Steven Seegel etabliert in der Einleitung zu seinem Buch sein Lieblingswort: „messy“ bzw. „messiness“. Seine zentrale These, oder vielmehr das zentrale Ziel seines Buchs ist unmittelbar damit verbunden. Er will allzu eindeutige Narrative der Geschichtsschreibung aufbrechen und auf die Komplexität, Spannung und Dynamik historischer Zusammenhänge hinweisen. Sein Programm ist dabei höchst ambitioniert, und er bezieht Fragen der nationalen, ethnischen und religiösen Identität ebenso wie Aspekte der imperialen Machtsicherung und die Herausbildung des modernen Nationalstaates mit ein – bei einem Zeitraum von über 200 Jahren. Der Gegenstand seines Interesses ist dabei die Kartographie als Instrument und Ausdruck von Modernisierungsbestrebungen und Machtsicherung. Seegels Untersuchungsraum ist bestimmt durch das Konzept des Grenzraumes und die etwas sperrige Bezeichnung „lesser Ostmitteleuropa“: gemeint sind das habsburgische Galizien, der katharinäische „Ansiedlungsrayon“, Kongresspolen und die europäischen Provinzen des Russländischen Reiches. Die erhoffte Unordnung findet der Autor hier tatsächlich auf Schritt und Tritt: zwischen dem 17. und dem frühen 20. Jahrhundert treffen verschiedene Staatskonzeptionen, unterschiedliche nationale und ethnische Gruppen, zahlreiche Sprachen und diverse Religionsgemeinschaften sowie, all dem entsprechend, divergierende kartographische Traditionen und Strategien aufeinander. Dies bietet genügend Material, um die von Seegel beklagte pauschalisierende Eindeutigkeit in historiographischen Untersuchungen zu Nation, Imperium und Kartografie ausführlich zu problematisieren. Die Kritik an Autoren wie Benedict Anderson, Ernest Gellner oder auch Miroslav Hroch fällt allerdings weder besonders originell noch sonderlich fair aus – einmal, weil Seegel keineswegs der Erste ist, der auf die Schwächen dieser klassischen Nationalismusforschung hinweist. Darüber hinaus kann ein Modell nur sehr begrenzt mit dem Hinweis in Frage gestellt werden, dass es nicht für „every regional corner of the interrelated spaces and multiple centers and peripheries in East Central Europe“ (S. 14) Gültigkeit beanspruchen kann. Besser durchdacht ist dagegen sein Ansatz für die Kartografiegeschichte. Seegel geht über die sonst häufig übliche Floskel von Karten als historische Quellen, die als Text gelesen und interpretiert werden müssen, hinaus. Er problematisiert das Narrativ von der Kartografie als Instrument des modernen Staates und die Linearität der daraus folgenden Fortschrittserzählung. Und ebenso wie er die postkoloniale Sicht auf Imperien als binäres Verhältnis von „oppressor and victim“ problematisiert (S. 6), stellt er auch den Harleyschen Dualismus von der ontologischen und ideologischen Wahrheit in Karten sowie von „power and protest“ in Frage (S. 11). Alles wird also komplizierter, was absolut zu begrüßen ist.
Zu bedauern ist allerdings, um einen entscheidenden Kritikpunkt gleich vorwegzunehmen, dass sich Seegels Betonung historischer Unübersichtlichkeit leider auch in seiner Sprache spiegelt: Überlange Sätze und unklare Bezüge erschweren es dem Leser, die Argumentation zu verfolgen und machen die Lektüre des Buches zu ausgesprochen harter Arbeit.
Weiterhin zu bedauern ist, dass der Anspruch auf Komplexität und Differenziertheit, der in der Einleitung so stark gemacht wird, in den einzelnen Kapiteln nicht unbedingt immer konsequent umgesetzt wird. Am deutlichsten wird dies in der Darstellung der Moskauer/russländischen Kartografie des 17. und 18. Jahrhunderts, dem sicherlich schwächsten Kapitel des Bandes. Hier wird eine traditionelle Mangelgeschichte erzählt, die nur schwer mit den hochtrabenden methodischen Ansprüchen der Einleitung in Einklang zu bringen ist: Moskau sowie das petrinische Russland sind „rückständig“, wissenschaftliche Präzision wurde in Ermangelung notwendiger Technologie durch ikonenhafte Bildlichkeit „ersetzt“, und eine Generalkarte des Reiches wurde „erst“ 1745 publiziert. Die frühmoderne Kartografie in Polen-Litauen dagegen steht bei Seegel in einem pointierten Gegensatz zur staatlich gelenkten, unflexiblen Kartenproduktion in Russland vor und nach Peter I.: komplex, innovativ, dezentral und aufklärerisch.
Trotz solcher Kritik muss festgestellt werden, dass mit dieser – einseitigen und auch im Detail nicht unbedingt immer korrekten – Darstellung doch die Grundaussage des Buches deutlich wird: Diese Region war gekennzeichnet von einem Neben- und Gegeneinander unterschiedlicher Akteure mit verschiedenen und oft gegenläufigen territorialen Ambitionen. Diese Situation wird in den folgenden Kapiteln ausführlich und mit oft bewundernswerter Detailkenntnis dargestellt. Im Kapitel zur Romantik des frühen 19. Jahrhunderts macht Seegel mit einem konzentrierten Blick auf Karamzin und Lelewel deutlich, wie intensiv der russisch-polnische Konflikt und die unterschiedlichen Zukunftsvorstellungen auch auf der Ebene des Räumlichen und Kartografischen ausgetragen wurde. Weitere Akteure dieser Arena, in der Wünsche und Wissenschaft gemeinsam Karten und somit Politik machten, waren nicht nur Kartografen und Geografen, sondern auch Verleger, Mäzene, Schriftsteller, Bürokraten, Historiker, Herrscher und Pädagogen; Nationalisten stehen neben imperialen Staatsmännern; Reformer nutzen Karten ebenso wie Konservative. Die Geschichte kulminiert zunächst in den Ereignissen von 1848, in denen revolutionäre ebenso wie reaktionäre Bewegungen – sowie die vielen Aktionen und Akteure, die mit diesem Dualismus nicht zu fassen sind – sich räumlicher Vorstellungen und Karten bedienten. Unter dem Begriff „Ethnoschematization“ beschreibt Seegel die modernisierenden und schematisierenden Effekte neuer Kartierung von Raum und Menschen. Seegels Narrativ mündet schließlich in die Verhandlungen von 1919 mit einer Kritik an Woodrow Wilsons ehrgeizigen und zugleich sehr vagen Plänen für eine territoriale Neuordnung Europas.
Die „großen“ Thesen Seegels sind, zusammengefasst dargestellt, oft nicht übermäßig überraschend. Die Fülle der untersuchten Entwicklungen, Strategien und Praxen aber ist geradezu überwältigend und macht das Buch zu einem beeindruckenden Werk, das allerdings besser in kleinen Dosen zu konsumieren ist.