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Titel
Netzwerke der Entnazifizierung. Kontinuitäten im deutschen Musikleben am Beispiel von Werner Egk, Hilde und Heinrich Strobel


Autor(en)
Custodis, Michael; Geiger, Friedrich
Reihe
Münsteraner Schriften zur zeitgenössischen Musik 1
Erschienen
Münster 2013: Waxmann Verlag
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Matthias Pasdzierny, Fakultät Musik, Universität der Künste Berlin

Eine neue, von Michael Custodis herausgegebene Münsteraner Schriftenreihe zur zeitgenössischen Musik hat es sich zur Aufgabe gemacht, in der Musik der Gegenwart (die im Verständnis des Reihenvorworts bis etwa 1900 zurückreicht) „progressiven Stilentwicklungen und der Aufarbeitung biographischer Fragen“ (S. 9) nachzugehen. Der erste Band der Reihe widmet sich entsprechend dieser Maxime biographischen Netzwerken des westdeutschen Nachkriegsmusiklebens sowie vor allem der Bedeutung dieser Netzwerke für die Entnazifizierung und den Wiederaufbau des vermeintlich unpolitischen Bereichs der Musikkultur. Im Fokus stehen dabei mit Heinrich und Hilde Strobel auf der einen und Werner Egk auf der anderen Seite Akteure dieser Kultur mit gleichermaßen komplexen wie für die Nachkriegssituation paradigmatischen Lebensgeschichten. So hatte sich Heinrich Strobel – später vor allem bekannt als SWF-Abteilungsleiter und einflussreicher Förderer der zeitgenössischen Musik – zwischen 1939 und 1945 auf einem schmalen Grat zwischen Emigration und Kollaboration bewegt, als er, nicht zuletzt um das Leben seiner jüdischen Frau zu schützen, im besetzten Frankreich als Musikkritiker für Zeitungen der NS-Propaganda arbeitete und, wie Custodis und Geiger nachweisen konnten, dafür regelmäßig auch ins NS-Deutschland zurückkehrte. Werner Egk hingegen war im „Dritten Reich“ eine Karriere als Komponist gelungen, auch weil er als Hoffnungsträger einer ja durchaus gewünschten nationalsozialistischen Moderne galt. Warum und wie Egk und die Strobels angesichts solcher Biographien nach 1945 wieder ins Gespräch kamen, welche Strategien gegenseitiger Hilfe und Einflussnahme sie entwickelten – gerade auch mit Blick auf die persönliche Vergangenheitspolitik –, und welchen Einfluss diese Kommunikationsprozesse auf die durchaus erfolgreichen Nachkriegskarrieren der genannten Personen nahmen, steht im Zentrum der vorliegenden Untersuchung. Ausgehend von einigen allgemeinen Überlegungen zu Spezifika der Entnazifizierung im Bereich der Musik erörtern die Autoren dabei zunächst ausführlich die einzelnen Lebensläufe sowie deren ab Mitte der 1930er-Jahre beginnende Verschränkung, wobei die problematischen Passagen gleichsam unter dem Vergrößerungsglas betrachtet werden, sei es die erwähnte schwierige Zeit der Strobels im besetzten Frankreich, sei es Werner Egks Spruchkammerverfahren. Gerade hier konnte sich die Funktionalität des beschriebenen Netzwerks erweisen, in Gestalt eines glänzenden Entlastungsauftritts durch Heinrich Strobel in der öffentlichen Verhandlung des Verfahrens. Der letzte, mit „Kontinuitäten“ betitelte Abschnitt des Bandes wirft schließlich in Form einer eher losen Zusammenschau die Frage nach den Konsequenzen der geschilderten Konstellationen für die künstlerische, aber auch kulturpolitische Arbeit von Egk und Strobel, darüber hinaus aber auch für die allgemeinen musikästhetischen Debatten der Zeit nach 1945 auf. Sehr verschiedene Aspekte werden dabei angerissen, beispielsweise Egks und Strobels Tätigkeiten als Musikfunktionäre (der GEMA resp. der IGNM), aber auch Strobels Wirken als (seine eigene Vergangenheit künstlerisch verarbeitender) Librettist für Opern Rolf Liebermanns. Deutlich wird daran einmal mehr, wie wenig heute im Grunde über die Musikkultur der Bundesrepublik der 1950/60er-Jahre im Detail bekannt, und wieviel Forschungsarbeit dort noch zu leisten ist.

Vor allem aufgrund der beeindruckenden Recherchetiefe stellt der Band einen gewichtigen Beitrag zur Aufarbeitung der nicht erst im Gefolge der Debatte um den „Fall Eggebrecht“ in letzter Zeit vermehrt in den Fokus gerückten Nachkriegsmusikgeschichte dar.1 Als besonders aussagekräftiger Quellenbestand etwa erweist sich, um nur ein Beispiel zu nennen, die Zusammenstellung und Bewertung der von Heinrich und Hilde Strobel ausgestellten (oder auch verweigerten) „Persilscheine“, zeigt sich hieran – wie dann auch am Entnazifizierungsverfahren von Werner Egk – doch ein grundlegendes Kommunikationsmuster der deutschen Nachkriegsmusikgeschichte. So wurden Narrative über eigene NS- und Verfolgungsvergangenheit ganz offenbar eben nicht in starre Schemata von „Opfern“ und „Tätern“ gepresst. Vielmehr scheint es, als seien genau diese Positionen (und die daraus resultierenden Konsequenzen) immer wieder neu ausgehandelt worden, je nach Gegenüber und auch je nach Grad der Öffentlichkeit. Dieser Befund zeigt sich an jenem von den Autoren sorgfältig herausgearbeiteten „Netzwerk der Entnazifizierung“ in seiner ganzen Vielschichtigkeit und Wirkmächtigkeit auf eindrucksvolle Weise. Zumindest fraglich erscheint vor diesem Hintergrund, ob die in der Vielzahl der Quellen greifbare Komplexität solcher Vorgänge mit moralisch grundierten Bewertungen wie der des „besonders grandios“ gescheiterten „Experiment[s]“ (S. 11) angemessen beschrieben werden können. Müsste es nicht vielleicht eher Aufgabe einer zeitgemäßen Entnazifizierungs- und Nachkriegsforschung sein, genau jene „Meistererzählungen“ und populären Interpretamente wie das von der „Mitläuferfabrik“ Entnazifizierung mit Hilfe solcher Fälle wie dem hier gezeigten produktiv zu hinterfragen?

So überzeugend denn auch die geleistete Quellenarbeit ist, so lässt die schwache Anbindung des Bandes an die aktuelle Forschungsdiskussion einige Fragen offen. Über die rezipierten zeitgeschichtlichen Arbeiten von Bernd Weisbrod, Andreas Linsenmann und Monika Boll hinaus wären möglicherweise auch die elaborierten methodischen Debatten um den Umgang mit sogenannten „Ersten Briefen“ oder die mittlerweile umfassende Literatur zu Hermann Lübbes Thesen vom „kommunikativen Beschweigen“2 für den behandelten Fall fruchtbar zu machen gewesen, gerade in Hinblick auf die in Rede stehenden kommunikativen Netzwerke der Nachkriegszeit. Auch hätte es Vorlagen für eine etwa mit Methoden der Biographieforschung operierende Auseinandersetzung mit massenhaft-seriell entstandenen Quellensorten wie Entnazifizierungs- oder auch Entschädigungsakten gegeben, die auch die Auswirkungen der darin verhandelten und sich konstituierenden Narrative auf die Akteure der Nachkriegszeit in den Blick nimmt.3

Schwerer wiegen die im Bereich der musikwissenschaftlichen Literatur vorhandenen Lücken. So scheint den Autoren Thomas Poeschels einschlägige Auseinandersetzung mit Werner Egk4 entgangen zu sein, was dazu führt, dass zahlreiche der dort bereits publizierten Quellen (unter anderem zu Werner Egks Entnazifizierungsverfahren) nun erneut (und vermeintlich erstmals) ausführlich ausgebreitet werden. Poeschels mitunter eigenartig montierender Umgang mit diesen Quellen wäre ebenso zu diskutieren gewesen wie seine Vorschläge zur Auflösung der von Strobel und Egk in Briefen der NS-Jahre verwendeten Personenchiffren (zu denen die von Custodis und Geiger vorgeschlagenen Lösungen nun teilweise unkommentiert im Widerspruch stehen).5 Zu fragen ist schließlich auch, warum für den Band nicht auf die zweite Auflage von Fred Priebergs Handbuch deutsche Musiker 1933–1945 aus dem Jahr 2009 zurückgegriffen wurde, war Prieberg dort doch im Artikel zu Heinrich Strobel auf neueste Forschungsergebnisse etwa von Manuela Schwartz eigens eingegangen. Solche Schwachstellen (wie darüber hinaus auch Schreibfehler wie der fälschlich Thiessen geschriebene Komponist Heinz Tiessen) verwundern bei derart in die Materie eingearbeiteten Autoren wie denen dieses Bandes. Womöglich sind sie einem gewissen Zeit- bzw. Aktualitätsdruck geschuldet, der angesichts der Qualitäten des Bandes, dessen Benutzungswert durch ein Personenregister, diverse Abbildungen sowie einen 40-seitigen Anhang mit Reproduktionen von zahlreichen der aufgefundenen Dokumente noch gesteigert wird, gar nicht nötig gewesen wäre.

Anmerkungen:
1 Die Debatte, die u.a. grundlegende Fragen nach dem Umgang des Faches Musikwissenschaft mit der eigenen NS-Vergangenheit aufwarf, wurde ausgelöst durch einen Vortrag von Boris von Haken bei der Jahrestagung der Gesellschaft für Musikforschung 2009 in Tübingen über die mögliche Beteiligung des später sehr einflussreichen deutschen Musikwissenschaftlers Hans Heinrich Eggebrecht als Feldgendarm am Simferopol-Massaker vom Dezember 1941. Für einen Überblick über die Beiträge der Debatte siehe: Der „Fall“ Eggebrecht. Verzeichnis der Veröffentlichungen in chronologischer Folge 2009–2013, zusammengest. von Matthias Pasdzierny, Johann Friedrich Wendorf und Boris von Haken, in: Die Musikforschung 66 (2013) 3, S. 265–269.
2 Beispielsweise Klaus Heuer, Die geschichtspolitische Gegenwart der nationalsozialistischen Vergangenheit. Zur Analyse unbearbeiteter Loyalitäten am Beispiel des Historisierungsansatzes von Hermann Lübbe, Kassel 2001.
3 Vgl. etwa die entsprechenden Forschungsprojekte und Publikationen von Constantin Goschler an der Ruhr-Universität Bochum, konkret zur Entnazifizierung das Dissertationsprojekt von Hanne Leßau, <http://www.ruhr-uni-bochum.de/lehrstuhl-ng2/mitarbeiter/lessau.html> (21.01.2015).
4 Thomas Poeschel, Abraxas. Höllen-Spectaculum. Ein zeitgeschichtliches Libretto des deutschen Nationalmythos von Heinrich Heine bis Werner Egk, Berlin 2002.
5 Etwa auf S. 82, Anm. 240 lösen Custodis/Geiger – wenn auch unter Vorbehalt – die Chiffre „Sonne“ auf als „höheren deutschen Amtsinhaber“, Poeschel bringt hierfür den Solotänzer und Choreographen der Pariser Oper Serge Lifar ins Spiel, Poeschel 2002, S. 162, Anm. 1.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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