Wenn derzeit in Brasilien zum zwanzigsten Mal die Fußball-Weltmeisterschaft ausgespielt wird, zählt nicht nur „auf’m Platz“. Die größte Einzelsport-Veranstaltung der Welt hat längst Dimensionen erreicht, die Sport, Politik und wirtschaftliche Interessen verschwimmen lassen. Im Mittelpunkt und immer öfter in heftiger Kritik steht der größte Fußballverband der Welt, die FIFA (Fédération Internationale de Football Association). War sie bei der Gründung 1904 in Paris noch recht limitiert in ihren Möglichkeiten, entwickelte sie sich später zu einem der mächtigsten und reichsten Sportverbände weltweit. Herzstück ihres Engagements ist seit 1930 die Organisation der „FIFA Fußball-Weltmeisterschaft“. Eben diesem Turnier widmen die Herausgeber Stefan Rinke und Kay Schiller einen Sammelband, der auf einer Konferenz im Hauptquartier der FIFA in Zürich fußt und mit Unterstützung der FIFA entstand. Jedoch betonen die Herausgeber zu Beginn, dass Letzteres keine Auswirkungen auf die inhaltliche Arbeit hatte und dass die FIFA sich offen für kritische Anmerkungen zeigte. Tatsächlich entsteht nicht der Eindruck, dass es sich hier um eine ‚Auftragsarbeit‘ handelt.
Nach zwei konzeptionellen Beiträgen von David Goldblatt und Alan Tomlinson folgen 18 chronologisch geordnete Aufsätze zu allen Turnieren, angefangen mit der ersten Austragung 1930 in Uruguay bis zur WM 2010 in Südafrika. An diese chronologische Struktur ist auch die inhaltliche Gliederung angelehnt: Von den „Pre-War World Cups“ bis 1938 über die „World Cups between Tradition and Modernity“ (1950 bis 1962) zu den „World Cups before the ‚Gold Rush‘“ (1966 bis 1982) bis in die jüngste Vergangenheit, überschrieben mit: „Multiculturalism and Commercialization“.
Waren bisherige Publikationen zur Geschichte der Fußball-Weltmeisterschaften eher populärwissenschaftlich gehalten, oftmals mehr bild- als textlastig und überwiegend auf das sportliche Geschehen fokussiert, setzt sich der vorliegende Sammelband als Ziel, die Geschichte des Turniers erstmalig in seiner Gesamtheit darzustellen. Wie Goldblatt paradigmatisch darlegt, bietet die Geschichte der WM „a powerful lens for examining the course of globalization and global history over the last century“ (S. 19). Er liefert die Grundlagen für das Narrativ der vier genannten Phasen. Allerdings gibt es einen interessanten Bruch mit der Gliederung des Buches: Goldblatt ordnet die WM 1978 in Argentinien aufgrund der Dominanz durch die Militärjunta noch der Nachkriegszeit zu, während er den entscheidenden Wandel zum heutigen Modell 1982 in Spanien sieht. Der damalige FIFA-Präsident Havelange baute die Vereinigung zu einer modernen internationalen Nichtregierungsorganisation um und trieb den Prozess der Kommerzialisierung voran (S. 23f.). Einen weiteren Wendepunkt, der sich nicht in der Gliederung des Buches wiederfindet, macht Goldblatt 2006 mit der Weltmeisterschaft in Deutschland aus: Die kontroversen Entscheidungen für die darauf folgenden Gastgeberländer spiegelten „the rise of the resource-rich and status-hungry global South“ (S. 25). Inwieweit Russland 2018 in diese Einteilung passt, und ob sich diese Einschätzung fortsetzt, bleibt abzuwarten – auch angesichts der Tatsache, dass der amtierende FIFA-Präsident Blatter die Vergabe der WM 2022 nach Katar als Fehler bezeichnete.
In den einzelnen Beiträgen wird die Geschichte der Weltmeisterschaften dann leider mehr als Ereignis- und weniger als Strukturgeschichte behandelt. Die großen Potenziale des Themas werden oftmals nur angedeutet: Neben der Einbindung des zeitgeschichtlichen Kontextes sowie den komplexen politischen und ökonomischen Verflechtungen gilt dies ebenso für Landesspezifika und die Etablierung eigener Traditionen der FIFA. Nichtdestotrotz geben die Beiträge jeder Weltmeisterschaft einen spezifischen Charakter – besonders wenn ein Aspekt in den Mittelpunkt gestellt und weniger ein Überblick zu verschiedensten Aspekten des jeweiligen Turniers versucht wird.
Stefan Rinke beschreibt die erste Weltmeisterschaft in Uruguay als Beweis für den hohen Grad transnationaler Verbindungen, obwohl viele europäische Mannschaften mangels finanzieller Mittel nicht teilnehmen konnten. Deswegen und aus politischen Gründen nahmen umgekehrt die Weltmeister aus Uruguay nicht an der folgenden WM in Italien teil, bei der laut Marco Impiglia die Gastgeber aufgrund massiver Manipulationen gewannen. Auch bei der Weltmeisterschaft 1938 in Frankreich spielten die Italiener eine wichtige Rolle. Paul Dietschy stellt dar, wie politische Ideologien aufeinanderprallten: Das italienische Team zeigte im Stadion den faschistischen Gruß, und sein Spielstil wurde als Repräsentation des faschistischen „New Man“ gesehen (S. 101).
Lesenswert sind speziell die Beiträge, die sich einer eurozentrischen Perspektive entziehen: Bernardo Buarque de Holanda beschreibt eindrucksvoll das nationale Trauma, das der Niederlage der brasilianischen Mannschaft im Finale gegen Uruguay bei ihrer ersten Heim-Weltmeisterschaft 1950 vor unglaublichen 200.000 Zuschauern folgte. Fast gegenteilig dazu ging das Turnier in Chile 1962 als „force for unparalleled national unity“ (S. 162) in das chilenische Gedächtnis ein, vor der Präsidentschaft Allendes und der Diktatur Pinochets, so Brenda Elsey. Joshua H. Nadel zeigt für die Weltmeisterschaft 1994 in den USA, dass das Turnier für die dort lebenden lateinamerikanischen Einwanderer von hoher Bedeutung war – wenngleich die eigentliche Intention scheiterte, den Fußball in den USA allgemein populärer zu machen. Die Berichterstattung über die Fankulturen der verschiedenen Ursprungsländer der „Latinos“ verstärkte die öffentliche Wahrnehmung für deren Diversität, abseits der gängigen negativen Stereotype.
Auch der europäischen Fußballgeschichte werden neue Facetten hinzugefügt. Markwart Herzog ergänzt das bekannte „Wunder von Bern“ um eine weitere Perspektive. Er beschreibt, wie der sprichwörtliche Triumph-Zug des deutschen Teams, der die Weltmeister aus Bern in die Heimat brachte, auf verschiedenste regionale Traditionen und Festriten traf; so wurde der internationale Erfolg auf regionaler Ebene angeeignet. Albrecht Sonntag betont in seinem Aufsatz zum bisher einzigen WM-Gewinn Frankreichs 1998 die identitätsstiftende Kraft der Nationalteams, die sich während der 1990er-Jahre als Kontrast zu den zunehmend austauschbaren Clubteams positionierten. Die Équipe tricolore verkörperte das multikulturelle Frankreich, das sich zu einem gemeinsamen Ziel vereinte (S. 332). Gleichzeitig wird angesichts der in den folgenden Jahren aufkommenden Unruhen in den Pariser Vororten und dem Erstarken des Front National deutlich, dass die integrative Kraft des Ereignisses begrenzt war.
Wie die WM genutzt wurde, um die eigene Außendarstellung positiv zu beeinflussen, zeigen einige Beiträge, die die jeweiligen Gastgeberländer in den Fokus nehmen. Als moderne Nationen präsentierten sich Schweden 1958, so Torbjörn Andersson, und Spanien 1982, das sich nach der Franco-Diktatur in einer Übergangszeit befand, wie Ángel Bahamonde Magro darlegt. Auch Italien inszenierte während der Weltmeisterschaft 1990 seine Wandlung zu einem ökonomisch erfolgreichen, post-industriellen Land, argumentieren Nicola Porro und Francesca Conti.
Claire und Keith Brewers Analyse der beiden Turniere in Mexiko 1970 und 1986 belegt, dass die erste Austragung im Zeichen wirtschaftlicher Prosperität und einer Aura des Optimismus stand, die den vorangegangenen Olympischen Spielen 1968 entsprungen war, während dieser Aufschwung 1986 vergessen war. Die schlechte wirtschaftliche Stimmung schlug sich in einer kritischen Presse nieder, die jedoch nur aufgrund gelockerter Pressegesetze möglich war. Die beiden in Deutschland ausgetragenen Turniere lassen sich ebenso gut kontrastieren: Wie Kay Schiller darlegt, war die WM 1974 zwar ein weiterer Schritt hin zur ökonomischen Globalisierung des Sports, erreichte aber noch nicht den besonderen nationalen Enthusiasmus der Weltmeisterschaft 2006. Diesen neuen „Partyotism“ (S. 365) sieht Thomas Raithel in einer Tradition entspannter nationaler Euphorie, die an die frühe Phase der liberalen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts anknüpfe, etwa an das Hambacher Fest.
Den chronologischen Abschluss setzt Chris Bolsmanns Beitrag über die erste Weltmeisterschaft auf afrikanischem Boden. Er verdeutlicht, wie sehr sich das Turnier zu einem „corporate and sanitised global spectacle“ (S. 388) entwickelt hat, das weitgehend unabhängig von den sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen des Gastgeberlandes funktioniere und allein für die FIFA selbst ein sicherer finanzieller Gewinn sei. Den Bogen zur diesjährigen Austragung zu schlagen ist angesichts dieser Feststellungen ein Leichtes.
Neben den vielen Beiträgen mit Fokus auf die jeweiligen Gastgeberländer bleiben übergreifende Perspektiven eher selten. Dabei zeigt Raanan Rein überzeugend, wie die Weltmeisterschaft 1978 in der Phase der argentinischen Militärjunta eine transnationale Protestbewegung evozierte, die einen Boykott des Turniers erzwingen wollte. Christian Tagsold schildert das Verhältnis zwischen den beiden Gastgeberländern der Weltmeisterschaft 2002, Japan und Südkorea. Die erhoffte Verbesserung der historisch stark belasteten Beziehungen blieb aus; stattdessen sahen sich die beiden Gastgeber eher als Konkurrenten um die bessere Austragung des Turniers.
Insgesamt bietet der Band nicht nur Fußballinteressierten ein breites Themenspektrum. Der historisch fundierte Überblick enthält zahlreiche Anschlussstellen für weitere Analysen. Wie bereits erwähnt, muss die Leserin oder der Leser die übergreifenden Linien jedoch selbst suchen1, wobei einige auf der Hand liegen: Beispielsweise wird den Medien in fast jedem Beitrag eine wichtige, mitunter entscheidende Rolle bei der Professionalisierung und Popularisierung beigemessen, und sie dienen oftmals als wichtigste Quelle. Was genau der Einsatz verbesserter Medientechnologien und die Entwicklung des Turniers zu einem Medienereignis bedeutet, bleibt allerdings unklar, ebenso wie die Rolle der Journalisten selbst. Auch die oftmals angesprochenen Trends einer Globalisierung und Kommerzialisierung des Sports bleiben eher Schlagworte. Eine auffällige Lücke ist die „FIFA Frauen-Weltmeisterschaft“, die seit 1991 ebenfalls im vierjährigen Turnus ausgetragen wird.
Einige Abstriche muss man auch beim Lektorat machen. Speziell die Verschiedenheit der Literaturangaben fällt ins Auge. Zudem gibt es zwar einige Bilder aus dem FIFA-Archiv zu sehen; diese sind allerdings eher illustrativ eingesetzt. Trotz allem wird sich jeder Fußballfan an diesem Band erfreuen können. Die Beiträge sind gut lesbar, selbst wenn man einigen die Übersetzung aus der Muttersprache des Verfassers oder der Verfasserin anmerkt. Nicht zuletzt verdeutlicht der Band, dass hinter den beliebten Statistiken über Gewinner und Verlierer der Weltmeisterschaften mehr als nur sportliche Gründe stehen.
Anmerkung:
1 In dieser Hinsicht gelungener: David Goldblatt, The Ball is Round. A Global History of Football, London 2007.