philosophiegeschichtliche und religionshistorische Erkenntnis zu synthetisieren und eroeffnet damit einen ungewohnt ganzheitlichen Blick auf "body politics" (31).
Anhand des fruehchristlichen Roms Kaiser Hadrians schildert er anschliessend den Kulturkampf konkurrierender Koerperbilder. Einerseits findet sich die visualisierte Koerpersymmetrie als gehorsam erzwingende imperiale Virilitaet andererseits gibt es den christlichen Versuch der Idealisierung koerperlicher Leidensfaehigkeit als Triumph des goettlichen Geistes ueber das schwache Fleisch.
Mit Etablierung des christlichen Glaubens zeichneten sich jedoch angesichts oekonomischer Beduerfnisse und neuer Staatsbildungsprozesse Konfliktlinien innerhalb der christlichen Gemeinschaft ab, als deren koerperlich symbolisches Zentrum das Herz und seine Empfindsamkeit galten. Am Beispiel von Paris zwischen 1250 und 1500 fuehrt Sennett im zweiten Teil des Bandes vor, wie christliches Mit-Leiden und menschliche Zuwendung in Form der Schaffung spezialisierter und fester karitativer Raeume als Stein gewordene "Imitatio Christi" Stabilitaet und Vertrauen verkoerperten. In diese relativ statische und verlaessliche Welt drangen bald neue Handelsstrukturen ein, die in Verortung und zeitlicher Manifestation je nach oekonomischer Konstellation variieren konnten. Beiden Weltsichten lagen verschiedene Koerperkonzepte zugrunde, die staendig und konfliktreich neu verhandelt werden mussten. Der christliche Koerper war ein ewig gleich hierarchisches Haus mit Kopf und Herz, denen die Glieder gehorchten, wahrend der Wirtschaftskoerper seit der Renaissance und spaetestens seit der Entdeckung des Blutkreislaufes im 17. Jahrhundert eine pulsierende Maschine mit wechselnden Intensitaeten und Dominanzen war. Die Etablierung der verschiedenen spaetmittelalterlichen Koerperschaften, die in veraenderlicher Form an wechselnden Orten entstehen und verschwinden konnten, verschaerften noch die Spannung zwischen den verschiedenen Vorstellungen einer kontemplativen Kontinuitaet und aggressiv-mobilen Arbeits- und Lebensraeumen.
Dies ist, stark verkuerzt, der zentrale Prozess des Umbruchs, den Sennett seit der fruehen Neuzeit in allen seinen Beispielfaellen wiederzufinden bemueht ist. Die Ambiguitaet dieses christlichen Dilemmas fuehrt der Autor besonders eindruecklich und ueberzeugend am Beispiel der Errichtung des juedischen Ghettos in Venedig vor. Der Wohlstand dieser traditionellen Handelsmetropole beruhte gerade auf dem kreativen Pool der religioesen und voelkischen Vielfalt ihrer Bewohner. Mit einsetzenden Pestepidemien, darauffolgender Wirtschaftskrise und Machtverlust begann eine philosophische und bald auch physische Pathologisierung der Verhaeltnisse, die in Segregierung aller Volksgruppen und in dem Versuch der totalen Isolation der juedischen Bevoelkerung muendete. Hier kam es vor dem Hintergrund des christlichen Suendeglaubens zum ersten Mal zur assoziativen und wissenschaftlich verbraemten Verknuepfung von Diskursen der Unsittlichkeit, Unreinheit und Krankheit mit einem als juedisch-anders - parallel zum Koerper der Hure - als hochinfektioes konstruierten Volkskoerper, der durch ein "Kondom" (288) vom reinen christlichen Stadtkorpus getrennt sein musste. Innerhalb der Ghettomauern kam es infolge der so geschaffenen kultischen Spielraeume ebenfalls zur Ausbildung einer neuen eigenen juedischen Identitaet.
Der dritte Teil des Buches ist der Verwissenschaftlichung seit der Zeit der Aufklaerung gewidmet. Die Versuche der Herrschaftsoptimierung durch gezielte Stadtplanung, die die Kontrolle der Bewegung der Massen, Entwaesserungs- und Belueftungskonzepte zu beruecksichtigen versuchte, laesst sich auf die anatomisch-medizinische Vorstellung von Staedten als lebendige atmende und zirkulierende Koerper zurueckfuehren. Washington und wieder Paris dienen als primaere Beispiele. Die staatliche Angst vor unkontrollierten Bewegungen des Volkskoerpers gipfelte in Paris in der Revolution und flaute auch danach nicht ab. Spaetestens hier ueberzeugen Sennetts Erklaerungen nicht mehr. Der lange Exkurs zu den Bruesten der Marianne entspricht eher mittelalterlichen Vorstellungen von der "Maria lactans" als Pragmatisierungstendenzen, und der Bezug zur Grossstadt bleibt unklar. Voellig unverbunden steht daneben die an klaren Linien der Vernunft angelehnte Stadtplanung des Revolutionaers Boullee, der "freien Raum" fuer "freie Buerger" zu schaffen bemueht war. Solche Schwaechen lassen sich auch mit Lyrik wie: "Diese leeren Volumen sollten Mariannes Koerper ein Zuhause geben" (364) nicht uebersehen. Interessanter ist dann wieder die Entschluesselung der Schaffung festlicher Raeume sowie die maschinelle Inszenierung des zu toetenden und toten Koerpers der revolutionaeren Exekutionsexzesse als Perversion eines ganz anderen "sozialen Raums" der Begegnung. Doch auch Behauptungen, wie die, erst da sei die voyeurhafte Menge ihrer Verantwortung fuer die Toetungen ledig geworden (377), ignoriert die lange Tradition oeffentlicher Hinrichtungen als Volksbelustigung und entlarvt sich als holprige Konstruktion. Derartige Allgemeinplaetze haeufen sich leider im dritten und vierten Teil des Buches. Das Kapitel zu London im 19. Jahrhundert hat sich, obwohl es auf die Bewegungen des einzelnen Koerpers in der Stadt konzentriert ist, weit von dem engen koerperanalytischen Ansatz, der den Anfang des Buches so faszinierend macht, entfernt und liest sich ueber weite Strecken einmal eher als traditionelle Beschreibung des technischen Fortschritts in Reisemoeglichkeiten und Komfortbildung, dann als literaturwissenschaftliche Analyse eines zeitgenoessischen Romans (Howards End). Die einzelnen Unterkapitel sind kaum noch auf einander bezogen.
Der abschliessende Sprung ins New York der 1980er und 90er Jahre macht Sennetts eigentliches Anliegen ueberdeutlich. Strategisch geschickt laesst er gerade das als besonders bunt und lebendig geltende Greenwich Village zum Kronzeugen der haptischen und kommunikativen Deprivation des modernen Grossstaedters werden, alles ist auf visuelle Reize reduziert. Gleichgueltigkeit gegen den Naechsten erscheint als Toleranz.
Auch wenn gerade dieses Kapitel beinahe zu einem rein normativen Appell geraten ist, gewaehrt Sennett insgesamt neue Einsichten und spannende Anregungen. Besonders in der Auseinandersetzung mit der heidnischen Antike und der Abkapselung der juedischen Fremdkoerper laeuft er zu argumentativer Hoechstform auf. Dennoch draengt sich in der Gesamtschau der Eindruck auf, hier seinen nur die passend behauenen Bausteine einer koerperbezogenen urbanen Kulturanthropologie aufeinander getuermt worden. Man fragt sich, ob die Unterschiede zu anderen Lebensweisen etwa in Kleinstaedten, Doerfern oder gar in nomadischen Kulturen wirklich so grundlegend sind. Auch Entstehung und Ende der langen quasi grossstadtlosen Epoche zwischen 500 und 1000 wird nicht thematisiert. Gerade die Uebergaenge zwischen den verschiedenen Phasen bleiben bei einzelnen Kapiteln im Dunkeln. Woher kommt der Wandel? Wie konnte z.B. fuer die Hellenen das christliche Koerperbild so ueberzeugend werden, dass es ueberhaupt "mehrheitsfaehig" wurde? Woher kam das oekonomische Weltbild der Mobilitaet und des Pragmatismus? Welche Wechselwirkungen sind erkennbar? Lassen sich aufgrund der zeitlichen wie lokalen Verschiedenheit ueberhaupt so klare Entwicklungslinien ziehen?
Wer diesen gluecklicherweise auch in der Taschenbuchausgabe reichlich mit Stadtplaenen, Stadtansichten und idealen Koerpern bebilderten Sennett aufmerksam liest (und die Geschlechtsumwandlung von Historikerinnen wie Olwen Hufton, Dorinda Outram oder Evelyn B. Harrison durch die Uebersetzerin ignoriert), laeuft trotz der aufgefuehrten Abstriche nicht Gefahr, den normativ-utopischen Anspruch des Autors mit Romantisierung der Vergangenheit gleichzusetzen und als schlichte Klage ueber Werteverfall abzutun. In allen vorgestellten Beispielen betont er, dass die Anordnung und das Miteinander menschlicher Koerper im staedtischen Raum ihre Dynamik und ihr kreatives Potential erst aus der Konfrontation mit anderen Koerperbildern gewannen, die in sozialen, religioesen oder ideologischen Konflikten ihren Ausdruck fanden. Sennett will keinesfalls kuenstliche Harmonie propagieren, ihm geht es vielmehr um die konkurrierende Vielfalt der lebendigen, toten und symbolisierten Koerper, deren sinnliche Erfahrung als Grundvoraussetzung fuer menschliches Miteinander nicht nur im engen staedtischen Raum unabdingbar zu sein scheint. Denn nur wer die eigene "koerperliche Unzulaenglichkeit" (456) positiv anerkennt, d. h. sich aktiv mit seinem und den anderen Koerpern auseinandersetzt, kann die Schwaechen anderer ohne "kognitive Dissonanzen" (459) ertragen und reagiert nicht mit Aggression oder Flucht.
Anmerkungen:
1 Pierre Bourdieu, Das Haus oder die verkehrte Welt, in: ders., Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt/M. 1987, 468-489.