Im Jahr 1949 legte der Architekt und Bauhausabsolvent Arieh Sharon als Leiter der staatlichen Planungsbehörde Agaf Ha-Tichun den Entwurf für einen ersten Nationalplan vor, der die Grundlage für die weitere raumplanerische Entwicklung Israels darstellte. In seiner Dissertation, die nun mit mehr als 650 Seiten in Buchform vorliegt, unternimmt Joachim Trezib einen ideengeschichtlichen Vergleich der auf Sharons Entwurf aufbauenden israelischen Nationalplanung zwischen 1948 und 1967 mit der nationalsozialistischen Raum- und Bevölkerungsplanung für Osteuropa. Angelpunkt für dieses Unterfangen ist eines der einflussreichsten theoretischen Modelle in Geographie und Raumplanung: Walter Christallers Modell der zentralen Orte.
Trezibs Arbeit ist in drei große Teile gegliedert. Im ersten Abschnitt zeichnet der Verfasser das Koordinatensystem seiner Vergleichsmatrix in der Interpretation von Planung und Raumplanung als Ausdrucksform eines technokratischen, „reaktionären Modernismus“ (Jeffrey Herf). Spielarten dieser Denkrichtung diagnostiziert Trezib in den teils autoritär verordneten Modernisierungsprogrammen der Zwischenkriegszeit: in der faschistischen Erschließung des Agro Pontino südöstlich von Rom, in den staatlich gelenkten Reformprogrammen des New Deal sowie in der amerikanischen und der deutschen Technokratiebewegung.
Erst das zweite, 280 Buchseiten umfassende Hauptkapitel beschäftigt sich mit der israelischen Nationalplanung. Zum Zeitpunkt der Staatsgründung siedelten 82 Prozent der jüdischen Bevölkerung Israels im Küstenstreifen zwischen Haifa und Tel Aviv. Das im Unabhängigkeitskrieg durch Flucht und Vertreibung der arabischen Bevölkerung vergrößerte Gebiet sollte nun durch eine geplante Kolonisationspolitik dauerhaft angeeignet werden. Neuankommende jüdische Einwanderer wurden gezielt in Landesteile geleitet, in denen aus Sicht der Planer noch keine ausreichende jüdische Bevölkerung vorhanden war. Das Vehikel für die Nutzung und Inbesitznahme des Territoriums wurde die durch den Nationalplan projektierte Siedlungspolitik, die Israel in 24 Planungsregionen aufteilte. Jede einzelne davon sollte dem Modell Christallers entsprechend durch eine Hierarchie aus Siedlungen vom Dorf bis zur Regionalstadt erschlossen werden.
Trezib widmet sich zunächst der wissenschaftlichen Prägung der israelischen Raumplaner, die ihre Ausbildung zum großen Teil an deutschen Universitäten erhalten hatten. Schon die erste Generation zionistischer Planer vor der Staatsgründung wie Franz Oppenheimer, Arthur Ruppin oder Richard Kauffmann sei von der Siedlungsreformbewegung in Deutschland und ihren „eugenisch-völkisch“ geprägten Eigenarten (S. 222) beeinflusst gewesen. Im Anschluss betrachtet der Verfasser mit Eliezer Brutzkus (1907–1986) und Ariel Kahane (ebenfalls 1907–1986) zwei führende israelische Raumplaner in der Zeit nach der Staatsgründung und diagnostiziert als Mentalitätsbild ihrer „Kaste“ (S. 280) einen technokratisch-elitären, leitbildverhafteten und utopisch-visionären Planungsstil (S. 288). In diesem intellektuellen Umfeld sei, wie Trezib annimmt, „vermutlich im Jahre 1937/38“ (S. 317) die Rezeption von Christallers Zentrale-Orte-Modell erfolgt. Nach dieser Analyse widmet sich die zweite Hälfte des langen Kapitels einer detailreichen Darstellung der israelischen Siedlungsplanung und Siedlungspolitik zwischen 1948 und 1967. Der Autor kommt zum Schluss, dass sich die Gründung neuer Mittelstädte, die nach der Logik des Christaller-Modells als Vermittler zwischen der dörflichen und städtischen Lebenswelt hätten dienen sollen, wirtschaftlich und sozial bis Ende der 1960er-Jahre als planungspolitischer Fehlschlag erwiesen habe. Das Modell der zentralen Orte in der israelischen Raumplanung sei somit vor allem als ideologisch bestimmtes Werkzeug und „willfähriges Instrument der bevölkerungspolitischen Distribution“ (S. 435) zu bewerten.
Der letzte Abschnitt der Studie sucht genau diese Dimension weiter auszuloten, indem sich der Verfasser der Anwendung von Christallers Zentrale-Orte-Modell im Kontext des Generalplans Ost zuwendet. Gleich zu Beginn konstatiert Trezib, dass Christallers wirtschaftsgeographisches Modell „als Spezifikum der nationalsozialistischen Raumordnung bezeichnet werden muss“ (S. 447). Auch hier folgt die Studie zunächst einem biographischen und mentalitätsgeschichtlichen Zugang und rekapituliert im Anschluss bekannte Einzelheiten zur Genese und zu den Inhalten des Generalplans Ost.
Während der Autor für die israelische Raumplanung Archivquellen aus den Central Zionist Archives, dem Israelischen Staatsarchiv und aus dem Nachlass des Raumplaners Ariel Kahane herangezogen hat, beruht der dritte Abschnitt der Arbeit nach Ausweis des Quellenverzeichnisses weitgehend auf Sekundärliteratur. In diesem Zusammenhang ist es etwas bedauerlich, dass Trezib wichtige jüngere Arbeiten zur nationalsozialistischen Raum- und Siedlungsplanung nicht konsultiert hat, etwa die Studien von Uwe Mai1 und Michael Hartenstein2 oder die einschlägigen Artikel im „Handbuch der völkischen Wissenschaften“.3 Auch in Bezug auf Christallers wichtigen Reichsgliederungsplan und Bevölkerungsverteilungsplan von Anfang 1944 hat Trezib keine jüngere Literatur herangezogen.4 Etwas unverständlich ist, dass der Autor nicht mit der seit 1994 vorliegenden, von Czesław Madajczyk und Stanislaw Biernacki herausgegebenen Quellenedition von Dokumenten zum Generalplan Ost arbeitet5 und viele Dokumente aus der Sekundärliteratur zitiert. Leider unterlaufen ihm auch eine Reihe inhaltlicher Fehler. So wurde Christaller während seiner Studienzeit in Erlangen nicht Mitglied der KPD oder Leiter „eines bolschewistisch-revolutionären Studentenbundes“ (S. 478), sondern war vielmehr Vorsitzender des Republikanischen Studentenbundes in Erlangen, der den demokratischen Reichstagsparteien nahestand.6 Ebenfalls unrichtig ist, dass Christaller 1937 einen reichsweiten Arbeitskreis „Zentrale Orte“ im Rahmen der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung ins Leben gerufen habe (S. 498, S. 511-514); hier liegt eine Verwechslung mit einem von der Reichsstelle für Raumordnung 1939 initiierten Arbeitskreis vor, in dem Christaller neben anderen lediglich Bearbeiter einer Teilaufgabe war.7 Noch weitere, ähnlich gelagerte Beispiele ließen sich anführen.
Diese Dinge betreffen eher Details. Grundsätzlicherer Natur ist hingegen die mehrfach wiederholte Aussage, die Ausarbeitung des Generalplans Ost sei unter „der an Sicherheit grenzenden Mitwirkung Walter Christallers“ erfolgt (S. 525). Der Verfasser spekuliert in einer Fußnote sogar, der Generalplan Ost trage „beinahe vollständig die Handschrift Christallers“ (S. 527, Anm. 262), muss dann aber einräumen (ebenda): „Die Beteiligung Christallers an den Entwurfsarbeiten der einzelnen Generalpläne ist in den entsprechenden Planunterlagen nicht dokumentiert.“ „Zudem ist insbesondere die Rolle Christallers und der Theorie der zentralen Orte in [sic] Rahmen der RKF-Planungen aus quellenbedingten Gründen kaum abschließend rekonstruierbar.“ (S. 525) Den genauen Anteil Christallers an den Aussagen der Siedlungs- und Germanisierungspläne des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums (RKF) oder seinen Einfluss im Gefüge der von Konrad Meyer kontrollierten Planungsstäbe kann der Verfasser entsprechend nicht spezifizieren. Auch für die Annahme, Christaller sei nicht als offizieller Mitarbeiter des RKF geführt worden, weil er als politisch unzuverlässig gegolten habe (S. 523, S. 568), kann Trezib keine Belege erbringen.
Wie die dreiteilige Struktur der Arbeit verdeutlicht, die nicht einer chronologischen Ordnung folgt und zuerst die israelische Nationalplanung nach 1948, dann die nationalsozialistischen Germanisierungspläne vor 1944 diskutiert, geht es dem Autor um die Akzentuierung eines ideengeschichtlichen Sinnzusammenhangs und weniger um einen Detailvergleich von Institutionen oder Verfahren der Raumplanung. Wohl aus diesem Grund ist Trezib daran interessiert, die Rezeption des Zentrale-Orte-Modells unter den israelischen Planern möglichst früh anzusetzen. Wiederum muss er allerdings einräumen, dass in Bezug auf die israelische Raumplanung „der genaue qualitative und chronologische Hergang des Rezeptionswegs auch im Rahmen dieser Arbeit nicht endgültig aufgelöst werden kann“ (S. 298). Gar nicht erst diskutiert wird die Möglichkeit, dass die Rezeption des Zentrale-Orte-Modells unter den israelischen Planern über angloamerikanische Vermittlung erfolgt sein könnte, so etwa über das einflussreiche Handbuch „City, Region and Regionalism“ des Geographen Robert E. Dickinson von 1947, das eine ausführliche Zusammenfassung von Christallers Überlegungen enthält.8 Vergleicht man die Dezentralisierungsziele des Sharonplans schließlich mit Empfehlungen der zeitgenössischen Planungsliteratur9, fallen sie keineswegs aus dem Rahmen – eine Parallelität, welche die Studie in der Absicht, ideengeschichtliche Bezüge zwischen dem Sharonplan und nationalsozialistischen Siedlungsprogrammen aufzuzeigen, zu wenig gewichtet.
Trezib schließt seine Arbeit mit einer „Schlussbetrachtung“, die die Leitfrage der Studie noch einmal pointiert: „Kann die israelische Raumordnung, um es provozierend zu formulieren, als unerwartete, lediglich mit umgekehrten Vorzeichen antretende, letzte Ausbaustufe des ursprünglichen, ersten RKF-‚Generalplan Ost‘ bezeichnet werden?“ (S. 602) Das Resümee weicht der Tragweite dieser Frage in gewisser Weise aus. Trezib zufolge verdeutlichen die untersuchten Fallstudien letztlich einen „Rückfall in den eschatologischen Fundamentalismus der Vormoderne“ – so „erwies sich der NS-Rassenwahn als Neuauflage des primitiven mittelalterlichen Antisemitismus; ebenso, wie sich die zionistische Kolonisation, je länger der Prozess andauerte, als moderner Aufguss eines sakrosankt definierten, rational nicht zwingend begründbaren Mythos entpuppte“ (S. 617f.). „Planung war immer nur ein instrumentelles Vehikel, das den Impetus der ursprünglichen Mobilisierung aufnahm, sich jedoch gegenüber archetypischen Herrschafts- und Gewaltinstinkten als machtlos erwies.“ (S. 618) Auch wenn gerade dieser Schlussteil zu kontroversen Diskussionen herausfordert, dürfen die Verdienste der Studie nicht vernachlässigt werden. Zu nennen ist vor allem der enorme Aufwand im Variantenvergleich von zwei komplexen und politisch umstrittenen Beispielen großräumiger Raum- und Bevölkerungsplanung. In Bezug auf die Nationalplanung Israels ist Joachim Trezibs Arbeit zudem eine wichtige Ergänzung des bisherigen Forschungsstandes.
Anmerkungen:
1 Uwe Mai, „Rasse und Raum“. Agrarpolitik, Sozial- und Raumplanung im NS-Staat, Paderborn 2002.
2 Michael A. Hartenstein, Neue Dorflandschaften. Nationalsozialistische Siedlungsplanung in den ‚eingegliederten Ostgebieten‘ 1939 bis 1944, Berlin 1998.
3 Ingo Haar / Michael Fahlbusch (Hrsg.), Handbuch der völkischen Wissenschaften. Personen – Institutionen – Forschungsprogramme – Stiftungen, München 2008.
4 Hierzu: Karl R. Kegler, Zwischen Abwanderungsängsten und Großraumphantasien – Demographische Aporien der NS-Raumplanung im Osten, in: Tilman Harlander / Wolfram Pyta (Hrsg.), NS-Architektur: Macht und Symbolpolitik, Berlin 2010, S. 229–245; ders., Zentrale Orte. Geschichte einer Theorie zwischen NS-Staat und Bundesrepublik. 1930–1969, Aachen 2011, hier S. 194–200.
5 Czesław Madajczyk / Stanislaw Biernacki (Hrsg.), Vom Generalplan Ost zum Generalsiedlungsplan, München 1994.
6 Hierzu: Manfred Franze, Die Erlanger Studentenschaft 1918–1945, Neustadt an der Aisch 1993, S. 141f.
7 Der Fehler geht auf eine ältere Darstellung zurück, die Trezib ungeprüft übernimmt. Mechtild Rössler, Die Institutionalisierung einer neuen ‚Wissenschaft‘ im Nationalsozialismus: Raumforschung und Raumordnung 1935–1945, in: Geographische Zeitschrift 75 (1987), S. 177–194, hier S. 184.
8 Robert E. Dickinson, City, Region and Regionalism. A Geographical Contribution to Human Ecology, London 1947.
9 Eliel Saarinen, The City. Its Growth, Its Decay, Its Future, New York 1943; Walter Gropius, Rebuilding Our Communities, Chicago 1945; Ludwig Hilberseimer, The New Regional Pattern: Industries and Gardens, Workshops and Farms, Chicago 1949.