J. Rückert (Hrsg.): Arbeit und Recht seit 1800

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Titel
Arbeit und Recht seit 1800. Historisch und vergleichend, europäisch und global


Herausgeber
Rückert, Joachim
Reihe
Industrielle Welt 87
Erschienen
Köln 2014: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
389 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katrin Moeller, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Die Kodifizierung von Arbeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gilt nicht mehr und nicht weniger als der historische Meilenstein, der ein fundamentales Element moderner Gesellschaften wegweisend formen und damit den nationalstaatlich organisierten Wohlfahrtsstaat entscheidend prägen sollte.1 Die Organisation der Gesellschaft um die Arbeit herum, die Etablierung von Leistung als Motor gesellschaftlichen Prestiges freier Rechtssubjekte, die individuelle Ausprägung von Berufsidentitäten und die rechtliche Fixierung von Arbeit gelten als Herzstück der Moderne. Nach der einprägsamen Formulierung dieses Forschungsparadigmas macht sich jetzt der Sammelband „Arbeit und Recht seit 1800“ auf, die zentralen Thesen des Forschungsfeldes inhaltlich zu unterfüttern bzw. kritisch zu diskutieren. Dabei ist nicht nur der Themenkomplex Recht und Arbeit bisher wenig erforscht. Viele Detailfragen der Arbeit blieben besonders in der deutschsprachigen Forschung bisher unkommentiert. So existieren zwar sehr präzise Überblickswerke über die Begriffsgenese der Arbeit von der Antike bis zur Postmodernen, empirische Studien und thematisch weit aufgefächerte Forschungsansätze bleiben – vor allem auch für die Zeit vor 1800 – jedoch immer noch Desiderat. Daher leistet der Band eine ganz wesentliche Pionierarbeit und macht sich vor allem mit den einleitenden Artikeln von Joachim Rückert, Ute Schneider und Robert Knegt zur Definition von Arbeitsrecht erst einmal daran, Bausteine für eine Rechtsgeschichte der Arbeit zusammenzutragen.

Ohne direkt auf die Kodifizierungsthese einzugehen, verlegt Rückert den entscheidenden rechtlichen Neuansatz zur Arbeit vom späten 19. Jahrhundert auf die Wende des 18./19. Jahrhunderts vor und beschäftigt sich vor allem mit der Frage eines Rechts auf Arbeit, statt mit der späteren Kodifizierung von Arbeit, die mit Arbeitslosenversicherung, Renten- und Krankenversicherung eigentlich auch eher eine Kodifizierung von „Nicht-Arbeit“ umfasst. Wie wenig kanonisiert das Wissen um die historische Fixierung von Arbeitsrecht bezeichnet werden kann, erweisen die in diesem Teil des Buches vorgeschlagenen ganz unterschiedlichen Definitionsangebote und das Ringen um die Systematisierung des komplexen Beziehungsgeflechts von Arbeit und Recht. Trennt Rückert vor allem die politisch-soziale und rechtliche Ebene, sind es bei Ute Schneider am Beispiel des Bürgerlichen Gesetzbuches und der Familiengesetzgebung der DDR eher die Debatten um die Behandlung von (Haushalts-)Tätigkeit und Arbeit, die sich, in der überzeugend dargelegten Diskussion, um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie die geschlechtsspezifischen Besonderheiten von Erwerbstätigkeit ranken. Die Synthese von Robert Knegt wiederrum würdigt in kritischer Weise vor allem die Verengung des Arbeitsbegriffes auf die marktorientierte, moderne Form von Arbeit und zweifelt an, ob sich mit der alleinigen Fixierung auf die Moderne tatsächlich ein adäquater Arbeits- und Rechtsbegriff operationalisieren lässt. Dieser Zweifel lässt sich aus der Perspektive einer Frühneuzeithistorikerin nur nachdrücklich bekräftigen.

Eine systematische Vorstellung oder Übersicht über die verschiedenen Beziehungsebenen von Recht und Arbeit erhält der Leser bzw. die Leserin im Weiteren nur eingeschränkt, wohl aber einen sehr lebhaften Eindruck über die Komplexität des Themas. Dieses Bild wird genährt durch die verschiedenen Themenangebote der Rubriken „Sich Recht verschaffen“ und „Arbeitsschutz“, die im engeren Sinne auf Facetten des Arbeitsrechtes reflektieren, bevor letztlich eher historische Wandlungsprozesse („Arbeitsregime im Übergang“ und der „Staat als Arbeitgeber“) reflektiert werden.

Unter der Rubrik „Sich Recht verschaffen“ werden vor allem die Schattenseiten der Kodifizierung von Arbeit herausgearbeitet. Die Durchsetzungsprobleme von arbeitsrechtlichen Vorgaben, ja überhaupt die Schwierigkeit über rechtliche – wenn auch auf Antizipation angelegte – Normen die riesige Kluft zwischen den europäischen und afrikanischen Vorstellungen, wirtschaftlichen Interessen und Arbeitspraktiken zu überbrücken, reflektiert Andreas Eckert sehr eindrücklich am Beispiel der Kolonien des Britisch-Afrika. Vor allem die grundsätzlich gegenläufigen Formen der Rechtsnutzung führten letztlich nicht zu einer Partizipation am Wohlfahrtsstaat durch Recht, sofern die Lage der afrikanischen Arbeiter betrachtet wird. Zum gleichen Fazit gelangt auch Naoko Matsumoto in seinem Vergleich der Nutzung japanischer und deutscher Gewerbegerichte um 1900. Trotz eines Exports der normativen Voraussetzungen nach Japan, entwickelte sich dort keine vergleichbare Justiznutzung der Gewerbegerichte durch Arbeiter oder Handwerker. In fast unterhaltsamer Weise und mit wunderbar klaren Worten liefert schließlich Jürgen Brand eine logisch strukturierte Geschichte der Nichtkodifizierung von Arbeitsbeziehungen und setzt damit klare Antithesen zum eingangs erwähnten Paradigma, indem er anschaulich beschreibt, wie über die ganz praktische Ausgestaltung von Arbeit auch die juristische Fixierung in Deutschland vorangetrieben wird. Lesenswert sind ebenso die Ausführungen zur Ausgestaltung von Arbeitsverträgen in der Transformation von der Frühen Neuzeit zur Moderne, für die er Kontinuitätslinien (Rolle der Gewerkschaften) klar unterstreicht.

Ein in den einzelnen Beiträgen sehr informatives Thema bildet zudem das Kapitel zu den „Arbeitsregimen“ im Wandel. Sowohl der Beitrag von Christoph Rass zur unfreien, oft mit Migrationsprozessen verbundenen, Arbeit in der Moderne wie auch der Vergleich des Vertragskündigungsrechts in verschiedenen Arbeitsregimen und ein dritter Beitrag von Sabine Rudischhausler zum Tarifvertragsrecht in Deutschland und Frankreich entwickeln sehr systematisch sowohl allgemeine wie spezifische Aspekte des Themas und belegen differenziert die gewonnenen Erkenntnisse. Alle drei Beiträge verweisen immer wieder auf das Auseinanderklaffen von Rechtstheorie und Rechtspraxis. An diese Stelle ließe sich auch der Beitrag von Christoph Boyer zum Arbeitsregime „Staatssozialismus“ besser platzieren (das im Titel erwähnte Recht bleibt in der Betrachtung weitgehend außen vor), als dies im Tagungsband geschehen ist. Boyer – und schließlich Christoph Conrad resümierend – zeigt, dass die verschiedenen in der Forschung diskutierten Wohlfahrtsregime sich nicht ohne weiteres auf die Arbeitssysteme staatssozialistischer Gesellschaften übertragen lassen. Conrad macht allerdings ebenso deutlich, dass auch die westlichen Arbeitsregime für sich genommen, aus verschiedenen Perspektiven gelesen (etwa aus dem Blickwinkel der Genderperspektive), keine klar definierten Container mit deutlich abgrenzbaren Definitionen bieten und fordert berechtigter Weise insgesamt einen differenzierteren Blick ein, als ihn Boyer leistet. Genau diesen liefert Thorsten Keiser (weiterführend, zum Teil auch kritisierend dazu die Zusammenfassung von Friedrich Lenger) mit seinem Vergleich des west- und ostdeutschen Kündigungsrechts, einer arbeitsrechtlichen Form, die es wie die anderen beiden behandelten Aspekte (unfreien Arbeit, Tarifrecht) dieses Kapitels insgesamt verdient hätte, als eigene Rechtsformen statt als Arbeitsregime Darstellung zu erhalten. Dies gilt umso mehr da der Begriff des Arbeitsregimes bereits zur Charakterisierung gesamtgesellschaftlicher Arbeitssysteme Verwendung findet. Zu einem solchen Kapitel wäre dann auch der Beitrag von Paul-André Rosental zum Konzept der „Berufskrankheit“ passfähiger erschienen, der vielleicht ein wenig zu sehr politisierend und detailreich die Problematik entfaltet.

Den Abschluss des Bandes bildet ein Kapitel über den Staat als Arbeitgeber. Inhaltlich fügt sich dieses Kapitel nicht eben einfach in die Struktur der allgemeinen Reflexion über rechtliche Aspekte von Arbeit ein, zumal dann wenn die Einzelwürdigungen vergleichbarer Rechtsbeziehungen (Betrieb, Familienunternehmen, Selbständige) fehlen. Darüber hinaus bleiben – legt man die Latte eines Überblicks an – deutliche inhaltliche Lücken wie beispielsweise die innerbetriebliche Rechtssetzung, Auseinandersetzung und Mitbestimmungsrechte von Betriebsräten und Arbeitnehmern, Weisungsrechte von Arbeitgebern, verschiedene Qualitäten von Arbeitsverträgen und Arbeitszeitregelungen sowie die rechtliche Ausgestaltung der Verbetrieblichung im 19. Jahrhundert etc., die wichtige Aspekte von Arbeitsrechtsbeziehungen umfassen. Dennoch gelingt es den beiden Autoren des Abschnitts, Therese Garstenauer und Thomas Pierson, diesen Eindruck vollständig wettzumachen. Indem sie das Beamtentum als spezifische Form des Beschäftigungsverhältnisses konzipieren, das weitreichende Aussagen über die Ausgestaltung von Verwaltungshandeln und Staatlichkeit erlaubt. Damit schließen sie wiederrum an das eingangs aufgestellte Paradigma an und fragen nach der Verdichtung von Staatlichkeit durch die Verrechtlichung von Arbeitsbeziehungen. Besonders für Thomas Pierson wird im Ergebnis die Erweiterung des Begriffspaars der abhängigen und freien Arbeit nötig, die er um die gleichgeordnete, genossenschaftliche Arbeit in Zusammenschlüssen und die öffentliche-rechtliche Subordination im öffentlichen Beschäftigungsverhältnis ergänzen möchte.

Als Fazit kann festgehalten werden: Der Band versammelt eine große Bandbreite von Rechtsaspekten in Arbeitsbeziehungen und darüber hinausgehender gesamtgesellschaftlicher Aspekte, welche die Komplexität und Vielseitigkeit des Themas plastisch vor Augen führt. Wie der Titel verspricht, sind viele Beiträge vergleichend und europäisch-global konzipiert, systematisieren einzelne Aspekte und kommen zu präzisen, gut nachvollziehbaren Schlussfolgerungen. Dennoch fehlt dem Sammelband am Ende eine integrierende Klammer, ein zusammenfassender Kommentar, der alle Beiträge zu einem großen Ganzen zusammenfügt, zumal letztlich internationale Geschichte über zweihundert Jahre berührt wird. Am Ende steht kein systematisierender Überblick über die verschiedenen Qualitäten und Ebenen der Beziehungen zwischen Recht und Arbeit. Vielleicht kann diese Aufgabe auch nur durch eine Monografie geleistet werden.

Aus meiner Perspektive lässt sich der Band als Gegenentwurf zum Paradigma der Moderne als Epoche der kodifizierten Arbeitsbeziehungen lesen. Fast alle Beiträge machen auf die Bruchstellen dieser Argumentation aufmerksam und an manchen Stellen wird letztlich auch direkt auf die Weiterentwicklung von begrifflichen Arbeitsrechtsbeziehungen (Pierson), auf die notwendige begriffliche Ausweitung des modernen Arbeitsbegriffes (Rückert, Schneider, Knegt) und die Divergenzen zwischen Rechtsanspruch und -wirklichkeit (Eckert, Matsumoto, Conrad, Boyer, Rass, Rosental etc.) verwiesen. Bislang werden die Rechts- und Arbeitsbeziehungen der Modernen quasi durch eine Abwertung des nicht nationalstaatlich organisierten vormodernen Arbeits- und Berufsbegriffes zum epochalen Charakteristikum stilisiert. Der Sammelband ist – wie von Jürgen Brand auf den Punkt gebracht – ein Einspruch dagegen.

Anmerkung:
1 Sebastian Conrad, Elisio Macamo und Bénédicte Zimmermann, Die Kodifizierung der Arbeit: Individuum, Gesellschaft, Nation, in: Jürgen Kocka / Claus Offe (Hrsg.), Geschichte und Zukunft der Arbeit, Frankfurt am Main 2009, S. 449–475.

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