Cover
Titel
Familienporträts. Fotografien 1974–1994


Autor(en)
Borchert, Christian
Reihe
Bilder und Zeiten 14
Erschienen
Leipzig 2014: Lehmstedt Verlag
Anzahl Seiten
112 S., 95 Abb.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Agneta Jilek, Hochschule für Grafik und Buchkunst / Graduiertenzentrum Geistes- und Sozialwissenschaften, Universität Leipzig

Als Ort für die Aufnahme des „Familienporträts“ wählte „Familie S.“ im Jahr 1983 adäquat zu ihrem akademischen Bildungshintergrund – sie: „Biologin/Hausfrau“, er: „Pfarrer“ – den Platz auf dem Sofa vor dem gefüllten Bücherregal (S. 92). Zehn Jahre später hat der ostdeutsche Fotograf Christian Borchert das Ehepaar und seine Kinder am selben Ort erneut fotografiert (S. 93). Man würde vermuten, dass die lange Zeitspanne, die einen politischen Systemwechsel mit sich brachte, zu noch stärkeren Veränderungen geführt hätte. Doch weder die Wohnungseinrichtung noch die Kleidung lassen die Spuren des Wandels erkennen. Diese manifestieren sich vielmehr in den Gesichtern der einzelnen Familienmitglieder und in deren Gruppierung: Saß das Paar auf der ersten Aufnahme noch eng nebeneinander, so ist es auf dem zweiten Bild auseinandergerückt, zwischen sich die drei jüngeren Kinder, am linken Rand des Sofas die jugendliche Tochter, abwesend zu Boden blickend, als würde sie nicht dazugehören. Was dies bedeuten mag, darüber kann eine Fotografie keine Auskunft geben; der Betrachter kann nur darüber mutmaßen. Gerade in diesem assoziativen Potential liegt der Reiz der „Familienporträts“. Oszillierend zwischen zeithistorischem Dokument, sozialhistorischer Bildquelle und eigenständiger künstlerischer Aussage geben die Bilder intime Einblicke in die Privatsphäre ostdeutscher Familien aus unterschiedlichen sozialen Milieus vor und nach der politischen Wende. Zudem deuten sie an, welche soziale Vielfalt und Ungleichheit es in der DDR gab.

Das jüngst im Lehmstedt-Verlag erschienene monografische Fotobuch fasst nun erstmals eine größere Auswahl der „Familienporträts“ von Christian Borchert zusammen, einem der wichtigsten ostdeutschen Autorenfotografen. Borchert (1942–2000) hatte zunächst als Bildjournalist bei der „Neuen Berliner Illustrierten“ (NBI) gearbeitet, seine dortige Tätigkeit jedoch Mitte der 1970er-Jahre beendet – den strengen Anforderungen an das sozialistische Pressebild überdrüssig. Parallel zu seiner Arbeit als Pressefotograf hatte er 1970 ein Fernstudium für Fotografie an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) begonnen, das er 1974 als „Fotografiker“ abschloss. Danach arbeitete er als freischaffender Fotograf hauptsächlich im „Eigenauftrag“, wie in der DDR das künstlerische Arbeiten unabhängig von einem Auftraggeber bezeichnet wurde. Die Serie der „Familienporträts“, für die er – nach ersten Anläufen schon in den 1970er-Jahren – ab 1983 mehrere hundert Familien aus unterschiedlichen Berufsgruppen in der gesamten DDR fotografiert hat, gehört zu Borcherts umfangreichsten Projekten.1 Er orientierte sich in seinen Bildkonzeptionen stark an August Sander, der mit der Fotoserie „Menschen des 20. Jahrhunderts“ in den 1920er-Jahren eine dokumentarische, auf den Vergleich angelegte Gesellschaftsstudie geschaffen hatte.

Die seit den 1980er-Jahren durchgehend querformatigen „Familienporträts“ sind einheitlich gestaltet. Borchert hat sie analog, in Schwarzweiß und mit Tageslicht aufgenommen. Die Familienmitglieder konnten selbst bestimmen, wie sie sich kleiden und wo in der Wohnung sie aufgenommen werden wollten. Durch diese relativ strenge, aber nicht zu stark homogenisierende Komposition können die Porträts miteinander in Bezug gesetzt werden und ermöglichen Vergleiche. Für eine Abbildung im Fotobuch sind sie deshalb ideal geeignet. Die Anordnung im Buch erfolgt in drei Teilen: 1974–1977, 1982–1985 sowie 1982–1985 in direkter Gegenüberstellung zu 1993–1994. Damit verweisen die Herausgeber, Mathias Bertram und Jens Bove, auf die unterschiedlichen Schaffensperioden, in denen die Bilder entstanden sind.

In den 1970er-Jahren hat sich Borchert zunächst skizzenhaft mit Porträts von Freunden und Bekannten an das Thema herangetastet. Deshalb finden sich in diesem Teil des Buches zahlreiche Künstler/innen und Intellektuelle, darunter die Schriftstellerin Elke Erb, der Schriftsteller Volker Braun und der Maler Gabriele Mucchi. Auch sind die Porträts in formaler Hinsicht noch heterogener. Der Hauptteil der Serie ist in den 1980er-Jahren entstanden. In diesem Zeitraum hat Borchert ein begehrtes Arbeitsstipendium der Gesellschaft für Fotografie im Kulturbund der DDR (GfF) erhalten, das es ihm finanziell ermöglichte, Familien in der gesamten Republik aufzusuchen. Einige von ihnen hat er in den frühen 1990er-Jahren erneut fotografiert, um eine Vergleichsfolie aus der Nachwendezeit zu schaffen. Mit dieser klugen Unterteilung im Fotobuch erhellen die Herausgeber einerseits den Entstehungsprozess der Porträts, andererseits die für die „freie“ Fotografie in der DDR typische Verbindung zwischen „Eigenauftrag“ und „gesellschaftlichem Auftrag“. Eine weitere Stärke des Buches besteht zudem in der umfangreichen Bildauswahl, die der Deutschen Fotothek der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden zu verdanken ist. Dort sind sämtliche Negative, Arbeitskopien und zugehörige Karteien aus dem Nachlass Borcherts archiviert. Die „Familienporträts“ sind zudem digital über die Datenbank der Fotothek recherchierbar.2

Das Buch gehört zur Reihe „Bilder und Zeiten“, die seit 2006 von Mathias Bertram herausgegeben wird. Die Bücher, die auf Fotografie aus der DDR spezialisiert sind, haben mit ihrer schlichten Gestaltung, dem schwarzen Cover und dem handlichen Format Wiedererkennungswert. Sie weichen von der für Fotobücher üblichen Opulenz ab (auch im Preis) und lassen sich sehr bequem lesen. Im vorliegenden Band hat Bertram den Einführungsaufsatz zu den „Familienporträts“ geschrieben, der mit sieben Seiten eindeutig zu kurz ist. Zwar vermag er die Entstehungsgeschichte der Porträts einfühlsam nachzuzeichnen, lässt aber auch viele Fragen offen. In welchem Bezug stehen diese Fotografien zum Gesamtwerk Borcherts? Wie lassen sich die Bilder in den Kontext des Genres einordnen, das in den 1980er-Jahren auch viele andere Fotografen und Fotografinnen wie Bernd Lasdin oder Margit Emmrich in der DDR und der Bundesrepublik bedient haben? Was war zeit-, was systemspezifisch? Welche fotohistorischen Traditionslinien sind in Borcherts Werk erkennbar? Wie lassen sich die zahlreichen Notizen und Selbstaussagen Borcherts werten, die immerhin mehrere tausend Seiten umfassen? Welche Rolle spielte Borchert im Kunst- und Kulturbetrieb der DDR? Für einen der wichtigsten Protagonisten der ostdeutschen Fotoszene hätte man sich eine ausführlichere Einordnung gewünscht.

Durch die fehlende wissenschaftliche Grundierung und Kontextualisierung ist das Fotobuch eher ein Anschauungsband als ein fotohistorisch differenzierter Beitrag. Der Vorteil der Porträts liegt jedoch darin begründet, dass sie auch ohne diese Einordnung auskommen und für den Betrachter zumindest auf der Ebene des ersten Zugangs tatsächlich keiner Erklärung bedürfen. Alle wichtigen Kontextinformationen hat Borchert den Bildern bereits im Titel beigefügt: die Nachnamen der Familien, die Berufsbezeichnungen, das Jahr der Aufnahme und den jeweiligen Ort. Auch wenn der Band keinen tiefschürfenden Beitrag zur Fotogeschichte liefert, ist er trotzdem sehr zu empfehlen, bietet er doch erstmals einen umfassenden Überblick zur Serie und zeigt sorgfältig ausgewählte, bisher noch nicht publizierte und ausgestellte „Familienporträts“.

Anmerkungen:
1 Vgl. Agneta Jilek, Dokumentarische Fotografie und visuelle Soziologie. Christian Borcherts „Familienporträts“ aus der DDR der 1980er-Jahre, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 10 (2013), S. 321–330, <http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Jilek-2-2013> (25.06.2014).
2 Siehe <http://www.slub-dresden.de/sammlungen/deutsche-fotothek/fotografen/borchert/> (25.06.2014). Dort lassen sich die Fotos nach Orten, Aufnahmedaten und Bildthemen filtern.