Cover
Titel
Leben im Ausnahmezustand. Terrorismus und Personenschutz in der Bundesrepublik Deutschland (1970–1993)


Autor(en)
Richter, Maren
Erschienen
Frankfurt am Main 2014: Campus Verlag
Anzahl Seiten
368 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Patrick Wagner, Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Seit über vier Jahrzehnten gehören sie zur öffentlichen Repräsentation von Macht in der Bundesrepublik einfach dazu: Auffällig unauffällige Personenschützer, die Entscheidungsträger aus Politik und Wirtschaft so eng begleiten, dass auch ahnungslose Passanten sofort erkennen, dass hier ein Mensch von Amt, Einfluss oder doch zumindest Geltungsbewusstsein daherkommt. Die Geschichte dieses Distinktionsmerkmals der deutschen Entscheidungselite hat die Münchner Historikerin Maren Richter in ihrer Dissertation mit einem multiperspektivischen Ansatz untersucht, der Anregungen unterschiedlicher Disziplinen aufzugreifen versucht. Dies gereicht der Studie meist zum Vorteil, indem neue Erkenntnismöglichkeiten auf dem bereits ziemlich beforschten Feld der Auseinandersetzung zwischen Staat und Linksterrorismus eröffnet werden. Mitunter aber verliert sie sich auch im Vagen oder in allzu bedeutungsschweren Aussagen von beschränkter Belastbarkeit.

Richters Untersuchung folgt drei Strängen: Erstens rekonstruiert die Autorin die institutionelle Genese und Entwicklung des polizeilichen Personenschutzes zwischen 1951 und 1993 (Kapitel 1 und 2); zweitens analysiert sie seine Funktion als Statussymbol einer Spitzengruppe innerhalb der bundesdeutschen Funktionseliten (Kapitel 3), um schließlich drittens zu ihrem Kerninteresse zu gelangen, einer Emotionsgeschichte der Bedrohung durch den Terrorismus und der hiergegen ergriffenen Schutzmaßnahmen (Kapitel 4 bis 6). Den interpretatorischen Höhe- und Zielpunkt erreicht die Studie mit dem „Entwurf eines emotionalen Habitus der damaligen staatlichen Elite“ (S. 232). Basieren die ersten drei Kapitel vor allem auf Akten der einschlägigen Behörden, so bilden über 20 narrative Interviews mit Menschen, die zumindest zeitweilig unter Personenschutz gestanden haben, den Kern des emotionsgeschichtlichen Quellenmaterials. Bei den Zeitzeugen handelte es sich überwiegend um ehemalige Politiker (unter anderen Helmut Schmidt, Gerhart Baum, Hans-Jochen Vogel und Burkhard Hirsch) oder Repräsentanten der Sicherheitsorgane (so z.B. die pensionierten Präsidenten des Bundeskriminalamtes Horst Herold und Hans-Ludwig Zachert), teilweise aber auch um deren Ehefrauen und Kinder, die als Angehörige bedrohter Personen ihrerseits Objekte von Gefährdung wie von Schutzmaßnahmen wurden. Zeitzeugen aus den Reihen der polizeilichen Personenschützer hat Richter nur am Rande befragt; deren Erfahrungen klammert sie überhaupt bewusst aus – eine aus pragmatischen Gründen verständliche, in der Sache gleichwohl bedauerliche Entscheidung, denn so bleibt der Blick auf die Interaktion der Schützenden mit den Geschützten notwendigerweise einseitig.

Alle drei Stränge führen zu neuen Erkenntnissen über die staatlichen Reaktionen auf den Linksterrorismus und die Lebenswelten der bundesdeutschen Entscheidungselite von den 1970er- bis zu den frühen 1990er-Jahren. Erstens kann Richter zeigen, dass der polizeiliche Personenschutz bis etwa 1990 improvisiert blieb; seine Konzepte und Praktiken entwickelten sich nicht gemäß strategischer Planung, sondern schubweise in Reaktion auf spektakuläre Attentate. Zweitens wurde der Personenschutz wie die ihm zugrunde liegende Einstufung von Repräsentanten des Staates und der Wirtschaft in unterschiedliche „Gefährdungsstufen“ schnell zu einem Symbol von Macht, das sich durch seine gute Sichtbarkeit besonders dazu eignete, innerhalb der Funktionseliten einen kleinen Kreis vermeintlich wirklich bedeutender Persönlichkeiten hierarchisch abzugrenzen – sei es durch Distinktion nach außen, sei es mittels der internen Kommunikation über die gemeinsamen Erfahrungen von Gefährdung und Schutz. Im März 1977 zählten lediglich 64 Menschen zu jener exklusiven Gruppe, die von Personenschützern der Sicherungsgruppe des Bundeskriminalamtes bewacht wurde; 1990 waren es dann 91. Hinzu kam ein weiterer Kreis von Schutzpersonen, für welche die Länderpolizeien zuständig waren. An mehreren Beispielen zeigt Richter, wie erbittert Politiker darum kämpften, als gefährdet und schutzbedürftig, ergo als bedeutsam eingestuft zu werden, und zwar gerade dann, wenn ihre Funktionen selbst (etwa als Ministerin eines zweitrangigen Ressorts oder als politischer Pensionär) eine solche Bedeutung nicht unmittelbar signalisierten. Die in den 1980er-Jahren beginnende Etablierung einer privaten Sicherheitsbranche ermöglichte es dann auch Privatpersonen, sich Leibwächter als repräsentatives Accessoire zuzulegen (ein Aspekt, der mehr systematisches Interesse verdient hätte, als Richter ihm mit einem Exkurs zubilligt).

Drittens vermag die Autorin mit Hilfe einschlägiger Ansätze aus Psychologie, Soziologie und Historiographie sowie auf Basis der Zeitzeugeninterviews, die sie mit einer Respekt gebietenden, skrupulös reflektierten Methodik durchgeführt und ausgewertet hat, den Habitus der Bonner Entscheidungselite um 1980 plausibel zu beschreiben. Manche Elemente dieses von Helmut Schmidt geradezu idealtypisch verkörperten Habitus sind aus anderen Untersuchungen bereits bekannt – etwa das permanente In-Szene-Setzen von Rationalität, Nüchternheit, Unbeirrbarkeit und eines offen auf seine Herkunft aus soldatischen Erfahrungen verweisenden Pflichtbewusstseins. Innovativ an Richters Studie ist aber zweierlei: Zum einen zeigt sie am Beispiel der Tabuisierung des Sprechens über die individuellen Bedrohungsängste, dass ein Kernelement dieses Habitus in der ostentativen Leugnung von Emotionen als (mit) handlungsleitender Faktoren bestand. Hierin unterschied sich die aus Kriegs- und Nachkriegsgeneration des Zweiten Weltkrieges rekrutierte Entscheidungselite um 1980 markant vom damaligen Bestreben jüngerer Alterskohorten, das öffentliche Aussprechen von Gefühlen in der politischen Kultur zu verankern. Zum anderen systematisiert Richter die Beschreibung dieser Merkmale der zeitgenössischen Elite als erste Historikerin mithilfe des Modells eines „emotionalen Habitus“. Den damit verbundenen Anregungen sollte die zeithistorische Forschung auch dann folgen, wenn nicht alle Schritte, die Richter auf dem Weg zu ihren Erkenntnissen geht, zu überzeugen vermögen. Zwei Einwände gegen ihre Argumentationsweise möchte ich nennen.

Erstens erliegt Richter immer wieder der Versuchung, die Bedeutung ihres Gegenstandes, also die Wirkmächtigkeit des Systems der behördlichen Gefährdungseinstufungen und des Personenschutzes, für die internen Beziehungen der Bonner Entscheidungselite oder gar für die Gesellschaft insgesamt zu überschätzen. Dies beginnt schon im privaten Raum ihrer Protagonisten, in dessen Beschreibung sie die allgemeinen Folgen von Prominenz mit den konkreten Wirkungen des Personenschutzes vermischt. Dass die Kinder von Bundeskanzlern oder Ministern mit ihren Vätern seltener ungestört zusammen sein konnten als die Kinder von „Normalbürgern“, lag zunächst einmal am Arbeitspensum und Terminkalender dieser etwas anderen Väter – und eben nicht vorrangig an den polizeilichen Maßnahmen zu deren Schutz. Und dass Ministerkinder von ihren Schulkameraden und Lehrern für etwas Besonderes gehalten wurden, mochte durch die Präsenz von Personenschützern zwar verstärkt worden sein; verursacht aber wurde es durch die Prominenz der Väter an sich. All das beschreibt Richter, aber sie unterscheidet diese Ebenen nicht hinreichend klar und gelangt so zu Fehlschlüssen hinsichtlich der sozialen Folgen des Personenschutzes. Im nächsten Schritt überschätzt sie vermutlich auch dessen strukturbildende Wirkung für die Binnenbeziehungen der Entscheidungselite. Es erscheint mir beispielsweise angesichts der traditionellen Ressorthierarchie deutscher Kabinette als gewagte These, erst die Klassifizierung der Bundesminister nach unterschiedlichen Gefährdungsgraden habe in einer bis dahin egalitär organisierten Regierung eine „Binnendifferenzierung“ herbeigeführt (S. 117). Finanz- und Familienminister besaßen schon lange zuvor unterschiedliche Statusränge. Generell erscheint es ein wenig überzogen, aus Schutzmaßnahmen für einen dreistelligen Personenkreis abzuleiten, diese hätten „die moderne deutsche Gesellschaft in ihren Grundstrukturen geprägt“ (S. 119). Richter gelingt die fulminante Beschreibung eines wesentlichen, bislang kaum thematisierten Elementes des Bonner Politikbetriebes, nicht aber seine plausible relationale Einordnung.

Zweitens bleiben viele Aussagen im Ungefähren und verweisen vage auf Zusammenhänge, die nicht präzise erläutert oder gar belegt werden. So beschreibt Richter beispielsweise zunächst ganz plausibel, dass der Personenschutz die geschützten Menschen darin behindert habe, alltägliche Kontakte zu Freunden und Nachbarn zu pflegen, um dann über die Folgen zu spekulieren: „Mit dem fehlenden sozialen Austausch im Privatbereich konnte ein Mangel an Sinnesreizen entstehen, der zu emotionalen und kognitiven Veränderungen der Wahrnehmung führen konnte.“ (S. 155) Das klingt dramatisch und evoziert Assoziationen an die vermeintliche „Isolationsfolter“ gegenüber RAF-Häftlingen, aber man hätte doch gern gelesen, was dies denn konkret bedeutet haben mag. An einer anderen Stelle vermutet Richter, zwischen den Ehefrauen der Schutzpersonen und den stets präsenten Personenschützern habe „eine emotionale und physische Nähe entstehen“ können. Da ist es natürlich bedauerlich, dass diese Aussage angesichts fehlender Belege im Konjunktiv verbleiben muss: „Von so einem Fall ist jedoch in den Gesprächen nicht erzählt worden“ (S. 177f.).

Den Höhepunkt erreicht dieser spekulative Gestus dort, wo Richter die These aufstellt, dass die von den Schutzpersonen erlebten Beeinträchtigungen ihres Privatlebens „indirekt“ ihre „politische[n] Entscheidungen beeinflussten“ (S. 257). Welche Entscheidungen wurden wie beeinflusst? Wirklich konkret wird Richter hierzu nicht. Gleich an mehreren Stellen kommt sie zwar darauf zu sprechen, dass „der gemeinsame emotionale Habitus der Mitglieder des Krisenstabs während der Schleyer-Entführung 1977“ bedeutsam für ihre „Handlungsmuster“ gewesen sein könnte (ebd.), aber dort, wo sie Konkretes aus dem Krisenstab berichtet, wird gerade dies nicht erkennbar: Aufgrund der emotionalen Anspannung der selbst potentiell gefährdeten Teilnehmer habe einer von ihnen die Todesstrafe für Terroristen gefordert. Nun ist diese Geschichte nicht neu, jedoch kann man diesen Vorstoß eines CSU-Politikers auch mit seinen politischen Überzeugungen statt mit emotionaler Anspannung erklären. Vor allem aber ist das Resultat des Vorschlages bekannt: Er hatte bei den anderen Teilnehmern keine Chance. Insofern taugt diese Episode gerade nicht dazu, Richters These zu belegen. Die Autorin muss daher einräumen, dass die Frage nach den konkreten Auswirkungen des „emotionalen Habitus“ der Bonner Politiker auf ihr Agieren im Kampf gegen den Terrorismus „unbeantwortet“ bleiben müsse (S. 231). Immerhin, so merkt sie an, deuteten doch die „Erkenntnisse der Emotions- und Kognitionsforschung [...] darauf hin, dass Politiker durchaus von der sie umgebenden Situation sowie den eigenen Stimmungen indirekt beeinflusst waren“ (ebd.). Das mag so sein und in der Logik der genannten Disziplinen (sowie von der Alltagspsychologie her) plausibel erscheinen. Für Historiker/innen muss es meines Erachtens dennoch dabei bleiben, dass sie sich um Quellenbelege für ihre Thesen bemühen sollten.

Hat Maren Richter also ein Buch geschrieben, das in der zeithistorischen Forschung wenig Beachtung verdient? Keineswegs. Unterm Strich überwiegen die eingangs beschriebenen Erkenntnisgewinne und innovativen Aspekte dieser Studie. Vor allem mit ihrem Ansatz, das Agieren einer Entscheidungselite zumindest teilweise aus deren emotionalem Habitus heraus zu erklären, weist Richter einen vielversprechenden Weg für weitere Untersuchungen, auch wenn sie selbst als Pionierin dieses Ansatzes mitunter ins Straucheln geraten ist.