Unter Neo-Liberalismus – meist nur von seinen Gegnern so genannt – versteht man üblicherweise die Doktrin der freien Konkurrenz, die Auffassung also, dass für alle Teilhaber einer gesellschaftlichen Ordnung genau dann die besten Lebensbedingungen und deren ökonomisches Wachstum gesichert seien, wenn jeder einzelne strikt seinen eigenen Interessen folge und ihm genau diese Freiheit auch garantiert werde. Der Neo-Liberalismus setzt auf Konkurrenz und Wettbewerb als die entscheidenden, ja im Grunde einzigen Antriebe gesellschaftlicher Entwicklung und wirtschaftlichen Wachstums.
Das eigentlich Neue am Neo-Liberalismus aber liegt darin, dass er diese Doktrin nicht mehr nur auf das ökonomische Handeln beschränkt. Vielmehr ist sie zu einem Leitgedanken gesellschaftspolitischer Arenen auch außerhalb der wirtschaftlichen Sphäre geworden: So wird etwa die spätmoderne Demokratie von ihren Akteuren wie von der Öffentlichkeit zunehmend als ein freies Spiel der parteipolitischen Interessen und wahlpolitischen Kalküle verstanden. In der Bildung setzt sich mehr und mehr ein Modell der ökonomischen Konkurrenz um Studierende und Fördermittel durch. Und die derzeit anvisierten transatlantischen Freihandelsabkommen betreffen keineswegs nur die Privatwirtschaft, sondern sollen langfristig den gesamten Dienstleistungssektor dem kaum noch regulierten Wettbewerb überantworten, einschließlich jener Aufgaben, die seit dem 18. und 19. Jahrhundert staatlich organisiert wurden.
Dieser Siegeszug einer Doktrin, die nicht mal von ihren ursprünglichen Erfindern, allen voran Adam Smith, in dieser Reichweite gedacht wurde, ist nach wie vor ein historisch erklärungsbedürftiges Phänomen – besonders angesichts der Tatsache, dass sich seit den ersten sozialen Bewegungen des 19. Jahrhunderts allmählich ein breiter Konsens über den Regulierungsbedarf und die Regulierungsnotwendigkeit moderner Marktstrukturen herausgebildet hatte. Heute aber scheint nicht nur der weitgehende Verzicht auf Regulierung der neue Konsens zu sein, sondern die Regulierungsinstanzen ordnen sich sogar selber immer mehr dem Prinzip der ökonomischen Konkurrenz unter; auch wenn man nicht genau weiß, welche parteipolitischen Programme oder demokratischen Entscheidungen eine solche Entwicklung eigentlich bewusst gefordert und gefördert haben.
Angesichts dieser Ausdehnung der neo-liberalen Doktrin stellt sich zudem die Frage, wie ‚liberal‘ sie eigentlich ist. Handelt es sich etwa dort, wo sie auf Bereiche jenseits der Wirtschaft übertragen wird, wirklich um ein freies Spiel der Kräfte, in denen Eigeninitiative, Innovation und Fortschritt sich durchsetzen? Oder ist nicht gerade hier, etwa im Bildungsbereich, eine künstliche Installation pseudo-ökonomischer Kriterien und Kampagnen des ‚Marketing‘ und ‚Controlling‘ zu beobachten, die wahre Innovation strukturell verhindert? Oder auch: Wie ‚liberal‘ ist eine Finanzwirtschaft, deren ‚big player‘ selbst bei übelster Fehlkalkulation sicher sein können, vom Staat ‚gerettet‘ zu werden, um ihren gescheiterten Managern dann Abfindungen zu zahlen, die so manchem mittelständischen Unternehmen aus der Krise helfen könnten? Ist dabei statt einer Neo-Liberalisierung im klassischen Sinne nicht eher eine Art ‚Neo-Sozialliberalisierung‘ im Gange, die von Konkurrenz und Wettbewerb redet, in Wahrheit aber einen staatlich-ökonomischen Komplex an die Stelle freier, politischer Gesellschaftsordnung setzt? Zugegeben, Letzteres ist bewusst etwas verschwörungstheoretisch ausgedrückt. Doch vielleicht ermöglichen erst solche Formulierungen grundsätzliche Fragen, die historisch an die Herausbildung der Verhältnisse, wie wir sie täglich beobachten können, heranführen. Denn ein simpler Sieg der Freiheit und des radikalen Liberalismus über jede Art der Regulierung – zu dieser These wollen die gegenwärtigen Phänomene, von der europäischen Finanz- und Wirtschaftspolitik bis zum faktischen Verschwinden der FDP, nicht recht passen.
Für eben solche Zusammenhänge und Fragen liefert der von Ralph Jessen herausgegebene Sammelband über „Konkurrenz in der Geschichte“ jetzt ein wichtiges Stück historischer Aufklärung – gerade weil er das Thema weder auf die engere ökonomische Ebene eingrenzt noch freie Konkurrenz und deren Regulierung von vornherein als sich ausschließende Gegensätze oder Gegenkräfte versteht. Vielmehr zeigen die meisten hier versammelten Beiträge, dass Konkurrenz und freier Wettbewerb gerade dort, wo sie als Modell und ideale Handlungsnorm der gesellschaftlichen Reproduktion im weitesten Sinne gedacht wurden, immer auch und immer schon mit Formen und Modellen ihrer Regulierung einhergingen.
Der Band verfolgt sein Thema bis in die Antike zurück und untersucht das Phänomen der Konkurrenz anhand der Entscheidungsfindung in der athenischen Demokratie (Elke Stein-Hölkeskamp) sowie im Kontext des aristokratischen Wettbewerb in der römischen Republik (Marian Nebelin). Zwei weitere Aufsätze analysieren die Konkurrenz der württembergischen Städte im Spätmittelalter (Nina Kühnle) und die Konkurrenz der Stände und Ränge in der Frühen Neuzeit (Barbara Stollberg-Rilinger). In allen vier Studien wird deutlich, in welchem Maße sehr verschiedene Konkurrenzverhältnisse über Jahrhunderte in ihrer Existenz und Funktionsweise sowohl an begrenzte und begrenzende Räume als auch an regulierte und regulierende Praktiken gebunden waren. Erst Christiane Eisenberg untersucht dann am Beispiel des britischen Auktionswesens die so praktische wie vorsichtige Einübung kapitalistischer Marktkonkurrenz im 18. Jahrhundert. Deren Transformation seit den 1970er-Jahren wiederum steht im Zentrum der Beiträge von Morten Reitmayer über „Deutsche Konkurrenzkulturen nach dem Boom“ und von Wencke Meteling zur Maxime und wirtschaftspolitischen Rhetorik der „Standortsicherung“ in den 1990er-Jahren.
In dieser Reihung historischer Studien fällt sofort die große Lücke auf, die zwischen dem 18. Jahrhundert und den 1970er-Jahren klafft. Denn damit fehlen ausgerechnet jene 200 Jahre, in denen sich das marktwirtschaftliche Wettbewerbssystem, wenn auch krisen- und konflikthaft, durchsetzte. Zudem verwundert es angesichts der sonstigen Spannbreite des Bandes, warum das Thema der Konkurrenz nicht auch mit Blick auf den klassischen Wirtschaftsliberalismus des 19. Jahrhunderts, auf Nationalismus und Imperialismus oder im Kontext der totalitären Systeme beleuchtet wurde. Auch die beiden abschließenden wissenschaftshistorischen Aufsätze zum Wettbewerb der Universitäten im 19. und 20. Jahrhundert (Margit Szöllösi-Janze) sowie zur Konkurrenz und Kooperation in den Naturwissenschaften (Kärin Nickelsen) können, obgleich sie für ihren Bereich jeweils interessante Einblicke liefern, diese große Lücke nicht kompensieren.
Eingeleitet wird der Band dafür aber durch einen gründlichen Forschungsüberblick von Ralph Jessen sowie von gleich drei theoretisch-systematischen Aufsätzen: Aus althistorischer Perspektive plädiert Karl-Joachim Hölkeskamp dafür, Konkurrenz weniger als Modell und Ideal denn als konkrete Praxis zu untersuchen, da nur in dieser Perspektive deutlich werde, wie instabil und prekär vermeintlich sichere Wettbewerbssysteme in Wahrheit seien. Aus soziologischer Perspektive liefert Tobias Werron einen Abriss der Begriffsgeschichte von ‚Konkurrenz‘ und ‚Wettbewerb‘, wobei er mit Georg Simmel einen deutlichen Unterschied zwischen beiden Konzepten herausstellt: Während sich Konkurrenz auf direkte Konkurrenten beziehe, also auf einzelne Akteure im Spiel der Kräfte, setze Wettbewerb immer ein Publikum voraus, um dessen Gunst konkurriert werde – eine Unterscheidung, die in den öffentlichen Debatten um das Thema Konkurrenz, Wettbewerb und Liberalismus meist unter den Tisch fällt. Aus ethnologischer Perspektive schließlich hebt Markus Tauschek den immer auch inszenierten Charakter von Konkurrenzverhältnissen hervor, die erst durch ritualisierte performative Praktiken jene Sinngehalte erzeugen, die den Wettbewerb zu einem auch reflexionsfähigen Handlungsmodell machen.
Die übergreifend wohl wichtigste Erkenntnis des Bandes besteht darin, dass Konkurrenz und ihre Regulierung – oder, in abstrakteren Begriffen, Freiheit und Ordnung – grundsätzlich in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen. Gerade dort, wo freie Konkurrenz als Modell und Ideal gedacht wird, das auf magisch-natürliche Weise Verbesserung, Fortschritt und Wachstum erzeuge, ist sie bereits Ordnungsmodell und an bestimmte Formen der Regulierung und Begrenzung gebunden. Umgekehrt bedarf es ausgeprägter ordnungspolitischer Reflexionen und regulatorischer Praktiken, um Konkurrenz, Wettbewerb und freie Märkte als eben jene Naturkräfte vorstellen und funktionieren lassen zu können, die angeblich ohne Ordnung und Regulierung auskommen. Auch wenn die Autorinnen und Autoren es nicht ganz so deutlich formulieren, hält die trotz der genannten Lücken sehr kluge Sammlung historischer Rückblicke daher eine entscheidende Einsicht bereit, die zum Verständnis der Gegenwart beitragen und ihrer derzeit populär beschworenen ‚Alternativlosigkeit‘ entgegengesetzt werden kann: Freie Konkurrenz war nie das Gegenteil gesellschaftspolitischer Ordnung, sondern immer eine ihrer spezifischen Formen. Und als solche – statt als etwas Natürlich-Ahistorisches – sollte sie auch verstanden, reflektiert und kritisiert werden.