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Titel
Soldaten im Nachkrieg. Historische Deutungskonflikte und westdeutsche Demokratisierung 1945–1955


Autor(en)
Echternkamp, Jörg
Reihe
Beiträge zur Militärgeschichte 76
Erschienen
München 2014: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
X, 540 S.
Preis
€ 49,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Magnus Koch, Institut für Staatswissenschaft, Universität Wien

Spätestens die wegweisende Studie Robert G. Moellers zur Rückkehr der deutschen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat gezeigt, wie ertragreich der Blick über die tiefen Zäsuren zeitgeschichtlicher Ereignisse hinaus sein kann.1 Das Jahr 1945 markiert das Ende eines Krieges mit in jeder Hinsicht katastrophalem Ausmaß; doch Jörg Echternkamp, Privatdozent für Neuere Geschichte in Halle (Saale) wie auch Projektleiter am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam, interessiert sich in seiner 2012 als Habilitationsschrift angenommenen Studie über das erste Nachkriegsjahrzehnt vor allem für die Frage, wie die deutsche Gesellschaft aus dieser Phase extremer Gewalt wieder herausfinden und zu einer stabilen Demokratie werden konnte. Um dies zu beantworten, wendet er sich dem „Sprechen über den Krieg“ zu, analysiert also, wie die (West-)Deutschen sich über Wehrmacht und Krieg verständigten: über Fragen der Schuld, des Leidens wie der eigenen (militärischen bzw. nach 1945 ökonomischen) Leistungen, über die Ent- wie Remilitarisierung und die Einordnungen in das neue politische Werte- und Politiksystem nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Spannungsfeld von Diktatur und Demokratie. Darüber hinaus stellt Echternkamp die Frage, wie Krieg und Militär im westlichen Teil Deutschlands hinsichtlich der ebenso drängenden wie offenen Zukunftsfragen politisch und sozial verhandelt wurden.

Theoretisch bewegt sich der Autor dabei an der Schnittstelle einer modernen sozialgeschichtlich informierten Militärgeschichtsschreibung, einer neu konzeptualisierten Politikwissenschaft und kulturhistorischen Forschungen, bei denen es immer wieder um das höchst produktive Gegeneinanderlesen von Texten geht, mithin von „Deutungskonkurrenzen“. Um diese effektiv herauszuarbeiten, operiert Echternkamp methodisch mit dem von Roger Chartier entlehnten Begriff der „(kulturellen) Repräsentationen“. Unter den vielen Vorzügen des vor allem in der französischen Historiographie, und dort insbesondere für das Ancien Régime, verwendeten Begriffs führt der Autor die kritische Trennung zwischen dem historischen Ereignis und seiner Darstellung an; dabei bezieht er sich unter anderem auf wissenssoziologische Konzepte von Berger und Luckmann.2 Außerdem vermeide das Konzept der „Repräsentationen“ etwa die starre Koppelung von Erinnerung und kollektiver Identität (wie etwa bei Halbwachs und in der Folge bei Jan und Aleida Assmann zu finden). Chartiers Modell könne vielmehr dazu beitragen, „das Spannungsverhältnis von subjektiver Erinnerung und kulturellem Gedenken […] neu zu vermessen“ (S. 27).

Dieses Neuvermessen führt, und hier wird die größte Stärke des Buches deutlich, immer wieder dazu, in der Forschung noch präsente Dichotomien zu dekonstruieren. So wendet sich Echternkamp gegen die These, die Deutschen hätten Krieg, Verbrechen und Schuld vergessen und verdrängt. Beides, Erinnern und Vergessen, seien aber nicht sich ausschließende Momente, sondern vielmehr Teile desselben Prozesses. Der Krieg und seine Folgen seien in unterschiedlichen Kontexten zentrale Themen sozialer und politischer Verhandlungsprozesse gewesen – wenn auch nicht in der Form (und vor allem nicht mit der moralischen Bewertung), wie dies seit den späten 1960er-Jahren der Fall gewesen sei.

Für Echternkamps anspruchsvolles Forschungsprogramm ist ein reichhaltiges Quellenkorpus notwendig. Breit und differenziert finden sich „Repräsentationen“ aus öffentlichen wie privaten Quellen, werden Symbole, soziale Ereignisse und ihr Niederschlag durchgängig auf die gesellschaftliche Kommunikation hin ausgewertet.

Echternkamp strukturiert das erste westdeutsche Nachkriegsjahrzehnt in drei thematische Abschnitte, um mithilfe des Repräsentationsbegriffs den Bedeutungskonstruktionen der politischen und sozialen Akteure auf die Spur zu kommen. Zunächst wendet er sich den „Konfrontationen mit dem Krieg“ in der Sattelzeit (wie man mit Reinhart Koselleck sagen könnte) um das Kriegsende zu. Überzeugend ist die Breite der Argumentation, in der Echternkamp verdeutlicht, wie sich die Deutschen spätestens seit Einsetzen des alliierten Bombenkrieges und danach bis weit in die 1940er-Jahre hinein zu Opfern alliierter Kriegs- bzw. Besatzungspolitik stilisierten. Aber eben nicht nur: Auch die genuinen Opfer der NS-Verfolgung kamen durchaus vor – wenn auch meist zwischen den Zeilen der „Texte“, oder eben marginalisiert. Es sei außerdem weniger der Krieg selbst, sondern die nach 1945 (medial) vermittelte Erfahrung, die die kulturellen Repräsentationen in den 1950er-Jahren geprägt habe.

Im zweiten Abschnitt („Veteranen im Deutungskampf“) arbeitet Echternkamp unter anderem heraus, dass sich vor allem die ehemaligen Wehrmachtssoldaten mit ihren Erfahrungen aus Krieg und Gefangenschaft den Westalliierten nicht nur als Opfer, sondern zugleich als Leistungsträger anbieten konnten. Dabei verwiesen die Veteranen, gerade angesichts der bald nach der Demilitarisierung einsetzenden Planungen zu einem deutschen Wehrbeitrag, auch auf den Wert ihrer „Arbeit“ in der Wehrmacht und die Erfahrungen im Kampf gegen die Sowjetunion.3 Überzeugend zeigt Echternkamp sodann, wie die heimgekehrten deutschen Soldaten – trotz aller Unsicherheit infolge der totalen Niederlage – ihrem Handeln im Krieg Sinn zuschrieben, und zwar auch, indem sie sich im Nachhinein von den „anderen“ abgrenzten: von den „bösen“ Soldaten (zumeist der SS) oder von den Deserteuren und anderen „Verrätern“.

Im letzten Abschnitt („Der Krieg als Chance“) steht das Spannungsfeld zwischen Ent- und Remilitarisierung im Mittelpunkt der Darstellung. Hier hebt Echternkamp hervor, dass das „Gelingen“ der deutschen Demokratie letztlich auch auf die in den ersten Nachkriegsjahren eingeübten Verarbeitungsmuster zurückzuführen sei, in Folge des in der öffentlichen Kommunikation eingeübten „Aushandelns von Positionen“. Auch wenn Inhalte und Tenor der Äußerungen, gerade nach Einsetzen der heißen Phase des Kalten Krieges, aus heutiger Sicht bleiern und reaktionär wirkten, so kennzeichne das erste Nachkriegsjahrzehnt doch ein erhöhtes Maß an Wertschätzung der pluralistischen Meinungsvielfalt. Die in den späten 1950er-Jahren einsetzende „fundamentale Politisierung“ (S. 418) sei somit im ersten Nachkriegsjahrzehnt vorbereitet worden. In diesem Punkt geht Echternkamp über bisherige Interpretationen der Dekade hinaus.4 Generationell gesprochen seien die Erfahrungen der um 1930 geborenen jungen Männer und Frauen der „skeptischen Generation“ hier als grundlegend zu betrachten.

Jörg Echternkamps Studie ist deshalb überzeugend, weil sie den Anspruch der methodisch aufwendig eingeführten Differenzierung einlöst. Diese sei auch deshalb notwendig, so der Autor, um eine Banalisierung des Gedenkens mit seiner Fixierung auf die Opfer langfristig zu verhindern. Der differenzierende Blick für die historischen „Zwischenräume“ und Uneindeutigkeiten bietet die Voraussetzungen, sich den deutschen Opfern des Krieges (Gefallene, Vertriebene usw.) ebenso zuzuwenden wie den (deutschen) Tätern – und dabei gleichzeitig die internationale Ebene des Gedenkens an die Verfolgten des Nationalsozialismus ebenso wie das enorme Ausmaß seiner Verbrechen nicht aus den Augen zu verlieren. Dazu kann die von Echternkamp skizzierte Deutungsgeschichte von Krieg und Militär in der Tat einen wichtigen Beitrag leisten.

Anmerkungen:
1 Vgl. Robert G. Moeller, War Stories. The Search for a Usable Past in the Federal Republic of Germany, Berkeley 2001; außerdem als früheres Beispiel Martin Broszat (Hrsg.), Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland, München 1988, 3. Aufl. 1990.
2 Peter L. Berger / Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt am Main 1969 (zahlr. Neuaufl.).
3 Zum Begriff der Arbeit als Qualitätsarbeit im Krieg sei auf die bei Echternkamp leider nicht erwähnten Arbeiten von Alf Lüdtke verwiesen – etwa ders., Wo blieb die „rote Glut“? Arbeitererfahrungen und deutscher Faschismus, in: ders. (Hrsg.), Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt am Main 1989, S. 224–282.
4 Vgl. etwa Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996.