Cover
Titel
Angst vor der Wahrheit. Ein Plädoyer gegen Relativismus und Konstruktivismus


Autor(en)
Boghossian, Paul
Reihe
suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2059
Erschienen
Frankfurt am Main 2013: Suhrkamp Verlag
Anzahl Seiten
164 S.
Preis
€ 14,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Hoeres, Historisches Institut, Julius-Maximilians-Universität Würzburg

Der schlanke Band mit dem von Hegel entliehenen Titel ist die Übersetzung eines 2006 in den USA publizierten Buchs, das vielfach diskutiert, in der Geschichtswissenschaft aber noch kaum rezipiert worden ist. Dabei hat es Boghossians Fundamentalangriff auf den Konstruktivismus in sich, denn er kommt zu dem Ergebnis: „Der intuitiv einleuchtenden Auffassung zufolge existieren die Dinge unabhängig von menschlichen Ansichten, und wir können über sie zu Meinungen gelangen, die objektiv vernünftig und ohne Rücksicht auf soziale und kulturelle Perspektiven für jeden verbindlich sind, der verstehen kann, welche Belege für sie sprechen. Auch wenn diese Vorstellungen schwer zu begreifen sein mögen, so ist es doch ein Fehler, zu denken, die jüngere Philosophie hätte starke Gründe dafür entdeckt, sie zurückzuweisen.“ (S. 134)

Auf den vorangegangenen Seiten stellt der Autor, Philosophieprofessor in New York, Gründe vor, die für einen sozialen Konstruktivismus und, damit verwandt, einen epistemischen Relativismus sprechen. Die Darlegungen der Gewährsleute, vor allem Richard Rortys, führt Boghossian auf Grundaussagen zurück, die er eine nach der anderen widerlegt. Die gegen den Konstruktivismus und epistemischen Relativismus ins Feld geführten Argumente lassen sich dabei auf den Nachweis der fehlenden Kohärenz und des Selbstwiderspruchs zurückführen. Der Grundwiderspruch ist folgender: Der Konstruktivismus und epistemische Relativismus behaupten etwas, was im Falle der Richtigkeit diese selbst dementiert. Denn die Relativierung einer Tatsachenbehauptung als abhängig von einer bestimmten Theorie wäre selbst wieder abhängig, sofern sie nicht einen absoluten Wahrheitsanspruch proklamieren will. Boghossian drückt dies so aus: „An jedem Punkt des drohenden Regresses muss der Relativist verneinen, dass die Behauptung an diesem Punkt einfach nur wahr sein kann, und wird darauf bestehen müssen, dass sie nur relativ zu einer Theorie wahr ist, die wir befürworten.“ (S. 61) Es droht also der infinite Regress. Der epistemische Relativist ist schlicht nicht in der Lage, epistemische Systeme zu beurteilen, dafür hat er keine Maßstäbe.

Diese Kritik ist nun nicht neu, wurde aber von niemandem so streng logisch durchexerziert wie von Boghossian. Als logische Argumentationsfiguren bemüht der Autor in der Hauptsache die basalen Schlussregeln des modus ponens und des modus tollens.1 Obwohl das Buch von der Analytischen Philosophie geprägt ist, kann es so auch jeder verstehen, der nicht einen Seminarschein in formaler Logik vorzuweisen hat.

Boghossian führt den postmodernen Erkenntnisdiskurs auf politische, postkoloniale und multikulturalistische Motive zurück. Die Bedeutung alternativer epistemischer Systeme zur (westlichen) Rationalität solle als gleichwertig angesehen werden. Er hält aber diese Option auch unabhängig von ihrer fehlenden Konsistenz für nicht haltbar: „Wenn nämlich die Mächtigen die Unterdrückten nicht kritisieren können, weil die zentralen erkenntnistheoretischen Kategorien unvermeidlich an bestimmte Perspektiven gebunden sind, folgt daraus auch, dass die Unterdrückten die Mächtigen nicht kritisieren können.“ (S. 134)
Nach Boghossian gibt es keine Alternative zum rationalen Denken, und auch die Skeptiker, Vor- oder Postmodernen verschlössen sich diesem Kalkül nicht, sondern argumentierten nur inkonsistent oder könnten eben keine überzeugenden Gründe für ihre Auffassungen vorweisen. Allerdings finden sich auch bei Boghossian dem streng rationalen Ansatz widersprechende pragmatistische Einsprengsel – das Kalkül der logischen Vernunft sei aufgrund seiner Leistungen überlegen und ein alternatives System müsse ebenbürtige Leistungen vorweisen –, und der Autor ist stärker in der Anatomie der konstruktivistischen und relativistischen Annahmen als in der Darlegung einer eigenen Erkenntnistheorie.

Im Nachwort feiert der derzeitige Star der philosophischen Debatte, Markus Gabriel, Boghossians Buch als Auftakt für den von ihm vertretenen „Neuen Realismus“ und als Abgesang auf den „postmodernen Relativismus“ der sich als „falsche Philanthropie und als verfehltes emanzipatorisches Projekt“ erwiesen habe, „da er auf falschen Prämissen, insbesondere auf der Zurückweisung absoluter Tatsachen und absoluter Wahrheit“ beruhe (S. 136). Die Postmoderne habe sich zu Tode gelaufen, so Gabriel.

Was bedeutet das nun für die Geschichtswissenschaft? Die Kritik an einem in die Jahre gekommenen postmodernen (radikalen) Konstruktivismus ist auch in dieser Disziplin wiederholt formuliert worden.2 Dennoch wird der Konstruktivismus nach wie vor oftmals begründungslos, begründungsarm oder unter lapidarem Verweis auf postmoderne Autoritäten („nach x ist y ein soziales Konstrukt“) beschworen. Der angesprochene epistemische Selbstwiderspruch wird dabei bestenfalls dezisionistisch oder metaphorisch, meist gar nicht zu lösen versucht. Selbst bei einer so anspruchsvollen und in vielen Aspekten überzeugenden Gesellschaftstheorie wie der Systemtheorie Niklas Luhmanns bleibt offen, worauf der Anspruch einer konstruktivistischen Selbstbeschreibung der Gesellschaft zielt, nach welchem Kriterium sich gute von schlechter Theorie unterscheiden lässt.

Die gedanklichen Unsauberkeiten oder Leerstellen des konstruktivistischen Ansatzes, die im Buch ein um das andere Mal aufgezeigt werden, sind oftmals auf jene gedankenlose Trägheit zurückzuführen, die schon Hegel angeprangert hat. Das zu Beweisende – Nationen, Geschlechter, Klassen et cetera seien ausschließlich Konstrukte oder Erfindungen, gleichsam creationes ex nihilo – wird am Beginn zahlreicher Studien dogmatisch vorausgesetzt, um im Verlauf der jeweiligen Untersuchung nur noch illustriert zu werden. Überraschungen oder auch nur interessante und brauchbare Forschungsergebnisse bleiben so aus.

Was aber die Möglichkeit der Erkenntnis subjektunabhängiger objektiver Tatsachen für die Möglichkeit der Erkenntnis geschichtlicher, das heißt vergangener Tatsachen (Konstellationen, Strukturen, Mentalitäten, Kulturen, Ideen et cetera) und vor allem deren ja immer perspektivische Narration und Selektion bedeuten könnte, darüber erfahren wir aufgrund der hohen Abstraktionsebene von „Angst vor der Wahrheit“ nichts. Die theoretischen Kohärenz- und Konsistenzbedingungen, die Boghossians Maßstab entsprechen, sind jedenfalls streng. Bei der Suche nach Alternativen zum Konstruktivismus muss man freilich nicht am Nullpunkt beginnen3 und kann sicher auch einen Konstruktivismus begrenzter Reichweite dort einbauen, wo er gerechtfertigt ist (und von Boghossian und Gabriel auch nicht angefochten wird). Dieser ist aber in jedem Einzelfall neu begründungspflichtig. Als Generaltheorie hat der Konstruktivismus jedoch spätestens mit diesem Buch ausgedient.

Anmerkungen:
1 Modus Ponens:
1) A→B (Prämisse 1)
2) A (Prämisse 2)
3) B (Conclusio)
Modus Tollens:
1) A→B (Prämisse 1)
2) ¬B (Prämisse 2)
3) ¬A (Conclusio).
2 Vgl. Richard J. Evans, In Defense of History, New York 1999; Egon Flaig, Ohne Wahrheit keine Wissenschaft – Überlegung zur Wendung nach den Wenden, in: Christoph Kühberger / Thomas Terberger / Christian Lübke (Hrsg.), Wahre Geschichte – Geschichte als Ware. Die Verantwortung der historischen Forschung für Wissenschaft und Gesellschaft, Rahden 2007, S. 49–80; Andreas Kablitz, Geschichte – Tradition – Erinnerung? Wider die Subjektivierung der Geschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 32 (2006), 220–237; Andreas Rödder, Klios neue Kleider. Theoriedebatten um eine Kulturgeschichte der Politik in der Moderne, in: Historische Zeitschrift 283 (2006), S. 657–688; Werner Paravicini, Die Wahrheit des Historikers, München 2010.
3 In jedem Fall sollten die hermeneutischen Überlegungen Thomas Nipperdeys neu gelesen werden. Für die mit Nipperdeys geschichtstheoretischen Aufsätzen Unvertrauten liegt eine von Paul Nolte besorgte Auswahl vor: Thomas Nipperdey, Kann Geschichte objektiv sein? Historische Essays, München 2013. Wichtige Aufsätze Nipperdeys wie „Über Relevanz“ und „Historismus und Historismuskritik heute“ sind darin allerdings nicht enthalten.

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